Kapitel 3 – Akhnan Ibn Nazir


Die Sklaven hatten zwei Tage um sich zu erholen. Tage, in denen ihr Herr, Amman Kemail, seinen Jugendfreund Akhnan Ibn Nazir besuchte. Die Sklavenquartiere waren Teil eines großen Anwesens, gebaut aus stabilem Stein mit vergitterten Fenstern und wesentlich komfortabler als die Hütte am Strand in der Estel zuerst aufgewacht war.

Estel nutzte die Tage um seine Schicksalsgefährten näher kennenzulernen. Männer aus allen Küstenregionen Mittelerdes waren da und auch einige aus weiter im Inland liegenden Gebieten. Wo immer die Flüsse breit und tief genug waren, wagten die Piraten sich ins Inland vor um auf Raubzug zu gehen. Ehemalige Bauern und Handwerker, Holzfäller, Fischer und Köhler erzählten Estel von ihrem Leben bevor sie gefangen genommen wurden. Und auch, wenn die Erinnerungen sie schmerzten, so konnte Estel doch deutlich erkennen, daß sie den Männern half, ihr Schicksal zu ertragen. Ohne, daß er hätte sagen können, wieso, fühlte Estel ein starkes Schuldgefühl auf seinen Schultern lasten, so, als wäre es seine Aufgabe gewesen, diese Männer und ihr Familien zu schützen.

Dieses Gefühl verwirrte Estel und er zog sich in eine einsame Ecke zurück um nachzudenken. Den Rücken gegen die kühlen Steine gelehnt, die Knie angezogen und die Augen geschlossen zermarterte er sich das Hirn um den Zipfel einer Erinnerung zu erhaschen, die, wie es ihm schien, immer wieder am Rande seines Bewußtseins auftauchte. Doch so sehr er sich auch bemühte, die Erinnerung blieb immer gerade außerhalb seiner Reichweite. Estel seufzte. Eine wilde Jagd brachte hier nichts, er mußte etwas anderes probieren. Tief atmend ließ er seine Gedanken zur Ruhe kommen und leerte seinen Geist. Langsam, ganz langsam schien die Erinnerung sich ihm zu nähern. Zuerst waren es nur Gerüche. Er roch Kräuter und sauberes Leinen, aber auch Krankheit und Tod. Dann hörte er leises Stöhnen und Weinen, das Rascheln von Stoff und flüsternde Stimmen. Und dann sah er seine Hände, wie sie ein Tuch in kühlem Wasser tränkten und einem kleinen Mädchen auf die Stirn legten. Er sah, wie seinen Hände die grünen Blätter einer Pflanze zerdrückten und in einen Becher mit heißem Wasser gaben. Ein würziger, frischer Duft erfüllte all seine Sinne und schien seinem Körper neue Kraft zu geben und die Müdigkeit von ihm zu nehmen.

Langsam öffnete Estel die Augen wieder und sagte leise und atemlos zu sich selbst: „ Ich bin ein Heiler!"

Ibrahim nahm diese Erkenntnis Estels mit gelindem Zweifel auf.
„ Ein Heiler, sagst du? Ich weiß nicht, Heiler sind gelehrte Leute, zumindest in meiner Heimat. Du scheinst mir nicht dumm zu sein, Estel, aber verzeih mir, ein Gelehrter scheinst du mir auch nicht zu sein. Vielleicht war dies nur eine Erinnerung an eine Heilung, bei der du zugegen warst?"

Estels eben noch freudiger Gesichtsausdruck wich Enttäuschung und Traurigkeit. Den Blick abwendend murmelte er: „ Vielleicht, ich weiß es nicht. Sicher hast du Recht, Ibrahim."

Ibrahim tat es weh, seinen Freund so niedergeschlagen zu sehen, deshalb legte er ihm versöhnlich den Arm um die Schulter und sagte aufmunternd: „ Hör nicht auf mich, Estel. Was weiß ich denn schon? Du brauchst einfach noch mehr Erinnerungen um wirklich zu wissen, wer du bist. Vielleicht bist du ja tatsächlich ein Heiler."

Estels Miene hellte sich wieder auf. „ Vielleicht. Ich werde mir auf jeden Fall Mühe geben, mich an mehr zu erinnern."

Das Gespräch der Freunde wurde jäh unterbrochen, als der Aufseher Bazhir die Sklavenunterkunft betrat und einige Befehle bellte.
„ Aufstellung nehmen, ihr räudigen Hunde. Die Faulenzerei hat ein Ende. Der Herr will seinem Freund vorführen, welch vorzüglich ausgebildete Rudersklaven er hat. Also werdet ihr Ladies jetzt euer Kaffeekränzchen beenden und euch mächtig ins Zeug legen. Solltet ihr unserem Herren Schande bereiten, so kann ich euch ein inniges Zusammentreffen mit der neunschwänzigen Katze versprechen. Ist unser Herr jedoch zufrieden, so bekommt ihr heute Abend ein Faß Bier zu eurem Fraß."

Unter den hurra Rufen seiner Kameraden begann die Estel mittlerweile vertraute Prozedur des Ankettens, der Marsch im Gleichschritt durch das gleißende Sonnenlicht bis zu seinem Platz auf der Ruderbank neben Ibrahim.

Kaum waren die Sklaven an ihren Plätzen wieder angekettet worden, als der Herr sein Schiff betrat. Ihm folgte ein großer, schwerer Mann in kostbarer Kleidung, Akhnan Ibn Nazir.
Die beiden Herren ließen sich unter dem Sonnensegel auf bequem gepolsterten Stühlen nieder, während ein junger, hübscher Knabe ihnen mit einem riesigen Fächer Luft zuwedelte.
Eilfertig kam sofort ein anderer Sklave herbei gelaufen und kredenzte den beiden Männern funkelnde Pokale mit kühlem Wein.

Das Schiff legte ab und sobald es das offene Meer erreichte, ließ der Aufseher die Sklaven all ihr Können Zeigen. Flinke Wendemanöver, schnelle Starts, abrupte Stops, all die Dinge, die ein von Sklaven angetriebenes Schiff so viel besser bewerkstelligte als ein Segler, verlangten den Ruderern all ihr Können und ihre ganze Kraft ab. Endlich, nach einer, wie es Estel schien, endlos langen Zeit, machten sie sich unter Aufbietung ihrer letzte Kraftreserven auf den Weg zurück.

Gefällig blickte Akhnan Ibn Nazir auf die von Schweiß glänzenden Leiber hinab.
„ Ich muß dir gratulieren, mein Freund. Da hast du wirklich eine hervorragende Truppe zusammengestellt."

Amman Kemail lächelte geschmeichelt. „ Sie sind handverlesen, mein Freund. Nach jeder erfolgreichen Unternehmung sichte ich die neuen Sklaven und sortiere sie nach ihren körperlichen Fähigkeiten. Die kräftigen, geschmeidigen eignen sich fast immer gut für die Galeere. Selten habe ich mit meinem Urteil falsch gelegen. Sieh dir einmal den dort hinten genauer an, dritte Reihe rechts innen. Der ist erst seit ein paar Tagen dabei, aber er macht sich prächtig. Scheint eine große Ausdauer zu haben."

Akhnan Ibn Nazir richtete seinen Blick auf den Mann, den sein Freund ihm gewiesen hatte. Er hatte den Kopf konzentriert über das Ruder gebeugt und Akhnan Ibn Nazir betrachtete fasziniert das Spiel der Muskeln unter der leicht geröteten Haut, die ein Zeichen aller Neulinge war. Ja, dieser Mann schien tatsächlich hervorragend für die Galeere geeignet zu sein!
Gerade wollte Akhnan Ibn Nazir sich wieder seinem Freund zuwenden und sein Urteil über den Sklaven abgeben, als dieser den Kopf hob und Nazir einen langen Blick in sein Gesicht werfen konnte. Das war doch nicht...? Nein, das konnte nicht sein!
„ Sag, mein lieber Freund, was weißt du über diesen Sklaven?"

„ Nun, wir haben ihn in einer Bauernkate in Dol Amroth eingefangen, seinem Körper nach zu urteilen halte ich ihn für einen ehemaligen Soldaten. Warum fragst du?"

Nazir lachte leise. „ Das werde ich dir gleich berichten, doch zuvor möchte ich gerne noch etwas mehr über diesen Mann in Erfahrung bringen. Du hast doch sicher einen Informanten unter deinen Sklaven."

Kemail nickte. „ Natürlich! Es gibt immer einen, der für eine bevorzugte Behandlung seine Kameraden verrät"
Der Pirat winkte den Aufseher zu sich und gab ihm flüsternd einige Anweisungen. Bazhir ging sofort los, dem Sklaven Drago die von seinem Herrn gewünschten Informationen zu entlocken.
Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Bazhir wieder vor Amman Kemail stand und ihm Bericht erstattete. „ Der Mann hat anscheinend das Gedächtnis verloren. Er nennt sich selbst Estel und scheint dick befreundet mit Ibrahim zu sein. Mehr wußte Drago auch nicht zu sagen."

Kemail nickte seinem Aufseher zu und entließ ihn wieder zu seiner Arbeit.
Dann sah er seinen Freund fragend an, der versonnen lächelte.
„ Was weißt du über diesen Mann, Akhnan?"

Und Akhnan Ibn Nazir, der im Ringkrieg auf der Seite des dunklen Herrschers gekämpft hatte, erzählte seinem Freund eine Geschichte von einem Waldläufer, der es zum Heerführer im Ringkrieg und dann zum König von Gondor gebracht hatte.