Als Hermine erwachte, wurde das Schloss bereits vom sanften Licht der untergehenden Sonne überflutet.
Sie machte sich rasch ein wenig frisch und schlüpfte in ein anderes Kleid – lang, moosgrün und aus einem weichen, fließenden Stoff – das ihre schlanke Silhouette vorteilhaft betonte. Die vordere Partie ihrer fast bis zur Taille reichenden, buschigen Haare band sie mit einem Samtband locker im Nacken zusammen. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel – sie wollte schließlich am ersten Abend einen guten Eindruck machen – und nachdem der Spiegel ihr wortreich und überschwänglich versichert hatte, dass sie wirklich ausgesprochen entzückend aussähe, machte sie sich schließlich auf den Weg zur großen Halle.
Das Abendessen verlief zunächst äußerst angenehm.
Hermine unterhielt sich eine Weile angeregt mit Professor McGonagall, Professor Sprout, Madame Hooch und mit Poppy Pomfrey, die in ihrer unmittelbaren Nähe saßen.
Professor Snape, auf dessen Gesellschaft sie nicht sonderlich erpicht war, thronte dankenswerterweise am anderen Ende des langen Tisches, schräg gegenüber und hatte sie bislang keines Blickes gewürdigt - ein Umstand den Hermine jetzt ausnützte, um ihren ehemaligen Lehrer ungestört einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Auf den ersten Blick war Snape noch derselbe arrogante, unnahbar wirkende Mann, den sie in Erinnerung hatte.
Bei genauerem Hinsehen fielen Hermine jedoch einige Veränderungen auf: Er wirkte nicht mehr so angespannt und gehetzt wie früher, sondern etwas gelassener, was jedoch der Verachtung, die er seinen Mitmenschen entgegenzubringen schien, keinen Abbruch tat.
Insgesamt schien er ein wenig gepflegter zu sein und die langen pechschwarzen Haare, die meist einen Teil seines markanten Gesichtes verdeckten, waren an den Schläfen vereinzelt von feinen weißen Fäden durchzogen.
Noch etwas Entscheidendes hatte sich verändert - Hermine wunderte sich, dass es ihr nicht sofort aufgefallen war: Die gespenstische Blässe, die ein typisches Merkmal des Zaubertränkemeisters gewesen war, hatte einer natürlicheren Gesichtsfarbe Platz gemacht – sie meinte sogar einen Hauch von Bräune zu erkennen. Vielleicht lag es daran, mutmaßte sie, dass er nachdem Voldemort tot war, seine Freiheit wieder hatte und, wie jeder andere Mensch, des öfteren seine Freizeit im Sonnenlicht verbrachte.
Hermine nahm sich vor, Minerva, oder besser noch Albus, danach zu fragen, während sie den „neuen" Professor Snape weiterhin aufmerksam beobachtete.
Jemand, der den Zauberer nicht kannte, hätte ihn ohne Weiteres für einen, wenn auch nicht im klassischen Sinn gutaussehenden, aber interessanten und sogar sehr attraktiven Mann halten können, kam es Hermine plötzlich in den Sinn.
Seine geheimnisvolle, düstere Aura, die durch die schwarzen Haare, die durchdringenden dunklen Augen und die völlig in schwarz gehaltene viktorianische Kleidung noch verstärkt wurde, war auf eine gefährliche Art anziehend.
Hermine musste sich zu ihrer eigenen Überraschung eingestehen, dass Snape, trotz seiner deutlich zur Schau gestellten Arroganz, durchaus sexy wirkte, wenn dieser Eindruck nicht gerade durch den überaus verbiesterten Gesichtsausdruck zerstört wurde, den er meistens aufsetzte.
Hermine erinnerte sich an einen Abend im Gemeinschaftsraum, an dem sie zufällig und unbemerkt Zeuge geworden war, wie zwei ihrer ehemaligen Mitschülerinnen sich flüsternd – denn darüber laut zu sprechen wäre aus mehreren Gründen gefährlich gewesen - genau diese Snape-ist-eigentlich-sexy-Theorie gegenseitig bestätigt hatten.
Damals hatte Hermine, die auf diesem speziellen Gebiet eher eine Spätzünderin gewesen war, die beiden Mädchen angewidert und ohne zu zögern, gedanklich mit dem Etikett „perverse Masochistin" versehen. Heute allerdings war sie in solchen Dingen wesentlich aufgeschlossener.
Trotzdem überraschte es sie, dass der Anblick von Snape, den sie noch immer auf sich wirken ließ, sie zu solch absurden Gedanken animierte.
Das Verhältnis der anderen Lehrer zu ihrem übellaunigen Kollegen war, soweit Hermine das beurteilen konnte, immer noch das selbe – kaum einer sprach mehr als das Nötigste mit ihm, was ihnen aufgrund seiner überheblichen Art durchaus nicht zu verdenken war. Einzig Dumbledore schien sich gerne mit Snape zu unterhalten – auch in diesem Moment waren die beiden in ein Gespräch vertieft, wobei allerdings wie es aussah, der Schulleiter den Großteil der Unterhaltung bestritt.
Plötzlich, als hätte er ihren Blick gespürt, hob Snape den Kopf und starrte ihr geradewegs in die Augen.
Einen kurzen Moment lang war Hermine versucht, dem ersten Impuls nachzugeben und den Blick sofort abzuwenden. Da ihr aber gerade noch rechtzeitig ihr Vorsatz vom Nachmittag, sich nichts mehr gefallen zu lassen in den Sinn kam, starrte sie herausfordernd zurück.
Das Snape dies als ausgesprochene Unverschämtheit auffasste war seinem Gesichtsausdruck deutlich anzumerken. Er setzte seine bedrohlichste „ich-zieh-dir-gleich-jede-Menge-Punkte-ab"-Miene auf, die Hermine aus ihrer Schulzeit noch all zu gut in Erinnerung war.
Sie überlegte kurz, wie sie die Situation noch etwas weiter auf die Spitze treiben konnte und entschied sich dann intuitiv, diesem plumpen Einschüchterungsversuch ein unverdient zauberhaftes Lächeln entgegenzusetzen.
Der Blick, den Snape ihr daraufhin, die Augen wütend zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, quer über den Tisch schickte war so eisig, dass sie das Gefühl hatte, die Kälte tatsächlich körperlich zu spüren
Nichtsdestotrotz lächelte sie ihn weiter an und versuchte diesem Lächeln noch eine Prise von leisem Spott hinzuzufügen, indem sie die Augenbrauen ironisch hochzog.
Der Ausdruck in Snapes Augen wurde mörderisch.
Hermine rechnete schon fast jeden Moment damit, dass er aufspringen und ihr irgendeinen üblen Fluch auf den Hals hetzen würde, und beschloss daher, dass sie - die Klügere - jetzt doch besser nachgeben würde.
Nach einem letzten intensiven Blick in die bedrohlich funkelnden schwarzen Augen zuckte sie, immer noch lächelnd, andeutungsweise die Schultern und wandte sich dann der neben ihr sitzenden Madame Pomfrey zu, die gerade das x-te Anekdötchen aus ihrer langen Heilerinnen-Laufbahn zum Besten gab.
Snape atmete tief durch.
Endlich hatte diese respektlose Göre aufgehört in anzustarren – und, was noch viel schlimmer gewesen war, ihn so unverschämt spöttisch anzulächeln. Dieses impertinente Weibsbild wagte es doch tatsächlich, seine Autorität in Frage zu stellen! Unfassbar! Was dachte diese, neumalkluge Anfängerin eigentlich, wen sie vor sich hatte?
Sie hatte scheinbar vergessen, dass er aus dem „wer-schaut-zuerst-weg"-Spiel immer als Sieger hervorging, es sei denn, der Gegner war Dumbledore, und auch dieser schaffte es längst nicht jedes mal, ihn zu bezwingen.
Nachdem Miss Granger jetzt scheinbar völlig gefesselt Madame Pomfreys Erzählungen verfolgte – kein Wunder, denn Poppy war mittlerweile, nachdem sie dem Rotwein kräftig zugesprochen hatte, zur Höchstform aufgelaufen – konnte Snape seine ehemalige Schülerin, die all die Jahre Klassenbeste in seinem Fach gewesen war, nun seinerseits einer genaueren Betrachtung unterziehen.
Aus dem Mädchen, das vor sieben Jahren Hogwarts verlassen hatten, war eindeutig eine Frau geworden.
Sie war keine spektakuläre Schönheit, aber eine sehr hübsche, zierliche junge Dame, mit feingemeißelten Gesichtszügen und einer dichten hellbraunen Löwenmähne. (Wie überaus passend für eine Gryffindor!)
Einen kurzen Moment lang überlegte Snape, wie es sich wohl anfühlen würde, seine Finger in diesen sicherlich warmen und weichen Wuschellocken zu vergraben, und verbot sich gleich darauf energisch diesen Gedanken weiter zu vertiefen. Schließlich war es die penetrante Nervensäge Granger war, die er da betrachtete.
Er würde sich von ihren, zugegebenermaßen reizvollen weiblichen Attributen, die sich deutlich unter dem fließenden Stoff ihres Kleides abzeichneten, auf gar keinen Fall beeinflussen lassen.
Auch wenn sie jetzt die charmante Jungprofessorin spielte – für ihn würde sie immer die unerträgliche Alleswisserin Granger bleiben - und außerdem war sie für seinen Geschmack ohnehin zu dünn.
Entschlossen verschränkte Snape die Arme vor der Brust, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und studierte nun aufmerksam das Gesicht seiner Nachfolgerin.
Das Bemerkenswerteste an diesem Gesicht waren mit Abstand die großen, ausdrucksstarken, bernsteinfarbenen Augen. Sie war als Schülerin nicht zuletzt deswegen eines seiner Lieblingsopfer gewesen, weil er mühelos die ganze faszinierende Palette ihrer Gefühle in diesen Augen hatte erkennen können.
Fast wehmütig dachte er an den Anfang ihrer Schulzeit zurück, als nur ein einziger bösartiger Kommentar, manchmal auch nur ein scharfer Blick von ihm ihr die Tränen in die Augen treiben konnte, wie sie sich quälte um zu ergründen, was sie falsch gemacht hatte und ihn wortlos, nur mit ihren Augen, um Verzeihung anbettelte – wofür es so gut wie nie eine Veranlassung gab – nachdem er ihr untersagt hatte, unaufgefordert zu sprechen und ihre permanent erhobene Hand grundsätzlich ignorierte.
Später dann, als sie das Weinen bereits weitgehend aufgegeben hatte und versuchte, sich ihre Gefühle aufgrund seiner angeblichen Ungerechtigkeiten nicht anmerken zu lassen, konnte er dennoch in ihren Augen lesen wie in einem Buch. Sie hatte so gut wie nie offenen Wiederstand gezeigt, aber die Wut die sich oft in ihrem Blick wiederspiegelte hatte ihn meist zu neuen Gemeinheiten inspiriert.
Er hatte sie auf diese Art regelmäßig an ihre Grenzen getrieben. Manchmal war er fast stolz auf sie gewesen, wenn sie es wieder einmal geschafft hatte, die Tränen herunterzuschlucken und die Fassung wenigstens äußerlich zu waren, obwohl er ihr bis aufs Äußerste zugesetzt hatte.
Und heute starrte ihm die Frau, die sich als Schülerin von ihm nahezu jede Demütigung hatte gefallen lassen, mit ihren Bernsteinaugen frech und herausfordernd ins Gesicht und nicht einmal sein, über Jahrzehnte hinweg perfektionierter, „Todesblick" hatte die gebührende Wirkung gezeigt.
Es lag klar auf der Hand: Er würde stärkere Geschütze auffahren müssen, um diese erwachsen gewordene, selbstbewusste Hermine Granger in die Knie zu zwingen und er würde äußerst subtil und geschickt dabei vorgehen müssen, damit er Dumbledore keine Angriffsfläche bot. Zunächst einmal würde er sie äußerst freundlich behandeln, um sie in Sicherheit zu wiegen und dann, wenn sie sämtliche Vorsicht fallen ließ, gnadenlos niederzumachen. Welch eine Herausforderung – ein boshaftes Lächeln entspannte sein Züge – er liebte Herausforderungen!
Hermine war in Hochstimmung. Abgesehen davon, dass sie sich unbändig auf die vor ihr liegende Aufgabe als Lehrerin freute, hatte sie sich gerade köstlich über Poppy Pomfreys ulkige Geschichten amüsiert. Am meisten hatte sie jedoch der Etappensieg über Snape in Hochstimmung versetzt und wenn sie daran zurück dachte was sie und ihre Freunde als Schüler unter diesem Mann hatten ertragen müssen, kam ihr dieser Sieg noch unglaublicher vor.
Harry hatte Snape, der ihn noch fieser als alle anderen behandelt hatte, gehasst wie die Pest, zumindest bis zu Endkampf gegen Voldemort. Danach hatte er sich nie mehr über den Zaubertrankmeister geäußert, weder negativ noch positiv.
Er hatte niemals auch nur ein Sterbenswörtchen über diesen Kampf verlauten lassen, sondern auf die Fragen seiner Freunde nur etwas von „lieber vergessen" gemurmelt und nach einer kurzen beleidigten Phase hatten sie das auch akzeptiert.
Ron, schimpfte immer noch viel und gern auf „die abscheuliche schwarze Fledermaus", wenn sie über die alten Zeiten sprachen und seine Schwester Ginny verdrehte nur vielsagend die Augen, wenn die Rede von Snape war.
Neville Longbottom, der als Schüler eine geradezu panische Angst vor dem Zaubertränkemeister gehabt hatte, wurde, wie er Hermine einmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte, immer noch regelmäßig von Alpträumen heimgesucht, in denen Snape die Hautrolle spielte.
Hermine hatte ihm deswegen vor Kurzem geraten, sich in Therapie zu begeben und ihm diese Muggelheilmethode ausführlichst erläutert. Nachdem es aber zu gefährlich war, einen Muggeltherapeuten mit Zaubererproblemen zu konfrontieren hatte sie sich selbst angeboten ihm zu helfen, wozu sie sich aufgrund ihrer Psychologiekurse durchaus in der Lage sah.
Neville hatte ihr fest versprochen darüber nachzudenken, um nicht sein Leben lang unter dieser, rationell nicht mehr nachvollziehbaren Angst leiden zu müssen.
An dieser Stelle ihrer Überlegung angekommen, blickte Hermine kurz zum Hauptdarsteller von Nevilles Alpträumen hinüber und erstarrte.
Snape hatte wieder Blickkontakt mit ihr aufgenommen, aber das war nicht der eigentliche Anlass, der sie urplötzlich am ganzen Körper frösteln ließ.
Der Grund, aus dem sich Tausende von Härchen auf ihrer Haut um einen Stehplatz bemühten, war ein anderer:
SNAPE LÄCHELTE!
Nachdem seine Augen immer noch bösartig funkelten, hatte er dabei zwar fatale Ähnlichkeit mit einem Wolf, der die Zähne fletschte - aber es war eindeutig ein Lächeln.
Trotzdem fand Hermine diesen Anblick erheblich beunruhigender als die, für Snape typische, bösartige Mimik von vorhin. Warum, zum Geier, lächelte er sie auf einmal an?
Das ungute Gefühl wich den Rest des Abends nicht mehr von Hermine und sie vermied es, noch einmal zu Snape hinüberzusehen. Darum bemerkte sie auch nicht, dass er aufstand, um den Tisch herum zu ihrem Sitzplatz ging und sich zu ihr herunterbeugte.
„Miss Granger?"
Als sie seine tiefe, samtige Stimme plötzlich so nah neben ihrem Ohr vernahm, zuckte sie vor Schreck unwillkürlich und heftig zusammen.
„Habe ich sie erschreckt? Verzeihen sie, das lag natürlich nicht in meiner Absicht", sagte er höflich, doch sein schadenfroher Gesichtsausdruck wiederlegte diese Aussage gründlich.
„Schon gut, Professor, ich werde es überleben", sagte Hermine etwas lahm.
„Wann wäre ihnen denn eine Führung durch ihren neuen Arbeitsbereich genehm?", fragte Snape. „Direktor Dumbledore bat mich, ihnen alles zu zeigen, was für ihren Unterricht relevant sein könnte."
„Ähm.., ich richte mich da ganz nach ihnen, Professor Snape", sagte Hermine, die von der Tatsache, dass dieser unmögliche Mann plötzlich ganz normal mit ihr redete, leicht verwirrt war.
„Wie würde es ihnen morgen, am frühen Vormittag passen?", fragte er. „Da haben sie vorher noch genügend Zeit, sich bei einem ausgiebigen Frühstück zu stärken – ich meine, nur für den Fall, dass es anstrengend wird", fügte er seltsam fürsorglich hinzu.
(Anstrengend?) Was sollte das nun schon wieder bedeuten?
„Morgen Vormittag passt mir ausgezeichnet", sagte Hermine, ohne auf die Anspielung einzugehen.
„Wunderbar, Miss Granger. Ich wünsche angenehme Nachtruhe", sagte Snape mit einem Nicken, das andeutete, dass alle Anwesenden damit gemeint waren, drehte sich um und marschierte mit wehendem Umhang aus der großen Halle.
Hermine konnte sich keinen rechten Reim auf seinen plötzlichen Stimmungswechsel machen; vielleicht war er ja wirklich nur ein extrem launischer Typ.
Vielleicht hatte aber auch der lange erhoffte, schwer erkämpfte Sieg über Voldemort und die daraus resultierende Freiheit, in aus seiner Verbitterung geholt und einen besseren Menschen aus ihm gemacht - und er versuchte nur noch aus alter Gewohnheit, andere Menschen einzuschüchtern.
Da Hermine ausgesprochen viel Wert auf Fairness legte – ihre Freunde bezeichneten sie oft als Gerechtigkeitsfanatikerin – beschloss sie, Snape eine Chance zu geben.
