Radames Schiffe waren bereits 7 Tage unterwegs und noch immer quälten ihn Gewissensbisse ob er den Handel mit der Königin doch lieber abschlagen sollte. Den Gedanken einfach so zu tun, als hätte er in Nubien keinen Knaben in dem genannten Alter gefunden, hatte er gleich wieder auf Eis gelegt. Kinder gab es genügend in Nubien, aber es fiel ihm auch keine andere Ausrede ein.
Stundenlang stand Radames an Deck und schaute auf das ruhige Wasser des Nils. Der Wind ging nur dürftig und so mussten die Truppen immer wieder zum Ruder greifen, um ihren Zeitplan einzuhalten...
In den frühen Morgenstunden des 8. Tages nach ihrem Aufbruch kamen die Schiffe an der letzten ägyptischen Siedlung vor Nubien an. Hier war ihr Standpunkt für die nächsten Tage. Von hier aus würden sie die nächstliegende nubische Stadt erobern und in Besitz nehmen. Viele Nubier würden getötet werden, viele würden versklavt werden. Radames wusste genau, das viele seiner Leute auch die Frauen schändeten, doch was er nicht sah, verschwieg er. Sein Befehl lautete immer, die Mütter mit den Kindern in Ruhe zu lassen und seine Leute hatten immer auf ihn gehört.
„Wollen sie die Siedlung sofort angreifen? Berichten zu urteilen, sind schon viele Nubier geflohen!" sagte einer der Soldaten zu Radames.
„Ja ... wir greifen sofort an. Mein Vater hat mir den Auftrag gegeben, soviel Siedlungen wie möglich zu erobern! ... Bis wir den nubischen König gefangen nehmen können, wird noch eine lange Zeit vergehen! ... Die ersten Trupps sollen gleich los ziehen um die Umgebung zu begutachten!" antwortete Radames.
„Wie ihr befiehlt!"
Der Soldat verließ Radames wieder.
Radames fühlte sich irgendwie wichtig in seiner neuen Stellung. Und er wusste, wenn er erst einmal oberster Heerführer war, hatte er noch mehr Rechte, als alle anderen der Soldaten, und genau dahin wollte er.
Er war gerne mit den Truppen unterwegs, denn hier draußen in der Wildnis konnte er sich behaupten und zeigen, wer er war und was er konnte.
Nubien war ein sehr grünes Land. Am Nilufer wuchsen unzählige Dattelpalmen und das Flussschilf wuchs höher als woanders. So konnten sich die Soldaten gut verstecken und die Umgebung untersuchen.
Als der Abend anbrach kamen die Soldaten zurück.
Radames saß in einem Zelt und schaute sich die Pläne an, als sein Vorsteher dazukam.
„Radames? Die Soldaten sind zurück!" sagte er.
„Sehr schön, ... was konnten sie herausfinden?"
„In der Siedlung befinden sich ungefähr 120 Nubier, darunter ca. 40 Frauen und 10 Kinder, es sind hauptsächlich Bauern und Waschfrauen. Große Beute werden wir dort nicht machen!"
„Trotzdem wird die Siedlung morgen früh nach Sonnenaufgang angegriffen. Versucht gute Sklaven zu machen, aber ... lasst nach wie vor die Mütter mit ihren Kindern in Ruhe!"
„Wie du verlangst, Radames!"
„Gut, du kannst dann gehen!"
Der Vorsteher nickte und verließ wieder das Zelt.
Radames schaute ihm hinterher und setzte sich dann seufzend auf sein Feldbett.
„Ich kann das einfach nicht, ... den Auftrag: „Bringt mir einen Knaben mit!" wird jedem komisch vorkommen. Ich kann das niemanden sagen!" ...
Am nächsten Morgen geschah dann alles, so wie Radames es befohlen hatte. Die Soldaten streuten aus und griffen die nubische Siedlung mit Pfeil und Bogen an. Die Nubier versuchten sich gegen die Angreifer zu wehren. Es gab einen schrecklichen Kampf in den frühen Morgenstunden, doch die Ägypter waren deutlich überlegen... Zwei Stunden nach dem Abschuss des ersten Pfeils war die Siedlung erobert. Die Ägypter hatten einige Nubier gefangen genommen und auch obwohl sie nicht damit gerechte hatten, haben sie viel Gold und Edelsteine gefunden. Radames war sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis und schrieb alles genau auf einigen Papyrusrollen auf...
So vergingen auch die nächsten Tage. Radames führte die Truppen von einem Sieg in den Nächsten und schon bald waren die Schiffe zum barsten beladen mit Beute, die aus Gold, Silber und feinsten Stoffen bestanden. Auch etliche Gefangene wurden gemacht, Frauen und Männer, die in Ägypten als Sklaven dienen würden.
Am Tag ihrer Abreise stand Radames wieder am Deck und schaute sich den Sonnenuntergang an. Sie waren alle erfolgreich gewesen. Nur er hatte versagt, denn das Versprechen, das er der Königin gegeben hatte, konnte er noch nicht erfüllen. Nachdenklich stand er auf seinem Schiff und dachte an Amneris, als seine Aufmerksam plötzlich auf die andere Flussseite gelenkt wurde. Da war er. Ein kleiner Junge von ca. 10 Jahre. Er stand halb im Wasser und schien die Ägypter nicht wahr zunehmen, sondern war mehr daran interessiert, Fische mit der Hand zu fangen. Radames amüsierte sich über den Jungen, doch er sah auch, das er sehr geschickt darin war, die Fische zu fangen. Es schien ihm unendlichen Spaß zumachen. Und dann fielen Radames wieder die Worte der Königin ein: „Er soll geschickt, klug und in seinem zarten Alter schon hübsch sein!"
„Setaou!" rief Radames letztendlich.
Sein Vorsteher kam sofort angelaufen.
„Was verlangst du, Radames?" fragte Setaou sofort.
„Siehst du diesen nubischen Jungen dort?"
Radames deutete auf das andere Flussufer. Setaou folgte seinem Blick und nickte.
„Ja!" antwortete er dann.
„Bitte, ... sag den Soldaten, sie mögen mir diesen Jungen bringen. ... Ich will ihn der Königin als Geschenk mitbringen!"
Der Vorsteher schaute verwundert auf Radames. Sonst lauteten seine Befehle immer, die Kinder in Ruhe zu lassen, doch jetzt wollte er diesen Jungen.
„Aber Radames, es ist... !"
„Es ist mein Befehl, ... also führt ihn aus!"
„Wie du verlangst!"
Der Vorsteher drehte sich um und wenig später paddelten zwei Soldaten in einem Boot vorsichtig zu anderen Seite des Flusses.
Radames beobachtete alles mit schwerem Herzen. Der Junge hatte die Soldaten noch nicht bemerkt, die bereits aus ihrem Boot gestiegen waren und sich langsam anpirschten. Plötzlich hörte man eine Männerstimme rufen: „Mereb, Mereb, wo steckst du schon wieder!"
Radames horchte auf. Unmittelbar in der Nähe des Jungen tauchte plötzlich ein stattlicher und groß gebauter Nubier auf. Jetzt ging alles sehr schnell. Die Soldaten erfassten die Lage, genauso wie der Nubier, sofort.
„Mereb! Flieh!" rief der Nubier und im selben Augenblick traf ihn ein Pfeil, der von einen der Soldaten abgeschossen wurde, an der Schulter.
Der Nubier brach zusammen und der Soldat schoss erneut. Diesmal traf der Pfeil den Rücken des Nubiers.
„Vater!" schrie der Junge und er wollte sofort zu ihm laufen, als ihn der zweite Soldat schon gepackt hatte.
Radames biss sich auf die Lippen und das Schauspiel tat ihm in der Seele weh. Der Junge wehrte sich so gut es ging und biss dem Soldaten, der ihn gefasst hatte mehrmals in die Hand, doch damit hatte er keine Chance. Der Nubier versuchte sich aufzuraffen, doch war zu schwach und konnte nur noch zusehen, wie die Ägypter seinen Sohn in Ketten legten und ins Boot schleppte. Er hob die Hand und versuchte etwas zu rufen, bevor er wieder zusammenbrach. In diesem Moment tauchte eine Frau auf. Auch sie schien von höherem Rang zu sein. Sie schrie auf und lief sofort zu dem am bodenliegenden Nubier. Sei weinte und Radames hörte wie sie rief: „Mein Sohn, ... gebt mir meinen Sohn zurück. Nehmt mich anstatt seiner, ... aber ich flehe euch an! Bringt ihn zurück!"
Radames blutete das Herz und er ging unter Deck. Er konnte den Schmerz nicht ertragen und bereute seinen Befehl schrecklich. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke.
„Wie konnte ich sowas nur tun... !" sagte er zu sich. „Denk an Amneris!" sagte ihm sein Gewissen und er seufzte...
Er wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Fluss unterwegs waren, als sein Vorsteher ihn weckte.
„Radames?"
Radames öffnete die Augen.
„Was gibt's?"
„Der Junge macht Ärger!" antwortete Setaou.
„Was meinst du mit, er macht Ärger!"
„Nun, wir haben ihn zu den anderen Sklaven gesperrt und er schreit rum und randaliert! ... Für sein Alter ein ganz schöner Wildfang!"
„Ich werde mit ihm reden! ... aber vorher ... sperrt ihn in einer der Kojen! ... Ich will, das er allein ist, wenn ich dazu komm!"
„Wie du befiehlst!"
Setaou verbeugte sich kurz und verließ Radames Koje wieder.
Radames starrte wieder an die Decke. Irgendwann stand er dann auf und verließ sein Quartier. Er ging zu dem Bereich, wo die Sklaven eingesperrt waren, als ihm der Vorsteher entgegen kam.
„Er ist dort drin!" sagte Setaou und deutete auf eine Tür.
„Danke!"
Radames schob den Riegel weg und öffnete die Tür. Verstohlen schaute er sich im Raum um und sah, das der Junge zusammengekauert an einer Wand saß. Er schien total verstört zu sein und weinte.
Leise betrat Radames den Raum und schloss die Tür hinter sich. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und beobachtete den Jungen. Dieser tat so, als hätte er Radames nicht bemerkt und wimmerte immer noch sehr leise.
„Hey du...!" sagte Radames leise, doch der Junge ignoriert ihn.
Radames stand auf und ging zu einem Tisch, wo eine Schale mit Äpfeln stand. Er nahm einen der Äpfel in die Hand und ging damit zu dem Jungen. Er hockte sich zu ihm herunter.
„Möchtest du einen Apfel? ... Die... sind echt gut!"
Er reichte ihm den Apfel, doch der Junge ignorierte ihn weiter. Er starrte nach wie vor auf den Boden.
„Probier wenigstens!"
Er legte ihm den Apfel vor die Füße, doch der Junge schoss den Apfel wie einen Fußball wieder weg.
„Na ja, ... wenigstens bist du nicht taub!"
Radames stand wieder auf und setzte sich auf seinen Stuhl.
„Mein Name ist Radames... und wie heißt du?"
Der Junge schwieg.
„Ich wollte das da draußen nicht, ... aber, ... ich hatte einen Befehl!"
Der Junge schwieg.
„Na ja, du wirst schon irgendwann mit mir reden müssen! ... Bis dahin nenne ich dich, ... hmm... Sethos!"
„Mereb!" flüsterte der Junge.
„Was?"
„Mein, ... mein Name ist Mereb!"
Radames lächelte.
„Du kannst ja doch sprechen! ... Also Mereb... hast du eine Ahnung, was dein Name bedeutet?"
Mereb schüttelte den Kopf, starrte dabei aber weiter auf den Boden.
„Dein Name bedeutet Traum oder Hoffnung. Ein sehr schöner Name. Hat dir deine Mutter diesen Namen gegeben?"
„Ja...!"
„Sie ist sicherlich eine kluge Frau! ... Möchtest du jetzt einen Apfel?"
Radames hatte einen weiteren Apfel aus der Schale genommen und reichte ihn Mereb.
Jetzt erst schaute Mereb das erstemal auf, und Radames bemerkte jetzt erst seine großen und neugierigen Augen.
„Hier! ... du hast bestimmt Hunger!"
Mereb schaute auf den Apfel, doch machte keine Anstalten, ihn zu nehmen. Also legte Radames den Apfel wieder vor Merebs Füße. Jetzt streckte Mereb die Hand aus, und nahm den Apfel schnell in die Hand. Radames lächelte, wie der kleine Nubier genüsslich den Apfel verzehrte.
„Hier, falls du noch welche möchtest!"
Radames stellte ihm die ganze Schale hin und tatsächlich nahm sich Mereb noch einen zweiten Apfel.
„Und jetzt bist du ein netter junger Mann und bist artig! ... ich komm nachher noch mal wieder und bring dir noch was schönes mit!"
„Was denn?" fragte der Junge vorsichtig.
„Das ist eine Überraschung!"
„Überraschung?"
„Ja! ... Also lieb sein und abwarten!"
Radames stand auf, schaute ein letztes Mal auf Mereb, der ihn mit großen Augen anschaute und verließ den Raum. Draußen musste er sich erst einmal gegen die Wand lehnen. Seine Gewissensbisse plagten ihn. Was hatte er da nur angestellt. Er musste raus an die frische Luft und das tat er auch. Er stellte sich wieder an seinen Platz an Deck und schaute aufs Wasser, doch immer wieder sah er die großen, fast schwarzen unschuldigen Augen von Mereb vor sich. Er verfluchte sich, für das, was er diesem Jungen angetan hatte, denn der Gedanke, was mal aus Mereb werden sollte, raubte ihm den Verstand.
„Ich hoffe wenigstens, dass sein Vater das ganze überleben wird!" sagte Radames zu sich...
Radames stand noch etliche Stunden auf Deck und schaute aufs Wasser oder zum Ufer hin. Es war ruhig und friedlich und nichts schien daran zu erinnern, das Ägypten einen gnadenlosen Krieg gegen Nubien führte.
Als der Himmel bereits mit Sternen bedeckt war und der Mond hoch am Himmel stand, machte Radames sich auf, um sich etwas hinzulegen. Doch vorher wollte er noch mal nach Mereb schauen.
„Eine Überraschung..." murmelte er zu sich. „Was kann einem Jungen in dem Alter gefallen!"
Radames durchwühlte seine ganze Koje, als er plötzlich eine Schachtel, die er bei seinem letzten Feldzug mitgebracht hatte, entdeckte. Er öffnete sie und fand eine Kette und ein Armband aus Leder. Beide Teile hatten jeweils eine längliche rote Perle als Schmuckstück. Eigentlich sollte dies als Geschenk für Amniers dienen.
„Sie bekommt genug!" sagte Radames und verließ das Zimmer.
Dann ging er zu dem Vorratsraum und holte getrocknetes Fleisch, einen Krug Wasser und Brot heraus. Mit all den Sachen ging Radames zu dem Raum, in dem Mereb eingesperrt war. Er schob den Riegel weg und trat ein. Mereb lag zusammengerollt in einer Ecke und schien zu schlafen. Radames seufzte und stellte alles auf den Tisch. Dann nahm er eine Decke und ging damit zu Mereb. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, legte er ihm die Decke über die Schulter. Mereb kuschelte sich sofort in die Decke und schien zu lächeln.
„Danke... Mama...!" sagte Mereb im Schlaf.
Radames schluckte. Vorsichtig strich er Mereb über das schwarze Haar, das aus vielen kleinen Zöpfen bestand.
„Armer Junge...!" sagte Radames dann, stand auf und verließ wieder den Raum.
Er ging wieder zu seiner Koje und legte sich selber ins Bett, doch schlafen konnte er nicht. Seine Gedanken waren bei Mereb, bei dessen Familie und der Frage, was aus dem Kleinen werden würde.
„Nur noch ein Wunder kann ihn vor seiner Zukunft retten!" sagte Radames...
