1. Kapitel
Der Tag verabschiedete sich mit einem solch gewaltigen, dunkelroten Sonnenuntergang, dass man meinen konnte, die Natur selbst würde die Vernichtung Saurons vor fünf Jahren feiern. Die Vögel zwitscherten noch bis spät in die Abendstunden hinein und die Luft war erfüllt von solcher Energie und Freude als würde sie einen zweiten Frühling zelebrieren.
Aragorn sog die Luft tief in seine Lungen ein und schloss für einen Moment die Augen. Der Fall Saurons war jedes Jahr der aufregendste und anstrengendste Tag für ihn und viele andere. Es war der Tag, an dem es ihm am deutlichsten ins Bewusstsein drang, dass er König von Gondor war und in dieser Rolle eine sehr große Verantwortung auf seinen Schultern lastete. Es war der Tag, der sein Leben für immer verändert hatte, der Tag an dem er sich seiner Bestimmung gefügt und eingesehen hatte, dass er die große Hoffnung des Volkes von Gondor war.
Aragorn öffnete die Augen wieder und sah hinab in den großen spitzzulaufenden Hof des Schlosses, der erfüllt von Lachen und Jubeln war. Überall in Minas Tirith feierte man ausgelassen und freute sich von Neuem des Sieges über die Finsternis. Viele kamen von weit her, nahmen lange Reisen auf sich, um den Sieg auf dem ehemaligen Schlachtfeld vor den Toren der Stadt oder in der Stadt zu feiern. Dieser Ort war in die Geschichte eingegangen und die Menschen zog es besonders an diesen Tagen hierher. Bald schon würde der Himmel über der Stadt von bunten, grellen Lichtern und lautem Knallen erfüllt sein, doch kein Feuerwerk im ganzen Land würde sich mit dem des Schlosses messen können, welches von Gandalf, dem Weißen, persönlich hergerichtet wurde. Dieses Spektakel war einer der Gründe, warum die Menschen in Scharen in den Schlosshof drängten. Sie alle wollten es so nah wie möglich erleben und die Tore zum Hof waren wie jedes Jahr für jedermann geöffnet. In das Schloss allerdings gelangten nur geladene Gäste; die Verwandten und Freunde der königlichen Familie und die Vertreter und Könige anderer Länder und Völker, die sich entschlossen hatten mit ihnen zu feiern.
Aragorn stieß einen tiefen Seufzer aus. Wäre die politische Lage in diesen Tagen anders gewesen, hätte er das Fest vielleicht sogar trotz der nervenden Traditionen und höfischen Umgangsformen genießen können. Seine engen Freunde ließen ihn zumeist alle Sorgen vergessen und brachten ihn dazu sich leichter ums Herz zu fühlen und mit seinem Volk zu Jubeln. Doch dieses Jahr würde es ihnen nicht gelingen.
Die Sorgen, die Aragorn mit sich herum trug, waren erdrückend. Nach nur fünf Jahren Frieden schien sich plötzlich eine Katastrophe anzukündigen, die wahrscheinlich nur mit einem Krieg abzuwenden war.
Das Süderland war schon immer eine kleine Gefahrenquelle gewesen, da sein Volk weitaus temperamentvoller und starrsinniger war als andere. Selbst die Nordländer hatten sich nach dem Krieg ihrem Schicksal gefügt und verhielten sich mittlerweile kooperativ und einsichtig. Auch im Süderland hatte es zuerst danach ausgesehen, als ob die Fürsten der Völker Verständnis dafür hätten, dass Truppen Gondors und Rohans Randgebiete ihres Reiches besetzten, um ein für alle Mal für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Es waren sogar Handelsverträge geschlossen worden, die allen beteiligten Ländern einen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht hatten; aber schon bald hatten sich erste Unruhen in der Bevölkerung breit gemacht. Man war nicht mit dem führenden Fürsten einverstanden, man wollte die Soldaten Gondors und Rohans nicht mehr im Land haben, man wollte sich überall in Mittelerde frei bewegen können, man wollte wieder seine Armeen aufrüsten können und so ging es ohne Ende weiter.
Der giftige Stachel des Hasses saß tief in diesem Volk, hervorgerufen durch die große Niederlage bei der Schlacht in Gondor und den daraus hervorgehenden Machtverschiebungen und Auflagen im Süderland. Und es gestaltete sich als äußerst schwierig diesen Stachel zu entfernen. Ganz im Gegenteil – der Groll der Südländer gegen Gondor war bis weit über die Grenzen zu spüren und Aragorn wusste aus zuverlässigen Quellen, dass bald wieder mit einem Aufstand an den Grenzen Haradwaiths zu rechnen war. Dies war schon zwei Mal geschehen und Aragorn hatte mit der Hilfe Rohans und den restlichen Elben jedes Mal die Situation mit viel Diplomatie und wenig Druck in den Griff bekommen. Dennoch waren diese Aufstände ein deutliches Zeichen dafür, dass in Bezug auf dieses Land dringend etwas getan werden musste, sonst würde alles noch wirklich mit einer Katastrophe enden. Es war wie das stetige Anschlagen von Wellen an einen noch nicht ganz so stabilen Damm. Man musste ihn verstärken bevor eine Sturmflut hereinbrach.
Eine leichte Bewegung hinter ihm ließ Aragorn kaum merklich zusammenfahren und er wandte sich ein wenig um, um seine Frau mit einem Lächeln in die Arme zu schließen. Sie schmiegte ihren warmen Körper an den seinen und strich ihm zärtlich über das Haar und für einen Moment schien es Aragorn, als könne nichts auf dieser Welt ihm etwas anhaben, als könne keine Sorge dieser Welt seinen Geeist jemals wieder betrüben. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange an, zu schwer war ihm das Herz, zu belastend seine Befürchtungen.
„Du siehst blass aus", sagte Eowyn sanft und streichelte sein Gesicht. „Versuche doch wenigstens für diesen Abend zu vergessen, was dich bedrückt."
„Das kann ich nicht", seufzte Aragorn und zog sie noch fester an sich, um sein Gesicht in ihr goldenes Haar zu tauchen und ihren bezaubernden Duft einzuatmen. Allein schon ihre Nähe beruhigte ihn etwas und ließ ein wenig seiner Selbstsicherheit in sein Inneres zurückkehren.
„Dann denke einfach daran, was uns das Leben bisher immer gelehrt hat", flüsterte sie in sein Ohr. „Auch die schlimmen Zeiten gehen vorüber!"
Sie rückte ein wenig von ihm ab und sah ihm fest in die Augen. „Und du hast deine Familie und einige sehr gute und treue Freunde, die immer zu dir stehen und dich unterstützen werden, so gut sie es können und mit allen Kräften, die sie haben. Du bist nicht allein!"
Aragorn sah sie lange an, nahm schließlich ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich.
„Ich liebe dich", sagte er leise und seine Stirn berührte die ihre. Eine Weile standen sie so in stiller Einigkeit, dann löste sich Aragorn wieder von ihr und bot seiner Frau seinen Arm.
„Lass uns den Frieden feiern und die Dunkelheit vergessen", sagte er mit einem Lächeln.
Eowyn erwiderte sein Lächeln und schob ihre Hand unter seinen Arm. „Auf dass die guten Zeiten niemals enden mögen", sagte sie mit einem kleinen Augenzwinkern und gemeinsam verließen sie die königlichen Gemächer.
