Die Nachmittagssonne stand noch hoch am westlichen Himmel und brannte ihr auf den Rücken, als sie vor den steinernen Skulpturen der geflügelten Eber ankam, die die Tore von Hogwarts bewachten. Die Tore waren fest verschlossen, eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, seit die Dunklen Mächte wieder am Erstarken waren und Lord Voldemort seine Todesser erneut um sich scharte.
Sie zog ihren Zauberstab aus der Umhangtasche und erinnerte sich an den glücklichsten Moment ihres Lebens: Stuarts Kuss, der erste Kuss ihrer ersten großen Liebe. „Expecto patronum", flüsterte sie, ein strahlend helles Wiesel erschien aus ihrer Zauberstabspitze und flitzte in Richtung Schloss davon, um ihr Eintreffen anzumelden.
Sie sah sich um, während sie wartete. Wenig hatte sich verändert, rein äußerlich betrachtet. Das Gelände sah aus wie immer, abgesehen von dem Grabmal aus weißem Marmor, das da jetzt im Schatten des Schlosses stand. Dumbledores Grabmal. Der Anblick gab ihr einen Stich ins Herz. Ein weiterer schmerzlicher Verlust in ihrem Leben. Sie hatte ihn verehrt. Nie hatte sie sich vorstellen können, dass Dumbledore, der größte Zauberer der Welt, von einem gemeinen Verräter wie Snape ermordet werden würde. Wie hatte er sich nur so täuschen lassen können? Er, der immer alles wusste, weil er den Menschen in die Herzen sehen konnte! Es war ihr nach wie vor unbegreiflich.
Das Schlossportal öffnete sich, und Minerva McGonagall persönlich kam mit eiligen Schritten auf sie zu, in ihrer Hand hielt sie einen großen Schlüsselbund. Rasch öffnete sie das Tor und ließ den Neuankömmling ein.
„Miss Blanchâme", versetzte die ältere Dame herzlich. „ich freue mich Sie zu sehen. Ich hoffe Ihre Reise verlief gut?"
Sie reichten sich die Hände.
„Guten Tag, Professor McGonagall", antwortete Calisto ehrerbietig und lächelte zaghaft. Sie war erleichtert und gleichzeitig auch etwas verwirrt von der so strengen Frau so herzlich empfangen zu werden.
Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs brachte sie das schwere Gepäck zum Schweben und dirigierte es vor ihnen her zum Schloss.
„Ich würde gern noch einige Sachen mit Ihnen besprechen", begann die Direktorin erneut, „vielleicht jetzt gleich, bei einer Tasse Tee in meinem Büro? Es sei denn, Sie wollen sich erst einmal ausruhen und einrichten."
Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein, eine Tasse Tee wäre jetzt genau richtig. Ich kann später mein Gepäck in mein Quartier bringen."
„Sehr gut, folgen Sie mir." Minerva McGonagall eilte mit klackenden Schritten durch die Gänge der so vertrauten Schule. Calisto folgte ihr in einigem Abstand. Alles war ihr hier so bekannt und doch war es diesmal anders. Sie musste sich erst daran gewöhnen nicht mehr Schülerin zu sein, sondern Lehrerin. Schon die respektvolle Art Professor McGonagalls hatte sie überrascht. Es war alles so neu für sie.
Die Schule war noch still und beinahe verwaist. Nur der Hausmeister Filch mit seiner alten Katze kreuzten ihren Weg nach oben. Er sah sie griesgrämig an, wie es seine übliche Art mit allen Menschen war, die seine heiligen Hallen mit ihren staubigen Füßen beschmutzten.
„Mr. Filch! Darf ich Ihnen unsere neue Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste vorstellen? Das ist Professor Blanchâme. Vielleicht kennen Sie sie noch von früher?"
‚Oh mein Gott', dachte Calisto, ‚Professor Blanchâme! Wie das klingt! So überlegen.' Filch hatte während ihrer Schulzeit keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu triezen. Jetzt war sie eine Kollegin, ja eigentlich sogar eine Vorgesetzte, denn sie war hier Professor, er nur der Hausmeister. Er fing an zu husten, weil er sich gerade an seiner eigenen Spucke verschluckt hatte. Als er wieder Luft bekam, rang er sich ein gequältes „Tach auch" ab und schlurfte davon. Calisto hatte nicht mehr Höflichkeit erwartet. Es musste ihm wirklich schwer fallen, sie jetzt als Vorgesetzte zu akzeptieren, nachdem er sie sieben Jahre lang gepiesackt hatte.
Die Schulleiterin hob die Augenbrauen und sah Calisto entschuldigend an.
„Ist schon gut", erwiderte diese, „er wird sich daran gewöhnen müssen, genau wie ich."
Als sie im Büro angekommen waren, zauberte Professor McGonagall einen gemütlicher Sessel herbei und lud sie ein, Platz zu nehmen. Ein weiterer Schnick mit dem Zauberstab, und ein Tablett mit Teekanne, Tassen und einem kleinen Teller Gebäck erschien aus dem Nichts auf ihrem Schreibtisch. Sie schenkte den Tee aus und stellte eine Tasse vor Calisto ab, die andere nahm sie sich selbst und rührte gedankenverloren darin herum.
„Sie wissen sicher, dass es im Moment nicht zum Besten um die Schule bestellt ist. Seit letztem Jahr habe ich gekämpft, dass Hogwarts nicht geschlossen wird. Mit Müh und Not habe ich die betreffenden Ämter von der Sicherheit überzeugen und genug Schüler werben können. Aber es sind trotzdem erschreckend wenige. Viele Eltern haben Angst um ihre Kinder, obwohl ich alles in meiner Macht stehende getan habe um Hogwarts noch sicherer zu machen. Unter anderem habe ich eine der besten Auroren als Mitglied des Lehrerkollegiums und Lehrerin für Verteidigung gegen die dunklen Künste engagieren können."
Calisto errötete leicht ob des Lobes und senkte mit einem leichten Lächeln den Blick.
„Ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Arbeit zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigen werden, wie Sie es auch schon in Ihrer Schulzeit getan haben." Die Professorin hielt kurz inne. „Ich möchte Sie allerdings um einen weiteren Gefallen bitten."
Die Aurorin hob den Kopf.
„Ich will unter allen Umständen verhindern, dass die Schule noch einmal in irgendeiner Form vom dunklen Lord oder einem seiner Anhänger attackiert wird. Das wäre der Untergang von Hogwarts. Deshalb bitte ich Sie, ein Auge auf alle Vorgänge zu haben, die hier passieren. Es ist wichtig, dass kein Todesser sich hier einschleichen kann. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber ich weiß mir keinen anderen Rat, als Sie um Hilfe zu bitten." Minerva suchte ihren Blick und sah ihr dann ernst in die Augen.
Calisto nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Das war wirklich eine Menge, die ihr da abverlangt wurde. Sie hatte zwar eine hervorragende Ausbildung genossen und alle Prüfungen mit Auszeichnungen bestanden, aber sie hatte noch nie unterrichtet. Nebenbei noch ihrem Job als Aurorin nachgehen und Schüler bespitzeln. Das war eigentlich nicht das, was sie gewollt hatte. Aber der ernste, bittende Ton, mit dem die Professorin gesprochen hatte, machte ihr bewusst, dass es ihr sehr am Herzen lag. Deshalb nickte die junge und sagte: „Ich werde versuchen Ihnen zu helfen, Professor. So gut ich kann."
„Das wird mehr als genug sein", schloss Minerva und nickte feierlich. Nach einiger Zeit des Schweigens setzte sie erneut an: „Ich möchte Sie gleich zu Beginn auf jemanden aufmerksam machen, einen Kollegen, gewissermaßen. Er hat sich mir vor einigen Wochen vorgestellt und sich um den Posten als Zaubertranklehrer beworben. Er hatte ausgezeichnete Zeugnisse vorzuweisen und schien mir auch ansonsten geeignet für die Stelle, aber irgendwie traue ich ihm nicht.
„Wie ist sein Name?", fragte Calisto, deren Neugier geweckt wurde.
„Er heißt Myotis. Albico Aleander Myotis. Als ich ihm nach seiner bisherigen Beschäftigung fragte, gab er an, die letzten 18 Jahre mit privaten Forschungen verbracht zu haben."
Bei dieser Beschreibung hob Calisto unwillkürlich die Augenbrauen. Das klang wirklich mysteriös. Nicht nur dieser seltsame Name.
„Ich habe mich natürlich über ihn informiert und es gab einen schwachen Verdacht, dass er den Todessern angehörte, etwa zu der Zeit, als er spurlos verschwand."
„Um jetzt plötzlich wieder aufzutauchen?"
„Das erregte auch mein Misstrauen. Aber ich hatte keinen begründeten Verdacht, und im Moment brauche ich jeden Lehrer, den ich kriegen kann. Ich konnte seine Bewerbung nicht einfach in den Wind schlagen."
Die Aurorin nickte nachdenklich. „Ich werde ein Auge auf ihn haben."
„Ich hoffe, es ist alles in Ordnung. Er wirkt sehr vernünftig und selbstsicher. Er kann seine Gedanken sehr gut verbergen, wahrscheinlich ein exzellenter Okklumentiker. Und er ist Albino."
Bei diesen Worten wurde sie hellwach. Das war ja wirklich hochinteressant. Sie hatte noch nie einen menschlichen Albino gesehen. Diese Krankheit war sehr selten bei Menschen und die meisten von ihnen hielten sich in dunklen Räumen auf, wegen ihrer hohen Lichtempfindlichkeit, sodass man sie nur selten zu Gesicht bekam.
Der Auftrag reizte sie auf einmal. Sicher würde es eine anstrengende Zeit werden, aber auch eine interessante.
„Ich werde mein Bestes geben", versprach sie und trank den Tee aus. Die Schulleiterin schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Damit wäre das Offizielle geklärt. Widmen wir uns den angenehmeren Dingen. Erzählen Sie ein wenig. Wie war Ihre Aurorenausbildung und was haben Sie seit Ihrem Abgang gemacht?".
Später in ihrem Zimmer dachte sie lange über das Gespräch nach, während sie ihre Sachen in den Schränken und Schubladen verstaute. Auch das hier war seltsam und ungewohnt. Gelegentlich war sie in diesen Räumen gewesen, um Hausaufgaben abzugeben oder ein persönliches Gespräch unter vier Augen mit dem jeweiligen Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu führen.
Sie hatte viele gehabt. Sieben, um genau zu sein. In jedem Jahr einen neuen. Keiner hatte diesen Job länger als ein Jahr gemacht. Man sagte ihm nach, er sei verflucht. Aber wie konnte ein Job verflucht sein? Häuser oder Gegenstände konnte man verfluchen, aber das Amt eines Lehrers? Wo hätte man den Fluch verankern können? Auf dem Pergament, das den Vertrag und die Unterschrift trug. Aber sie nahm an, dass sowohl das Pergament als auch Federn und Tinte in den vergangenen Jahren dem üblichen Verbrauch unterlagen. In diesen Räumen? Die waren sicher gründlich untersucht worden. Nein, sie wollte nicht an so etwas glauben, dazu war ihr Denken einfach zu logisch und nüchtern. Wahrscheinlich sorgte schon das Gerücht selbst dafür, dass es sich bewahrheitete. Eine Self-fullfilling-Prophecy, im Fachjargon gesprochen.
Sie würde ihr Wissen und Können in den Dienst dieser Gemeinschaft stellen, das war sie Dumbledore und sich selbst schuldig. Hier wurde sie gebraucht, dringender als anderswo, und hier würde sie ihren Mann stehen, oder ihre Frau besser gesagt. Auf dummes Geschwätz über verfluchte Posten konnte sie dabei keine Rücksicht nehmen. Sie packte entschlossen einige Anti-Obskurantien aus ihrem Koffer aus. Das Feindglas, das ihr ihre Familie zur bestandenen Auroren-Prüfung geschenkt hatte, ein sehr wertvolles Stück. Sie hängte es neben die Tür, so dass sie Feinde, die sich der Tür von außen näherten, schon vorher von ihrem Schreibtisch aus würde sehen können. Einige neblige Gestalten schlichen in großer Entfernung darin herum. Hier war es sicher, im Moment …
Als sie in ihrer neuen Lehrer-Robe zum alljährlichen Festmahl ging, mit dem das Schuljahr offiziell eröffnet wurde, fühlte sie sich gar nicht mehr so unsicher wie bei ihrer Ankunft. Diese Schule war sieben Jahre lang ihr zu Hause gewesen. Sie würde es wieder sein. Sie freute sich richtiggehend auf die neuen Aufgaben. Zum ersten Mal betrat sie die große Halle als Lehrerin und schritt auf das Podest zu, auf dem der Tisch für das Personal stand. Ein erhebendes Gefühl. Es wimmelte schon vor Schülern, Lehrern und Geistern hier. Die Auswahl-Zeremonie wurde gerade vorbereitet. McGonagall war nicht da und sie wusste nicht genau, auf welchen Platz sie sich setzen sollte. Aber Flitwick, der neue Stellvertreter der Schulleiterin und dienstältester Lehrer in Hogwarts, war da und begrüßte sie freudestrahlend. Er rutschte aufgeregt von seinem extra hohen Stuhl, trippelte auf sie zu und reichte seine Hände zu ihr herauf.
„Miss Blanchâme, guten Abend. Wie ich mich freue, Sie wieder zu sehen. Sie waren eine meiner begabtesten Schülerinnen! Und nun darf ich Sie als Kollegin hier begrüßen. Was für ein schöner Tag!" Sie bekam einen Kloß in den Hals von soviel aufríchtiger Begeisterung. „Professor Flitwick!", sagte sie, nachdem sie sich geräuspert hatte, „Ich freue mich auch, Sie wieder zu sehen. Es ist schön, wieder in Hogwarts zu sein."
Sie begrüßte auch die anderen anwesenden Lehrer nacheinander und tauschte ein paar Höflichkeiten mit Sprout und Sinistra aus. Alle schienen sich zu freuen, dass sie hier war, mit Ausnahme freilich von Filch, der in seinem abgewetzten Frack am anderen Ende des Tisches saß und mit saurer Mine auf seinen Wangen kaute.
„Bitte, setzen Sie sich dort hin. Dieser Platz ist für Sie bestimmt." Der kleine Mann führte sie zu einem Stuhl auf der rechten Seite des Tisches. Die Plätze zu beiden Seiten ihres Stuhls waren noch frei. Bald jedoch schwebte Professor Trelawney herbei und setzte sich zu ihrer Linken. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie hatte diese überdrehte alte Eule nie besonders leiden können, die ständig über die Bedeutung des Sternbilds Ursa Major salbaderte, sobald sie Calistos Namen hörte. Sie hatte die Geschichte schon so oft im Unterricht wiederholt, dass ihre Klassenkameraden sie nur noch Ursa nannten. Das hatte sie nicht ausstehen können.
Mit Schrecken wurde ihr auf einmal bewusst, dass sie auch für die Sicherheit dieser Frau würde zuständig sein. Sie würde sie sogar besonders gut beschützen müssen, denn sie war gefährdeter als andere, seit sie diese unselige Prophezeiung über Harry Potter und den Dunklen Lord gemacht hatte. Dumbledore hatte alles darangesetzt, sie hier in Hogwarts zu behalten, um sie zu schützen und die Prophezeiung geheim zu halten, trotz ihrer unterirdischen Leistungen als Lehrerin für Wahrsagen.
Nach und nach füllten sich die Ränge. Professor McGonagall kam herein, und mit ihr kam eine Gestalt, die ganz in einen dunklen, weichfließenden Kapuzenumhang gehüllt war. Seltsamerweise nahm der Begleiter die Kapuze nicht ab, als er den Raum betrat, sondern folgte der Schulleiterin verhüllt bis auf das Podium. Er wirkte gespenstisch, so ohne Gesicht. Selbst seine Hände hatte er in den Ärmeln versteckt. Seine geschmeidigen Bewegungen strahlten eine gewisse Selbstsicherheit und Gelassenheit aus, als würde er hier täglich ein- und ausgehen. Das irritierte sie ein wenig. McGonagall wies ihm den Platz rechts von Calisto zu. Sie konnte nicht anders, als ihn zu beobachten, als er die Hände entblößte, um den Stuhl vorzuziehen. Sie waren schneeweiß, schlank und langfingrig. Die Nägel schimmerten intensiv rosa und unter der Haut konnte man das Netzwerk seiner bläulichen Venen sehen.
Als er sich gesetzt hatte, sagte Minerva: „Hier ist Ihre neue Kollegin, Calisto Blanchâme, die Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Für sie ist es auch der erste Tag in ihrem neuen Amt. Ich hoffe, Sie werden sich gut verstehen."
An Calisto gewandt sagte sie: „Dies ist Albico Myotis, der neue Zaubertränke-Lehrer." Damit ging sie, um sich der neuen Erstklässler anzunehmen.
Der Fremde setzte nun endlich die Kapuze ab, während er sich zu ihr umwandte und ihr die Hand reichte. Sie nahm sie mechanisch und war überrascht, dass sie warm war. Bei dieser Farbe hatte sie die Assoziation gehabt, sie müsse kalt wie Marmor sein. Aber das war sie nicht. Im Gegenteil. Sie war wärmer als ihre eigene und bildete einen erstaunlichen Kontrast zu ihrer schwarzen Hand.
Beim Anblick seines Gesichts blieb ihr beinahe der Mund offen stehen. Er war schön. Schön und seltsam zugleich. Sie hatte gewusst, was sie erwartete und war trotzdem gleichermaßen schockiert und fasziniert von diesen grauen Augen, deren Inneres dunkelrot schimmerte. Sein Gesicht war genauso weiß wie seine Hände, wenn auch weniger transparent. Lediglich auf den hohen Wangenknochen schimmerte es rosig. Haare, Augenbrauen und Wimpern waren weißblond, so dass das Auge des Betrachters verzweifelt nach Konturen suchte und sie erst bei seinen Lippen fand, die sinnlich geschwungen waren und durch den Kontrast mit der weißen Haut intensiv rot wirkten, als wären sie geschminkt. Sie lächelten nun, auf eine leicht spöttische Weise, und ihr wurde in diesem Moment klar, dass sie ihn anstarrte und seine Hand immer noch festhielt. Wie außerordentlich peinlich.
„Äh...hatten Sie eine angenehme Reise, Mr. Myotis?", versuchte sie die Verlegenheit zu überspielen.
„Nun ja, sie war...interessant", versetzte er mit einer leisen, aber gefährlich deutlichen Stimme. Dabei wurde sein Lächeln noch eine Spur breiter, sodass Calisto leicht errötete.
„Interessant? Ist etwas passiert?", versuchte sie es erneut.
„Nein. Ich habe nur die Landschaft bewundert. Sie ist eindrucksvoll."
„Ja, das ist sie wirklich", erwiderte sie verträumt und bekam gleich darauf einen weiteren Schub von Nervosität, als sie sah, dass er sie immer noch mit jenem spöttischen Blick musterte.
„Mögen Sie Schottland auch so wie ich? Ich komme fast jedes Jahr hierher."
„Ich war lange Zeit nicht in Großbritannien." Endlich ließ sein Lächeln nach, aber der bohrende Blick der rotschimmernden Augen blieb.
„Woher kommen Sie denn?", fragte sie und schalte sich im Stillen wegen dieser unhöflichen Frage.
„Ich lebe mal hier, mal dort."
Das war ungenau oder besser gesagt total nichtssagend. Und eben diese Antwort löste ihren Instinkt wieder aus. Vorsichtig tastete sie sich weiter. Zunächst mit einer unverfänglichen Frage.
„Waren Sie auch Schüler auf dieser Schule?"
„Nein". Seine Stimme nahm einen leicht gelangweilten und höflich distanzierten Ton an.
„Eine andere Schule?"
„Privatunterricht."
Oh Gott, ein Snob, dachte sie und plötzlich verging die Nervosität. Er war für sie nicht mehr als ein arroganter, verzogener Schönling. Mehr aus Höflichkeit führte sie die Konversation fort.
„Dann kennen Sie ja gar nicht das Einführungszeremoniell für die Erstklässler?"
„Nein."
Langsam begann seine Einsilbigkeit sie zu nerven.
„Sie treten einzeln nach vorn und bekommen den sprechenden Hut auf den Kopf gesetzt..."
„Den was?", fragte er belustigt und wohl deshalb auch mit einigem Interesse.
„Den sprechenden Hut, ein alter Hut, der Godric Gryffindor gehört hat. Die vier Gründer der Schule gaben ihm einen Teil ihres kolossalen Verstandes und jetzt entscheidet er, in welches Haus die Kinder gehen. Gryffindor, Slytherin, Ravenclaw oder Hufflepuff."
"Nach welchen Kriterien entscheidet er?", fragte der Albino. Sein Interesse schien geweckt.
„Nach dem Charakter der Kinder. Er sieht ihnen direkt ins Herz und ordnet sie den Häusern zu, wo ihre Stärken gefördert werden. Die Gryffindors gelten als großmütig und tapfer, die Slytherins als listig, aber auch sehr loyal zu ihresgleichen, die Ravenclaws sind sehr klug und die Hufflepuffs treu und hilfsbereit."
„Ist es nicht Unfug, einem Hut entscheiden zu lassen wie sich Kinder entwickeln."
„Wie gesagt, er besitzt den Verstand der Gründer und..."
„Das ist doch Schubladendenken, was hier durchgeführt wird. Die Kinder werden einfach in ein Haus gesteckt und können sich doch nur nach den dortigen Idolen ausrichten."
„Ich denke, der Hut weiß sehr genau, was er tut."
„Sie werden mit Meinungen konfrontiert und nehmen diese zwangsweise an."
Sie merkte, dass er sie nur provozieren wollte, aber sie ging trotzdem auf ihn ein, weil seine Vorurteile zu den Regeln der Schule sie kränkten. Sie war schließlich damit groß geworden. Und ihrer Meinung nach war es die beste Möglichkeit, junge Menschen auszubilden.
„Aber mit 11 sind es doch keine Kinder mehr. Sie können sehr wohl selbst entscheiden, wie sie leben wollen und sind nicht willenlos."
„Sie sind noch nicht mal in der Pubertät oder gerade drin. Ihre Gedanken sind noch völlig ungeordnet!"
„Deshalb kommen sie ja in die Häuser. Unter ihresgleichen lernen sie, was wichtig ist im Leben."
„Unter diesen Umständen eine ziemlich einseitige Methode."
Langsam wurde sie wütend.
„Denken Sie, dass bei Ihrem Privatunterricht der Blickwinkel so vielseitig war?"
„Ich habe Fakten vermittelt bekommen. Die Meinung dazu habe ich mir selbst gebildet."
Hier musste sie nun ungläubig lächeln.
„Die wertefreie Vermittlung von Fakten ist meiner Meinung nach eine Illusion. Die Faktenauswahl selbst ist doch schon eine gewisse Bewertung."
„Die Faktenauswahl war sehr vielfältig und unterschiedlich."
„Trotzdem, ihr Lehrer wird seinen Standpunkt haben und Sie sind ja nicht mit anderen in Kontakt..."
„In welchem Haus waren Sie denn?", unterbrach er sie das zweite Mal.
„Interessiert Sie das wirklich?", fragte sie jetzt schon leicht gereizt. Sie konnte es nicht leiden, wenn man ihr während einer Ausführung ins Wort fiel.
„In Gryffindor!"
„Eine Kämpferin!"; sagte er mit geringschätzigem Unterton und lehnte sich zurück, so als sei das Grund genug, ihre Gründe nicht als solche anzusehen.
‚So ein arroganter Schnösel', dachte sie wütend, setzte jedoch ein gleichgültiges Gesicht auf, denn sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass er es geschafft hatte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann begann sie, sich über sich selbst zu ärgern, denn ihr wurde klar, dass sie sich hatte provozieren lassen. Sie schluckte den Zorn hinunter und antwortete kühl:
„Eine Kämpferin, ja. Es gibt eine Menge Dinge im Leben, für die es sich zu kämpfen lohnt."
Sie hatte nicht die geringste Lust darauf, dieses Gespräch mit ihm fortzuführen. Zu ihrer Erleichterung musste sie es auch nicht, denn in diesem Moment kam Professor McGonagall mit dem dreibeinigen Hocker und dem Sprechenden Hut zurück in den Saal und bat um Ruhe. Hinter ihr trippelten schüchtern die neuen Schüler herein, ordentlich in Reih und Glied.
Es fiel ihr auf, dass es deutlich weniger waren als sonst. Normalerweise waren es jedes Jahr um die vierzig neue Schüler. Heute waren es gerade mal vierundzwanzig. Sie würden wahrscheinlich alle zusammen unterrichtet werden, aber das war auch gut so, denn es fehlten auch einige Lehrer, so dass manche der Gebliebenen andere Fächer mit übernehmen mussten. Auch an den Haustischen hatten sich die Reihen deutlich gelichtet, etliche Plätze waren unbesetzt.
McGonagall setzte den Hut auf den Hocker, und er begann, sein neues Lied zu singen. Wie üblich erklärte der Hut mit seinem Lied, wie es zu den Auswahlkriterien gekommen war, welche Charaktereigenschaften jeder der Hausgründer bevorzugt hatte und mahnte auch in diesem Jahr wieder zu Einigkeit und Zusammenhalt untereinander.
Calisto warf einen verstohlenen Blick auf den Mann neben sich. Er hatte die Brauen erhoben und lauschte mit einer aufgesetzt gelangweilten Mine dem Gesang des Hutes.
Danach las die Schulleiterin die Namen der neuen Schüler einzeln vor, der oder die Betreffende trat vor, nahm den Hut und setzte ihn sich auf den Kopf. Der Hut brauchte meist nicht lange, um das betreffende Haus auszurufen, und die Neuen wurden von ihren Hausgenossen stürmisch jubelnd empfangen.
Wieder schielte sie zu Albico hinüber. Doch, sie konnte einen Hauch von Neid entdecken, als er die Kinder beobachtete, wie sie von ihren Mitschülern freudig in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Sein Mund verriet ihn, der leicht zuckte. Aber es war nicht dieses verächtliche Hochziehen der Mundwinkel, sondern eher ein leichtes Zusammenpressen der Lippen mit einer Spur von Bitterkeit.
Ja, er wäre gerne ein Teil dieser Gemeinschaft gewesen, dachte sie. So sehr er jetzt auch seine eigene Ausbildung hervorhob, er konnte es nicht leugnen, dass ihm Gleichaltrige gefehlt hatten in seiner Jugend. Es musste wirklich eine traurige und einsame Zeit gewesen sein. Er hatte auf diese wichtige und schöne Erfahrung verzichten müssen, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Nie hatte er sich mit anderen austauschen können.
Er tat ihr auf einmal Leid. So sehr, dass sie ihm instinktiv tröstend die linke Hand streichelte. Er wandte langsam den Kopf und sah sie ungläubig an. In dem Moment wurde ihr bewusst, was sie da tat, und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Sie spürte, wie ihre Ohren heiß wurden und zog die Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Wieder einmal dankte sie Gott dafür, dass ihre Haut so dunkel war, denn sonst würde ihr Gesicht jetzt sicher in Signalrot erstrahlen. Interessanterweise färbten sich seine Wangen ein klein wenig roter ein. Er schob seine Hände zurück in die Ärmel, um weiteren derartigen Übergriffen vorzubeugen. Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt.
Die Zeremonie fand ein Ende, die Schüler saßen nun alle an ihren Haustischen. Mr. Filch brachte den Hut und den Hocker zurück ins Büro der Direktorin und McGonagall hielt ihre erste offizielle Begrüßungsrede. Sie hieß alle Schüler herzlich willkommen und stellte auch das Lehrpersonal und insbesondere die beiden neuen Kollegen vor. Als Calisto vorgestellt wurde, sah sie einige der ältesten Schüler die Köpfe zusammenstecken, besonders am Gryffindor-Tisch, die sich noch an ihren Namen erinnern konnten. Sie stand kurz auf und lächelte ihren neuen Schülern freundlich zu.
Als ihr Nachbar vorgestellt wurde, verstummte das Gemurmel schlagartig. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als Albico aufstand und der Schülerschar mit einem kurzen Kopfnicken seinen Gruß erbot. Sein Gesicht war wieder betont ausdruckslos, was Calisto vermuten ließ, dass er diese Reaktion von den Menschen gewöhnt war und nicht besonders schätzte. Es war eine Fassade, die er errichtet hatte, um seine wahren Gefühle nicht preisgeben zu müssen. Es musste ihn unendlich anöden, die ewig gleiche Reaktion seiner Mitmenschen auf sein Erscheinungsbild hinzunehmen. Lässig nahm er wieder Platz und tat so, als wäre nichts gewesen.
Professor McGonagall erläuterte noch ein paar wichtige Schulregeln, ermahnte die Schüler, genau wie Dumbledore es jedes Jahr getan hatte, dem Verbotenen Wald fernzubleiben und wies auch auf ein paar zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen hin. Sie rief zu Geschlossenheit und Einvernehmen in der Schüler- und Lehrerschaft, auch zwischen den Häusern, auf. Der Quidditch-Pokal würde in diesem Jahr zur Bestürzung vieler Schüler nicht ausgetragen werden, da diese Spiele die Zwistigkeiten zwischen den Häusern oft verschärften. Ebenso waren die Ausflüge nach Hogsmeade gestrichen worden. Sicherheitstrolle patrouillierten rund um die Uhr um das Gelände und man tat gut daran, ihnen nicht in die Quere zu kommen.
Als letztes forderte die Schulleiterin alle Schüler zu besonderer Fürsorge und Wachsamkeit untereinander auf, um etwaige Opfer des Imperius-Fluches sofort ausmachen zu können und spornte sie zu fleißigem Lernen an, da nur höchste Leistungen das Ministerium davon überzeugen konnten, das Weiterbetreiben der Schule zu genehmigen.
Nachdem sie geendet hatte, erschienen auf den Tischen wie gewohnt eine Vielzahl köstlicher Speisen und Getränke, die von den Hauselfen in der riesigen Küche unterhalb des Großen Saals zubereitet worden waren. Obwohl die Qualität des Essens nichts zu Wünschen ließ, war die Stimmung weit weniger fröhlich als in früheren Jahren. Nun, die Situation war wohl auch lange nicht mehr so ernst gewesen.
Calisto freute sich auf das Essen und sie wagte nun auch wieder einen Blick nach rechts. Ihr Tischnachbar begutachtete den Küchenservice mit dem gebührenden Respekt, wie sie mit Genugtuung feststellte. Wenigstens etwas.
Die Hauselfen hatten sich wieder einmal selbst übertroffen. Es gab verschiedene Suppen, Fleischgerichte, geräucherten Fisch, knuspriges Brot mit verschiedenen raffinierten Aufstrichen, Pasteten und Gemüsebeilagen, rahmige Soßen, für jeden Geschmack schien etwas dabei zu sein. Auf den Haustischen standen verschiedene Säfte und Tees bereit, am Lehrertisch wurde Wein, Ale und Wasser geboten. Tatsächlich schien Albico ein wenig aufzutauen während des Essens. Es schmeckte ihm offensichtlich, und sie stellte überrascht fest, dass er ihre Vorliebe für Kressesuppe teilte, sie beide eröffneten ihre Mahlzeit damit. Sie griffen gleichzeitig nach dem Brot und berührten sich dabei wieder flüchtig, jedoch war seine Reaktion weit weniger allergisch als noch vorhin. Er schien es nicht weiter zu beachten und sie war erleichtert darüber.
Nachdem alle den Hauptgang beendet hatten, erschien eine Auswahl leckerer Desserts auf den Tischen. Sie wählte eine cremige Quarkspeise mit exotischen Früchten, während er tatsächlich nach der Mousse au Chocolat griff. Sie musste innerlich grinsen, als sie den Vergleich zwischen ihren gewählten Nachspeisen zog. Sie genoss die weiße, säuerlich-herbe Creme, während er den bittersüßen dunkelbraunen Schaum löffelte. Sie würden einander noch zu schätzen lernen, da war sie sich sicher.
Nachdem er sein Dessert aufgegessen hatte, wurde Albico unruhig. Er hatte keine Lust, länger an diesem Tisch zu sitzen, die vielen Menschen im Saal machten ihn nervös. Er schob seinen Stuhl zurück und wollte gerade aufstehen, da bemerkte er den Blick von Professor McGonagall. Mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem ziemlich strengen Blick signalisierte sie ihm, dass es höchst unhöflich von ihm wäre, jetzt schon zu gehen. Er hatte diesen Blick sofort richtig gedeutet und rutschte mitsamt dem Stuhl wieder zur Tafel zurück.
Calisto sah es und musste unwillkürlich grinsen. Sie konzentrierte sich jedoch gleich wieder darauf, ernst dreinzuschauen, denn sie wollte ihn nicht sehen lassen, dass sie die Begebenheit höchst amüsant fand. Es war doch zu schön, wie ihre alte Lehrerin mit ihrer Mimik selbst so einen Mister Obercool im Griff hatte.
Er saß nun neben ihr und wusste nicht, was er machen sollte. Diese Feier langweilte ihn. Er hatte noch nie verstanden, was die Leute an gemeinsamen Essen schätzten. Für ihn war es eine bloße Notwendigkeit und er verschwendete selten viel Zeit dafür. Jetzt war er allerdings gezwungen sitzen zubleiben und damit er die anderen nicht anstarren musste, wie sie ihre Nachspeisen mehr oder weniger galant hinterschaufelten, wandte er sich an Calisto und setze ein einigermaßen freundlichen Lächeln auf.
„Sie könnten mir ein bisschen was über die Schule erzählen", schlug er vor.
Calisto saß da und genoss ein wenig sein Dilemma. Sie merkte ihm deutlich an, dass es ihm schwer fiel, sitzen zu bleiben. Nun, vorhin hatte er sie abgebügelt, als sie ihm etwas über die Schule hatte erzählen wollen.
„Könnte ich wohl", entgegnete sie betont lässig und schaute ebenso gelangweilt wie er vorhin. ‚Will ich aber nicht', setzte sie gedanklich hinzu. Er wartete einen Moment, aber sie schwieg beharrlich, was ihm einen kleinen zornigen Stick versetzte. Er riss sich jedoch zusammen und lächelte tapfer weiter.
„Das Schloss ist so groß. Ich werde mich bestimmt verlaufen, und dann müssen Sie mich suchen gehen …", versuchte er es mit Humor.
„Das wäre wahrlich ein großer Verlust!", antwortete sie ätzend und sah ihn spöttisch an.
Sie hatte es aufs Kratzen angelegt. Jetzt musste er sich eine neue Strategie zulegen. Er beugte sich etwas zu ihr hin und raunte ihr spöttisch ins Ohr: „Wenn Sie nicht mit mir reden wollen, dann müssen Sie wohl oder übel mit dieser Dame da...", er deutete auf Professor Trelawney, die in ihrem Hemd mit den weiten Ärmeln wie eine Fledermaus aussah, „...unterhalten und das wollten sie doch vorhin vermeiden indem Sie mich angesprochen haben."
Sie nahm sich vor, mehr an ihrer Okklumentik zu arbeiten. Wenn sogar er es bemerkt hatte, dass sie Trelawney nicht ausstehen konnte …
„Nein. Ich wollte Sie kennenlernen", antwortete sie kühl.
„Dann haben Sie jetzt die Gelegenheit dazu", erwiderte er.
„Werden Sie mir denn diesmal antworten?", fragte sie skeptisch. Sie hatte keine Lust auf weitere „Frage – einsilbige und nichtssagende Antwort – Spielchen".
„Wir könnten auch von Ihnen reden", schlug er vor. Dabei wurde seine Stimme einen Ton weicher und er legte ein samtiges Lächeln auf, das sie beinah dazu gebracht hätte, ihm zu verzeihen.
„Wenn Sie Schülerin hier waren, dann müssen Sie Albus Dumbledore gekannt haben." Der Satz kam vollkommen unvermittelt und traf sie hart.
Einen Moment lang war sie sprachlos über diese Taktlosigkeit.
„Ja, natürlich habe ich ihn gekannt. Gut sogar", sagte sie leise. „Er war der großartigste und gütigste Mensch, den ich je gekannt habe." Bei der Erinnerung an Dumbledore stiegen ihr, ohne dass sie es verhindern konnte, Tränen in die Augen, doch sie blinzelte sie fort.
Er schien es nicht zu bemerken, denn er setzte nach: „Man sagt, er sei der einzige Zauberer gewesen, der dem Dunklen Lord an Macht und Kompetenz ebenbürtig war. Denken Sie das auch?" Er sagte es so nebenhin, als ob er über das Wetter spräche. Es schnürte ihr die Kehle zu. Mühsam schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter.
„Für Sie mag es nichts bedeuten, aber mir war er wie ein Vater. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust für mich und die ganze Zaubererschaft."
Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle trieb er seinen Disput voran: „Wie konnte es dann geschehen, dass ein Junge, ein Schüler, ihn so hinters Licht geführt hat und einer, den er seinen Freund nannte, ihn jahrelang täuschen und schließlich töten konnte?" Er schien emotional völlig unbeteiligt, mehr interessiert an dieser Frage, als an der daraus resultierenden Katastrophe.
„Warum fragen Sie mich das?" Sie sah ihm ins Gesicht. Eine Träne rollte jetzt ungehindert ihre Wange hinunter und fiel auf ihre Robe. Was war das nur für ein Mensch vor ihr? Hatte er denn einen Stein in der Brust? Er schien überrascht.
Sie hielt es nicht mehr aus. Sie stand auf und ging hinaus, ohne ein weiteres Wort. Das Gemurmel an den Haustischen nahm an Lautstärke zu, als sie mit wehendem Umhang zur Tür eilte. Professor McGonagall und die anderen Lehrer hatten zwar von dem Gespräch nichts mitbekommen, wohl aber das Ergebnis. Die Schulleiterin warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Mit einem innerlichen Seufzer erhob er sich rasch und folgte ihr. Die Stille, die eintrat, als er an den Schülern vorbeizog, ignorierte er wie üblich.
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