Kapitel 1
Lily Evans schlenderte mit abwesendem Gesichtsausdruck über die Schlossgründe von Hogwarts. Es war einer jener letzten, warmen Septembernachmittage und ihr neues, von keinem Kratzer verunstaltetes Schulsprecherabzeichen glitzerte in der Sonne. Obwohl sie bereits zuvor Vertrauensschülerin für Gryffindor gewesen war, hatte sie ihre Wahl zur Schulsprecherin erstaunt. Zwar versuchte sie alle ihr aufgetragenen Aufgaben so gut wie nur irgend möglich zu erledigen, dennoch hatte sie stets das Gefühl, noch Meilen von dem, was sie eigentlich schaffen wollte entfernt zu sein. Sie war sich ihrer eigenen Unvollkommenheiten nur allzu bewusst und die Erinnerung an vergangenes Scheitern führte ihr immer wieder selbst vor Augen, dass sie niemals jenen Grad an Perfektion erreichen würde, den sie selbst für sich anstrebte.
So erinnerte sie sich noch lebhaft an den Tag ihrer Z.A.G.-Prüfung in Verteidigung gegen die Dunklen Künste; James Potter, dieser arrogante, aufgeblasene Grindeloh und sein unterbelichteter Anhang Sirius Black hatten sich damals einen Spaß daraus gemacht, ihren Klassenkameraden Severus Snape vor der versammelten Schülerschaft kopfüber in die Luft zu befördern. Lily mochte Snape nicht besonders; sie fand ihn ungepflegt und unhöflich, dennoch befand sie, dass auch er es nicht verdient hatte, auf solch entwürdigende Art und Weise malträtiert zu werden und sich zum Eingreifen entschieden. Sie verließ ihre Freundinnen am See und forderte Potter auf, Snape in Ruhe zu lassen. Natürlich musste Potter wieder eine Show abziehen – als ob sie mit jemandem wie IHM ausgehen würde! Allerdings hatte seine arrogante Art sie nicht im Mindesten so schockiert, wie Severus Snape. „Schlammblut" hatte er sie genannt. Auch jetzt, mehr als ein Jahr nach diesem betrüblichen Ereignis, stiegen ihr noch immer die Tränen in die Augen, wenn sie auch nur daran dachte. „Schlammblut" war das schlimmste, entwürdigendste Schimpfwort, das in der Zauberwelt überhaupt existierte; nachdem Erasmus Avery, ein Slytherin, sie in der zweiten Klasse so bezeichnet hatte, hatte ihre beste Freundin Alice Longbottom ihr erklärt, dass es sich um eine abwertende Bezeichnung für Muggelgeborene handelte. Lilys Eltern waren beide Muggel, was sich natürlich schnell herumgesprochen hatte und vor allem bei den Slytherins immer wieder für Herablassung ihr gegenüber sorgte. In ihrem fünften Schuljahr hatte sie gedacht, sie könne inzwischen mit dieser Art der Ausgrenzung umgehen – doch weit gefehlt. Nie hätte sie damit gerechnet, so von einem Menschen bezeichnet zu werden, dem sie doch nur hatte helfen wollen! Also war sie gegangen – und verletzt, traurig und von der Welt enttäuscht, wie sie sich in diesem Augenblick nun einmal gefühlt hatte, hatte sie Snape geraten, seine Unterhosen zu waschen und ihn „Schniefelus" genannt.
Jetzt, nach über einem Jahr Bedenkzeit, erkannte sie natürlich ihr Fehlverhalten. Severus Snape hatte sich unverzeihlich verhalten – doch was hatte sie getan? Sie hatte Potter und Snape angeblafft, dabei war sie selbst um keinen Deut besser. Immer wieder verfolgte diese Szene sie im Traum und aus dem Hintergrund hörte sie die tadelnde Stimme Albus Dumbledores, die ihr gemahnte, eine Schulsprecherin hätte sich anders verhalten.
Umso mehr hatte es sie erstaunt, dass man ausgerechnet ihr, der unvollkommenen Muggelgeborenen Lily Evans zutraute, dieses Amt auszufüllen. Ihr kleines Herz war vor Freude und Dankbarkeit beinahe zersprungen, als sie das Abzeichen in der Post vorfand. Nun allerdings, zwei Wochen nach Schulbeginn, begann die Verantwortung ihre schmalen Schultern beinahe zu Boden zu drücken.
Mit diesen düsteren Gedanken im Hinterkopf schlenderte sie nun also in Richtung See, ihr langes, rotes Haar lose hinter sich herwehend. Sie näherte sich dem Gewässer, als leise Geräusche an ihr Ohr drangen, die nichts mit dem friedlichen Plätschern des Riesenkraken zu tun hatten. Sie ging etwas dichter heran, diesmal jedoch auf Zehenspitzen, um auch ja nicht bemerkt zu werden.
„ … habe dir doch gesagt, dass ich noch nicht so weit bin."
„Kannst du endlich mal mit dem Gelaber von wegen ‚Ich will lieber noch warten' aufhören?" Eine Stimme, tief und kalt, wie die Gletscher im Himalaja, die Lily in einem Buch ihrer Großmutter gesehen hatte.
„Aber ich will nicht! Kannst du das nicht akzeptieren?" Der Gesprächspartner des Eisblocks klang beinahe ein wenig weinerlich, als mache ihm dieses Gespräch Angst. Lily erstarrte, als sie bemerkte, dass es sich trotz Fistelstimme augenscheinlich um einen Jungen handelte. Und nicht nur um irgendeinen Jungen; das Wort „Schlammblut" hallte in ihrem Geiste wieder, als sie erkannte, dass Severus Snape nur wenige Meter von ihr entfernt am See saß. Allerdings gelang es ihr nicht auszumachen, wer sein Begleiter war. Vielleicht hätte sie ihn sehen können, wenn sie sich nur einige wenige Schritte näher getraut hätte, doch aus irgendeinem Grund fürchtete sie sich. Und wieder stieg die alte Scham in ihr hoch: Warum, warum nur konnte sie nicht einfach mutiger sein?
„Nein! Ein Malfoy bekommt immer, was ein Malfoy begehrt." Er lachte. Ein dunkles, kehliges Lachen, das direkt den Vorhöfen der Hölle zu entsteigen schien.
„Nein! Bitte nicht! Ich …mmmpf …"
Was folgte, war lediglich ein dumpfer Aufprall und das leise Geräusch raschelnder Kleidungsstücke. Lily war starr vor Schreck. Was ging dort, hinter den Hecken, den Sträuchern und dem kleinen Tannenhain nur vor? Sie wollte laufen, wollte Snape zur Hilfe eilen, doch ihre Füße schienen im seichten Gras festgewachsen zu sein.
Plötzlich hörte sie etwas. Schritte! Jemand kam näher, rannte von hinten auf sie zu. Wie von einer Acromantula gebissen drehte sie sich um und wurde James Potters gewahr. Sein Schulsprecherabzeichen glitzerte ebenso wie ihr eigenes in der Sonne, als er angesprintet kam. Er lief so schnell, dass seine Füße kaum den Boden zu berühren schienen und Lily musste zu ihrer Schande eingestehen, dass sie das Spiel der Muskeln in seinen Oberarmen und –schenkeln mit einer Art naiver Bewunderung betrachtete.
„Hey, Evans", rief er. „Wir hatten doch heute Schulsprecher-Treffen. Hast du vergessen, dass …" Er stoppte abrupt vor ihrer Nase und hielt im Sprechen inne. „Hey, Evans! Was ist denn mit dir los?"
„Snape … und ein Mann … am See …" Sie klang atemlos, obwohl sie die ganze Zeit an einer Stelle verharrt hatte.
„Was?" James schien kein Wort von dem, was sie da sagte zu begreifen.
„Schnell", wisperte Lily. „Du musst ihm helfen." James sah das leichte Rot auf ihren blassen Wangen, verlor sich in ihren smaragdgrünen Augen – und schon war es wieder einmal um ihn geschehen. Bei Merlin, für sie würde er sogar Snape dabei helfen, seine Unterhosen im See zu waschen!
Und mit diesem Vorsatz reckte er gleich einem jener stolzen Helden der griechischen Antike die Brust und verschwand mit einigen, an einen Hirsch erinnernden Sätzen im Tannenhain.
To be continued …
