Mein Hemd ist auch dein Hemd
Harry jagte die Marmortreppe herunter und den Korridor einen Stock tiefer entlang. Gerade hatte er auf der Karte des Rumtreibers gesehen, dass Malfoy sich in einem Jungenklo befand, alleine. Nun ja, die Maulende Myrte war bei ihm, aber sie war ein Geist und zählte deshalb nicht. Da Harry schon das ganze Schuljahr dahinterher war, rauszukriegen, was Malfoy vorhatte, sah er jetzt seine Chance gekommen, in zu belauschen – vielleicht sprach er ja mit dem Geist über seine Pläne. Oder Harry könnte ihn, wenn er herauskam, verfolgen.
Als er das Klo erreicht hatte, legte er sein Ohr an die Tür. Er konnte nichts hören. Ganz leise drückte er die Tür auf. Draco Malfoy stand mit dem Rücken zur Tür, die Hände seitlich an das Waschbecken geklammert, den weißblonden Kopf vornübergebeugt.
„Nicht doch", ertönte die mitleidige Stimme der Maulenden Myrte aus einer der Kabinen. „Nicht doch... sag mir, was dir fehlt... ich kann dir helfen..."
„Keiner kann mir helfen", sagte Malfoy. Sein ganzer Körper bebte. „Ich kann es nicht tun... ich kann nicht... es wird nicht funktionieren... und wenn ich es nicht bald mache... dann will er mich umbringen..."
Und mit einem gewaltigen Schreck, der ihm eiskalt in die Glieder fuhr, wurde Harry bewusst, dass Malfoy weinte – tatsächlich weinte - , Tränen strömten über sein bleiches Gesicht und fielen in das schmutzige Becken.
Trotz des ganzen Hasses der letzten Jahre durchfuhr Harry eine Woge des Mitleids. Plötzlich erinnerte er sich an ein Gespräch mit der Maulenden Myrte ein paar Tage zuvor.
„Er ist sensibel und wird von anderen drangsaliert und fühlt sich einsam und hat niemanden, mit dem er reden kann, und hat keine Angst seine Gefühle zu zeigen und zu weinen!", hatte sie zu ihm und Ron gesagt. Hätten Harry sie mal nicht ausgelacht, sondern gefragt, über wen sie sprach! Nun wusste er es, doch es machte ihn keineswegs glücklicher. Ganz im Gegenteil, ein bisher unbekanntes, doch sehr starkes Gefühl des Mitleids durchströmte ihn. Malfoy und einsam?
Malfoy schluckte und keuchte, und bevor Harry reagieren konnte blickte er hoch in den gesprungenen Spiegel und erschauderte heftig, als er Harry sah, der ihn über seine Schulter anstarrte.
Malfoy wirbelte herum und zog seinen Zauberstab. Instinktiv zückte Harry seinen eigenen.
Malfoys Fluch verfehlte Harry um Zentimeter und ließ die Lampe an der Wand neben ihm zersplittern; Harry warf sich zur Seite, dachte Levicorpus! und schnippte mit seinem Zauberstab, doch Malfoy blockierte den Fluch und hob seinen Zauberstab, um einen weiteren –
„Nein! Nein! Hört auf damit!", kreischte die Maulende Myrte, und ihre Stimme hallte laut durch den gefliesten Raum. „Aufhören! AUFHÖREN!"
Es gab einen lauten Knall und der Abfalleimer hinter Harry explodierte; Harry versuchte einen Beinklammer- Fluch, der an der Wand hinters Malfoys Ohren abprallte und den Spülkasten unter der Maulenden Myrte zerschmetterte, die laut aufschrie und in einem Klo verschwand; Wasser strömte überallhin, und Harry rutschte aus, während Malfoy mit verzerrtem Gesicht schrie:
„Cruc-„
„SECTUMSEMPRA!", brüllte Harry und schwenkte, am Boden liegend, wild seinen Zauberstab.
Blut spritzte aus Malfoys Gesicht und Brust, als wäre er mit einem unsichtbaren Schwert aufgeschlitzt worden. Er taumelte rückwärts und brach mit einem gewaltigen Spritzer auf dem unter Wasser stehenden Boden zusammen, und sein Zauberstab fiel ihm aus der schlaffen rechten Hand.
„Nein -", keuchte Harry. Rutschend und schwankend kam er auf die Beine und stürzte auf Malfoy zu, der jetzt leuchtend scharlachrot im Gesicht war und mit den weißen Händen zittrig über seine blutende Brust tastete.
„Nein – das wollte -"
Harry wusste nicht, was er sagte, er ließ sich neben Malfoy auf die Knie fallen, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag und haltlos zitterte. Er nahm Malfoy Hände, um ihn davon abzuhalten, weiterhin über seine Wunden zu tasten.
„Das... wirst du... büßen", kam leise über Malfoys Lippen, doch Harry nahm es kaum wahr. Er kniete in Malfoys Blut und starrte entsetzt auf das, was er angerichtet hatte.
„Es tut mir leid!", sagte Harry. „Ich wusste doch nicht -"
Malfoys Hände gaben nun keinen Widerstand mehr, und auch sein Gesicht fiel schwach zur Seite. Harry keuchte auf.
„Malfoy!" Sein Verstand setzte wieder ein und er zückte seinen Zauberstab. „Corpum sanatum."
Nach dem dritten Murmeln des Zaubers versiegte der Blutstrom und die offenen Wunden verschlossen sich, doch das Blut blieb und Malfoy rührte sich nicht. Harry packte Malfoy unter die Arme und hievte ihn hoch. Vorsichtig ließ er ihn gegen eine Wand sinken.
„Wach doch auf, Malfoy... Draco", sagte Harry und schüttelte Malfoys Kopf. Seine Haare klebten ihm an der Stirn und hatten sich rot verfärbt. Fast schon zärtlich strich Harry sie beiseite und sah sich dann um.
Er stand auf und drehte einen Wasserhahn auf. Dann schöpfte er mit seiner hohlen Hand Wasser und ging damit zu Malfoy. Das Wasser wusch das Blut aus Malfoys Gesicht, wanderte über seinen Hals und wurde von der blutdurchtränkten und zerrissenen Kleidung aufgesogen.
Malfoy begann zu husten, bespuckte Harry mit Blut und murmelte unverständliche Worte. Harry klopfte ihm auf den Rücken, um ihn zu unterstützen. Plötzlich krallten sich Malfoys Finger in seinen Oberarm und die grauen Augen blitzen ihn an.
„Dafür wirst du in der Hölle landen, Potter!", sagte Malfoy leise.
Harry legte ihm eine Hand auf den Mund. „Sprich lieber nicht. Zu anstrengend."
Malfoys Augenbrauen zogen sich zusammen und er starrte Harry wütend an. Harry brachte ein entschuldigendes Lächeln zustande, bevor er noch wusste, was er tat. Sicher, er hatte Malfoy so zugerichtet, aber Malfoy hatte mit dem Verfluchen angefangen und wollte Harry sogar einen Unverzeihlichen auf den Hals hetzen. Er sollte ihn in den Krankenflügel bringen und dann in den Unterricht gehen.
Doch etwas hielt Harry ab. Er ist sensibel und wird von anderen drangsaliert und fühlt sich einsam und hat niemanden, mit dem er reden kann... Sein Mitleid ließ ihm keine Ruhe. Ich kann es nicht tun... es wird nicht funktionieren... und wenn ich es nicht bald mache... dann will er mich umbringen...
Harry begann langsam, Malfoy zu verstehen. Nicht dessen Kommentare gegen ihn und seine Gehässigkeit (die in diesem Jahr drastisch abgenommen hatten), aber doch seine Motive, Voldemort zu dienen. Er hatte Angst, das war alles. Durch seinen Vater war er verpflichtet, auch ein Todesser zu werden, ein andere Entscheidung würde seinen Tod bedeuten...
Malfoys Kopf sank gegen die Wand und er schloss erschöpft die Augen. Harry nahm seine Hand zurück. Es hinterblieb nur ein merkwürdiges Gefühl auf seiner Handinnenfläche.
„Du brauchst Ruhe", stellte Harry fest. Malfoy öffnete ein Auge und schloss es dann wieder. „Was willst du noch hier, Potter?", fragte er. „Warum lässt du mich nicht in meinem Blut liegen?"
Harry kniff die Augen zusammen und stand dann auf. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. „Ich bringe dich zu deinem Gemeinschaftsraum", sagte Harry. Malfoy deutete ein Kopfschütteln an.
„Nein. Geh und lass mich in Ruhe."
Harry hockte sich wieder vor Malfoy. „Nein, das werde ich nicht."
Er zupfte an Malfoy Hemd, ließ es los und hörte das Klatschen des blutgetränkten Stoffes als es gegen die weiße Haut schlug. „Willst du denn nicht anderes anziehen? Ich bringe dich am besten in den Krankenflügel!"
„Verdammt, Potter", sagte Malfoy und hob seine zitternde Hand, um Harry beim Kragen zu packen.
„Ich bin kein Kind mehr, und ich brauche keine Medizin. Lässt du mich jetzt alleine oder muss ich gewalttätig werden?"
Harry riss sich los, stand auf und ging aus dem Klo. Im Eiltempo, schneller, als er hergekommen war, rannte er zum Gryffindorturm. Glücklicherweise standen die Treppen gut. In seinem Schlafsaal rannte er zu seinem Schrank, schnappte sich sein einziges grünes Hemd und machte auf dem Absatz kehrt. Völlig außer Atem jagte er nach unten, den Korridor entlang und kam schlitternd vor der Klotür zum Stehen. Ein tiefen Atemzug und ein Stoßgebet später stand er drinnen und blickte auf Malfoy herab, der nun mit angezogenen Knien dasaß.
Als Malfoy sah, dass Harry zurück war, blickte er ihn zweifelnd an. „Ist dir noch ein Fluch, den du an mir ausprobieren willst, eingefallen?", fragte er dann höhnisch.
Heftig atmend ließ Harry sich auf die Knie sinken und hielt Malfoy sein Hemd hin. Dieser zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Soll ich mir damit die Nase putzen?"
„Du sollst es anziehen, Malfoy! Oder ist es unter deiner Würde, mein Hemd zu tragen?", stieß Harry hervor.
Die Augenbraue blieb, wo sie war. „Ich traue dir nicht, Potter. Ist das Hemd verflucht?"
Harry stöhnte und legte sich sein Hemd über die Schulter; dann begann er, Malfoys Umhang zu lösen.
„Das geht eindeutig zu weit, Potter!", sagte Malfoy. Harry zog an dem Umhang und hielt ihn in der Hand, er stand auf, schmiss Malfoy sein Hemd zu und drehte sich um. „Zieh dich um, ich versuche, deinen Umhang sauber zu zaubern", sagte er. Konzentriert starrte er auf Malfoys Slytherin Unhang und unterdrückte das unangenehme Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausgebreitet hatte. Als ihm endlich der Zauber einfiel und der Umhang sauber sowie trocken war, drehte er sich wieder um. Malfoy saß unbewegt auf demselben Fleck und blinzelte ihn amüsiert an.
„Der große Potter", spöttelte er. Harry hing den Umhang über ein Spülbecken und verschränkte die Arme.
„Und der ach- so- große Malfoy hat es nicht nötig, Hilfe anzunehmen?"
Draco wich der letzte Rest Farbe aus dem Gesicht. „Potter, wenn du irgendjemandem erzählst, was du gesehen hast -"
Harry hob ausweichend eine Hand. „Nur, wenn du nicht endlich mein Hemd anziehst."
Malfoy knurrte zwar, machte dann aber Anstalten, aufzustehen. Harry sah ihm amüsiert zu und musste sich unerklärlicherweise zurückhalten, um nicht hinzustürzen und ihm aufzuhelfen. Dann beobachtete er, wie Malfoy mit immer noch zittrigen Händen an seinem Hemd rumfummelte, Harrys Hemd behielt er dabei in der Hand.
„Starr mich nicht so an", sagte Malfoy unwirsch. Harry hob seine Augenbrauen.
„Ich glaube kaum, dass du das alleine schaffst."
„Du wärst der Letzte, von dem ich mir helfen lassen würde."
„Damit kann ich leben", sagte Harry, trat auf Malfoy zu und zog ihm das Hemd von den Schultern. Draco lief blassrosa an.
Zu süß, dachte Harry mit einem sarkastischen Grinsen. „Sind wir etwa schüchtern? Das hätte ich nie von dir erwartet, Malfoy!"
„Halt die Klappe", erwiderte Draco, zog sich Harrys Hemd an und begann, es zuzuknöpfen. Seine Hände zitterten zwar nur noch wenig, trotzdem brauchte er ewig für jedes Knopfloch. Harry übernahm die Arbeit für ihn und erst als er fertig war, bemerkte er, was er unnötigerweise getan hatte und lief rot an. In der Hoffnung, dass Malfoy es nicht sah, begutachtete er den Boden.
„Wir sollten dein Blut wegzaubern", sagte er beiläufig und blickte in Dracos grinsendes Gesicht. Draco nickte und ließ seinen Blick über den Boden streifen. Als er gefunden hatte, was er suchte, ging er zu seinem Zauberstab und hob ihn auf. Einen Schwenker später war der Boden gereinigt. Dann zog er sich seinen Umhang an.
Harry hatte Draco nicht aus den Augen gelassen. Jetzt standen sie sich gegenüber und ihre Blicke trafen sich. Draco räusperte sich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu dir sagen würde, aber... danke."
„Gern geschehen. Ich habe dich ja so zugerichtet", sagte Harry.
Draco zog seine Augenbrauen zusammen. „Aber unabsichtlich. Ich wollte dich bewusst foltern", sagte er.
Harry zuckte mit den Schultern, obwohl es ihm überhaupt nicht egal war. Aber er schluckte seinen Ärger herunter, er wollte sich nicht wieder mit Malfoy streiten, wo sie doch gerade einen Schritt in Richtung Versöhnung getan hatten.
„Lass es demnächst einfach."
Draco nickte und rauschte an Harry vorbei. Als er weg war, kam es Harry vor, als löse sich ein Bann von ihm. Er fasste sich an den Kopf und stützte sich an der Wand ab.
Was war denn das jetzt bitte schön? Du hast Draco Malfoy geholfen? Die Situation war so unglaublich, dass Harry meinte, geträumt zu haben. Das zerfetzte Hemd auf dem Boden war der einzige Beweis, dass dem nicht so war. Er hob es auf und ging wie in Trance aus dem Klo, zum Gemeinschaftsraum. „Verwandlungen" konnte er sich jetzt sowieso abschminken. Er ließ sich in einen Sessel fallen und starrte in das Feuer.
Malfoy wollte mich foltern und ich gebe ihm mein bestes Hemd. Aber er war so hilflos, so kenne ich ihn gar nicht. Gedankenversunken spielte er mit dem nassen Hemd. Seine Hände färbten sich rot. Draco hatte geblutet, und es war Harrys Schuld gewesen. Er legte das Hemd vor den Kamin, um es zu trocknen. Ob Malfoy es wieder haben möchte? – Mach dich nicht lächerlich, es ist völlig zerfetzt. – Dann behalte ich es. – Was willst du denn mit Malfoys kaputtem Hemd? – Malfoy riechen, was denn sonst.
Harry schüttelte sich. Nein, natürlich wollte er Malfoy nicht riechen, warum sollte er? Lächerlicher Gedanke. Nach einiger Zeit kamen die ersten Schüler in den Raum und Harry nahm das mittlerweile trockene Hemd schnell an sich. Er presste es an sich und schaute hoch zu Ron, der sich stöhnend in einen Sessel neben ihn setzte.
„Puuh, sei froh, dass du nicht da warst, wir mussten Wecker in Küken verwandeln, Hermine hat es natürlich schnell geschafft und lag mir dann in den Ohren, wie ich es besser machen kann. Das ist ja mal wieder so typisch -"
„Du warst ja auch grauenvoll, Ronald Weasley! Du hättest wenigstens so tun können, als würdest du dich konzentrieren!", sagte Hermine, die angestampft kam. Sie blieb stehen.
„Es fällt mir nun mal schwer, mich zu konzentrieren, wenn eine Besserwisserin an meiner Seite sagt, ich soll den Stab nicht so halten, wie ich es schon seit Jahren tue und jede Silbe anders betonen, als ich das mache!"
„Wenn das nun einmal falsch ist! Harry, was sagst du denn dazu? Wo warst du überhaupt?"
Beide guckten nun Harry an, der bei der direkten Ansprache aus seinen Gedanken aufgeschreckt worden war. Er sah sie fragend an.
„Was? Ja, ja, ihr habt Recht. Ich hatte ein Duell mit Malfoy..."
„Harry! Könnt ihr euch nicht nach dem Unterricht duellieren, wenn das unbedingt sein muss?", beschwerte Hermine sich.
„Nein wisst ihr, es war ganz merkwürdig. Er hat geweint, und als er bemerkt hat, dass ich ihn beobachtete, hat er einen Fluch abgelassen."
„Er hat geweint?", fragte Ron und runzelte die Stirn. „Na ja, was Malfoy traurig macht, sind für uns gute Nachrichten, oder?"
Harry schüttelte den Kopf und Hermine bemerkte das Hemd, welches Harry an sich presste.
„Was ist denn das?", wollte sie wissen.
Harry hielt das Hemd in die Höhe. Ron und Hermine rissen die Augen auf.
„Harry – ein Slytherin Hemd, voll mit Blut? Was hat das zu bedeuten?"
„Das ist Malfoys. Er... Ich habe einen Fluch von dem Halbblutprinz ausprobiert..."
Harry erzählte, was genau passiert ist und musste sich dann eine Standpauke von Hermine anhören. Sie war seit eh und je nicht gut auf den Halbblutprinzen zu sprechen, weil Harry dank dessen Hilfe in Zaubertränke bessere Noten als sie bekam.
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Draco Malfoy war ziemlich verwirrt. Nach außen hin ließ er sich natürlich nichts anmerken, aber in seinem Kopf tobte ein Sturm der Gedanken. Warum war Potter so nett zu ihm gewesen? Wollte er sich mal wieder nur aufspielen? Aber dazu passte nicht dessen Gesichtsausdruck, nachdem er für Draco die Knöpfe geschlossen hatte. Potter hatte ausgesehen, als wäre es ihm peinlich gewesen.
Und warum hast du dich bei Potter bedankt? – Das waren noch die Nachwirkungen von seinem Fluch... – Ach so, deswegen streichst du auch immer wieder über das Hemd, was er dir gegeben hat, der Fluch, versteht sich. – Ich muss mich doch davon überzeugen, dass das alles nicht nur ein schlechter Traum war.
„Draco, willst du noch die Hähnchenkeule?", fragte Goyle und machte eine Geste zu Dracos Teller. Draco schob sie ihm rüber, auch wenn er sich leicht eine aus der Schüssel hätte nehmen können. Draco wusste, dass Goyle es hasste, wenn Essen verschwendet wurde. Dafür war der Hahn ja nicht gestorben, auch wenn Draco sicher war, dass Goyle Vorlieben beim Essen nichts mit seiner Tierliebe zu tun hatten.
Draco schielte zum Gryffindor Tisch. Da saß er, der Goldjunge, und kaute an einer Maisstange herum. Potter fing Dracos Blick auf, aber Draco war unfähig, ein hämisches Grinsen loszulassen. Plötzlich lächelte Potter, und Draco runzelte die Stirn.
Lächle mich nicht an!, befahl er ihm in Gedanken. Harry legte seinen Maiskolben auf den Teller und blickte nun fragend, angesichts Dracos biestigem Blick. Draco verdrehte die Augen. Was erwartete Potter denn? Dass sie jetzt die besten Freunde waren?
Plötzlich fiel Draco ein, dass er sein Hemd in dem Bad liegen gelassen hatte. Es wäre nicht so toll, wenn das jemand fände, schließlich standen seine Initialen darauf.
„Bis später", sagte er zu Crabbe und Goyle. Die beachteten ihn nicht, sie blieben immer länger beim Essen als er. Draco ging aus der großen Halle und die Marmortreppe nach oben. Er überlegte kurz, in welchem Klo sich das Ganze abgespielt hatte und ging dann noch eine Treppe hinauf, den Korridor entlang, und öffnete die quietschende Tür.
Doch sein Hemd lag nicht mehr da. Draco schaute an sich herab. Nein, es war kein Traum gewesen. Potters Hemd befand sich noch an ihm. Er strich darüber und lächelte unbewusst. Hinter sich hörte er ein Quietschen und schnell waren alle Gesichtszüge wieder versteinert. Dann drehte er sich um und wer stand da? Harry Potter natürlich, der Draco anblickte, als wüsste er selber nicht, wie er hergekommen war.
„Was willst du, Potter?", fragte Draco.
„Ich... äh... wollte dir nur sagen, dein Hemd habe ich schon entsorgt", sagte Harry. „Deswegen bist du doch hier, oder"?
Draco kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt auf Harry zu. „Und du wusstest, dass ich hierher kommen will, seit ich vom Tisch aufgestanden bin?"
„Mach dich nicht lächerlich, Malfoy. Ich wollte zum Turm gehen, der fast denselben Weg hat."
„Ist das so?", fragte Draco und trat einen weiteren Schritt auf Harry zu, der ihm nicht auswich. „Ja", sagte Harry bestimmt. „Oder denkst du, ich habe dich verfolgt?"
„Ja, das denke ich, Potter."
„Dann muss ich dich leider enttäuschen. Aber es ehrt mich, dass du gerne von mir verfolgt werden willst."
Draco packte Harry am Kragen und hob ihn hoch. „Sag das noch einmal", forderte er.
„Lieber nicht", meinte Harry und legte seine Hände auf Dracos. „Lass mich runter!"
„Und wenn nicht?", keifte Draco. Harry grinste und begann Dracos Hände zu streicheln. Sofort blickte dieser Harry ungläubig an. „Was wird denn das?"
Das ist ganz und gar ekelhaft! – Natürlich, ja, aber er soll trotzdem nicht aufhören. Draco ließ Harry auf den Boden sinken. Harry umklammerte Dracos Hände, fast ängstlich, sie loslassen zu müssen. Draco wehrte sich nicht, sondern genoss einen Moment das Gefühl des Beschützt- Werdens. Dann riss er sich abrupt los.
„Wehe, du fasst mich noch einmal an, Potter."
„Was dann, Draco?", fragte Harry. Er trat auf Draco zu und legte seine Hände auf Dracos Bauch. „Mein Hemd werde ich aber noch anfassen dürfen, oder?"
Draco fühlte sich durch die Situation überfordert. Noch nie wollte ihn jemand anfassen, ohne ihn zu verletzten. Und dazu noch Potter, dessen Duft ihn plötzlich überdeutlich in die Nase stieg. Draco wich zurück, aber Harry kam unaufhörlich näher. Draco stieß gegen eine Wand und hatte keine Ausweichmöglichkeit mehr. Nicht, dass er noch daran gedacht hätte – etwas übermannte ihn, ergriff Besitz von ihm, was er im Nachhinein nur als Wahnsinn bezeichnen konnte. Im Moment jedoch war ihm alles egal. Er zog Harry so nahe zu sich, dass er dessen Körper an seinem eigenen spüren konnte.
Draco schloss die Augen. Was für ein tolles Gefühl... – Aber es ist Potter... – Wen juckt's! Als Draco die Augen wieder öffnete, erschrak er, weil Harrys Gesicht nun ebenfalls gefährlich nahe gekommen war. Verschleierte grüne Augen blickten Draco an. Draco bewegte seinen Kopf ein Stückchen nach vorne. Seine Lippen ließ er hauchzart an Harrys vorbeigleiten. Harrys Atem streifte Dracos Wangen, genauso wie dessen Lippen. Dann landeten sie auf Dracos. Ganz langsam begannen sie, Draco zu küssen. Reflexartig schloss Draco wieder seine Augen, konzentrierte sich auf die wunderbaren Gefühle, die Harrys Lippen bei ihm verursachten.
Draco erwiderte den Kuss, hielt dabei unbewusst den Atem an. Er wurde mutiger, probierte mit seiner Zunge aus, wie Harrys Lippen schmecken und stieß plötzlich an etwas weiches. Dracos Kopf zuckte erschrocken zurück. Harry blickte ihn fragend und ein wenig enttäuscht an. „Was ist?"
„Das ist vollkommen verrückt, weißt du das?", fragte Draco, dessen Verstand sich kurz meldete.
Harry atmete tief ein. „Das ist mir egal, Draco! Jetzt hör auf zu reden..."
Harry lehnte sich vor und bearbeitete wieder Dracos Lippen. Draco gab nach, war diesmal auf Harrys Zunge vorbereitet und fuhr mit seiner eigenen sanft darüber. Nach einigen Minuten brachen sie ab. Draco stellte fest, dass Harry gerötete Wangen hatte.
„So habe ich dich noch nie lächeln gesehen, weißt du das?", sagte Harry. Draco zuckte mit den Schultern. Er hatte nicht gemerkt, gelächelt zu haben. Irgendetwas stimmte ganz eindeutig nicht mit ihm. „Ich muss zurück, ehe ich vermisst werde", antwortete Draco stattdessen. Harry nickte und stieß sich von Draco weg. Sofort fühlte Draco sich seltsam verlassen und kalt. Doch er ignorierte diese Gefühle geschickt. Na ja, fast. Denn das nächste, was er Harry fragte, war: „Morgen, gleicher Platz, dieselbe Uhrzeit?"
„Ja", sagte Harry. Diesmal war er es, der zuerst aus dem Jungenklo verschwand. Draco blieb zurück, genauso wie Harry früher am Tag. Er war überzeugt, einen schlechten Scherz zu erleben. Noch einige Stunden zuvor hatte er Harry an den Kragen gewollt und jetzt, nun, jetzt wollte er das auch, aber auf eine andere Art und Weise.
Fröhlich und ungewöhnlich leicht machte er sich auf dem Weg zum Kellerverlies. Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper, vor allem, wenn er an den nächsten Tag dachte. Oder an das vergangene Treffen. Oder an Harry überhaupt. Draco hatte das Gefühl, dass ihm wunderschöne Tage bevor standen.
°Ende°
