Kaja lief die letzten Stufen hinunter.
"Na endlich! Da bist du ja! Weißt du, wie spät es ist?" Kaja war außer Atem und ihr nasses
Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht. Sie wusste, dass sie spät dran war, doch sie war
etwas irritiert. Hatte sie tatsächlich so lange gebraucht? Es kam ihr nicht so vor.
"Es tut mir Leid, wirklich!" sagte sie.
"Du weißt, was hier heute los sein wird!" Piper warf ihr einen rügenden Blick zu.
"Schon gut! Mach dich jetzt an die Arbeit!" Sie hatte Kaja vor einigen Wochen als
Unterstützung eingestellt und eigentlich machte sie sich ganz gut, doch in letzter Zeit
war sie oft abwesend und wirkte sehr angespannt. Piper machte sich Sorgen, dass Kaja
die Arbeit nicht mehr schaffen würde. Sie mochte Kaja und Piper konnte es sich im Moment
nicht leisten eine Kraft zu verlieren. Doch genauso wenig konnte sie es sich leisten, ihr ein
paar Tage Ruhe zu gönnen.
"Hast du schlafen können?" fragte Piper und sah Kaja nun mit einem sanften Blick an.
Sie wusste, dass Kaja in letzter Zeit schlecht schlief und dass dies ebenfalls ein Grund für
ihre derzeitige Verfassung war. Kaja schüttelte nur leicht den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit
wieder dem Tresen zu. Sie wollte Piper von ihrem Traum erzählen, der sie seit Tagen verfolgte,
doch sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Sie schätzte Piper sehr, doch sie kannte sie erst
seit ein paar Wochen. Sie wollte sie nicht mit unnötigen Dingen belasten und eigentlich war es absurd.
Der ganze Traum. Sie sah zu Piper, die sie immer noch ansah.
"Es geht mir gut! Mach dir keine Sorgen!" Piper lächelte Kaja an. Sie konnte ihr das nicht ganz glauben,
dennoch ließ sie Kaja ihre Arbeit weiter machen.
Piper ließ ihren Blick durch das P3 schweifen und sah die vielen Gäste. Es lief sehr gut in letzter Zeit.
Eigentlich musste sie zufrieden sein, doch ein gut besuchtes P3 hieß auch, dass sie weniger für
ihre Familie da sein konnte. Für Wyatt. Dieser Gedanke machte sie ein wenig traurig.
"Hey, was ist das für ein betrübter Blick?" fragte Paige vergnügt, die eben mit Phoebe den Club betrat.
Piper sah ihre Schwester an und lächelte schief.
"Ach, es ist nichts! Wie sieht es mit unserem Unglücksraben aus?" Paige sah sich um, als hätte sie dir Frage nicht gehört.
"Paige?"
"Naja, ich hatte einen Spruch, der aber nicht ... wirklich funktioniert hat!" druckste Paige herum
und Phoebe lächelte unschuldig.
"Aber ...!" setzte Paige fort "... ich hab einen Neuen, der sicher funktionieren wird!"
"Wieso funktionieren wird?" Piper war irritiert. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Schwester
dafür sorgte, dass sie Chris so schnell wie möglich von ihrem Missgeschick befreien würde, ehe
sie hier im P3 auftaucht.
"Weil wir den Spruch noch nicht getestet haben. Uns ist irgendwie das ...Versuchskaninchen abhanden gekommen!"
"Chris?"
"Nein, Harvey! Natürlich Chris! Frag mich nicht, wo er ist. Nach dem ersten Versuch ist er verschwunden!"
"Du hast ihn doch nicht ...?" setzte Piper entsetzt zur Frage an, doch wurde von Paige mit einer
beschwichtigenden Handbewegung gestoppt.
"Natürlich nicht! Er wird sicher irgendwo sein. Er will wahrscheinlich nur seine Ruhe haben!"
Irgendwie verständlich dachte sich Piper.
Die Nacht hatte bereits den letzten Winkel der Stadt für sich eingenommen und warf seinen dunklen
Mantel über San Francisco. Weit über den Dächern der Stadt elektrisierten die immer noch zuckenden
Blitze die regendurchtränkte Luft und der Donner grollte unaufhörlich. In der Ferne zog sich die
Golden Gate Bridge majestätisch über die Bucht von San Francisco. Ein dünner, grauer Schleier bahnte
sich kaum merklich seinen Weg über die Brücke und hielt unbeirrt auf die Stadt zu. Wie ein unsichtbarer
Schleier umhüllte er die Menschen in den Straßen, ohne seinen Weg zu unterbrechen. Es schien, als
wäre er auf der Suche und seinem Ziel schon sehr nah. Er erhob sich wieder über die Dächer der Stadt
und zog weiter.
Hoch über den Fahrbahnen der Golden Gate Bridge stand Chris und beobachtete das rege
Treiben unter sich. Die Kapuze seiner Jacke war tief in sein Gesicht gezogen und die Arme
waren vor seiner Brust verschränkt, als würde sie ihn schmerzen. Der Regen prasselte auf ihn herab,
doch er schien nichts zu spüren. Er sah auf und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Wie gern
wäre er so sorglos und nichts ahnend, wie die Menschen auf dieser Welt. Sie hatten keine Vorstellung
davon, was um sie herum geschah, wie nahe das Böse ihnen war und bald auch sein wird. Chris
schloss die Augen. Er musste an die Zukunft dieser Welt denken, seiner Welt, einer Welt, in der das
Böse die Oberhand gewann und es keine Möglichkeit mehr zu geben schien, als tatenlos zuzusehen,
wie das letzte Gute aus der Welt verbannt wurde. Er schluckte bei dem Gedanken, denn er wusste,
wovon er sprach.
Wie oft hatte er miterleben müssen, wie jeder neue Funken Hoffnung im Keim erstickt, wie Unschuldige
getötet wurden, wie sein eigener Bruder Furcht uns Schrecken verbreitete. Selbst er musste schon des
Öfteren am eigenen Leib die Wut und die Macht Wyatts spüren. Und der Gedanke daran schmerzte
ihn immer wieder, riss alte Wunden auf und drohte in Chris die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu
ersticken. Er hatte schon so viel auf sich genommen, hatte alles zurück gelassen, hatte sich das Misstrauen
seiner Familie zugezogen und dennoch gab er nicht auf. Doch er hatte das Gefühl, als kämpfe er gegen
Windmühlen. Er hatte schon so viel getan, so viel unternommen, um die Mächtigen Drei davon zu überzeugen,
dass es keine Zeit zu verschwenden gab, hatte die Schwestern selbst in Gefahr gebracht, nur damit sie
Wyatt vor seiner Zukunft bewahren konnten, um sie zu einem Besseren zu wenden.
Er war wütend. Wütend über die Sorglosigkeit, mit der die Schwestern an die ganze Sache ran gingen,
die Arglosigkeit, mit der sie jeden Tag bestritten. Es hatte ihn zwei Versuche gekostet hier auf der
Golden Gate Bridge Halt zu finden und das verdankte er Paige. Er wollte sie im Moment nicht sehen,
keinen von ihnen und am wenigsten Leo. Er hatte keine Nerven dafür und er würde die Sache ja auch
sicherlich heil überstehen. Es konnte sich ja nur noch um Stunden handeln. Chris fröstelte leicht.
Seine Jacke hatte all den Regen abgefangen, die sie konnte, doch schließlich drang die Feuchtigkeit
unter seine Haut. Er wusste nicht, wie lang er hier schon über San Francisco stand, wie viele Stunden,
doch es war Zeit in sein Zimmer im Club zurückzukehren. Sie werden wohl nicht mehr dort sein und
das störte ihn kein bisschen.
Nadir stand still in einer Ecke der Höhle und beobachtete Cian, wie dieser wütend auf und ab ging.
Ein Feuerball bahnte sich seinen Weg Richtung Nadir, doch er zeigte keine Anstalten in Deckung zu
gehen, als dieser dicht neben ihm mit einem lauten Knall aufschlug. Nadir spürte die Hitze, die von
dem Aufprall ausging und wich mit seinem Kopf etwas auf die Seite. Er wusste, dass Cian wütend
war, sehr wütend, doch es war ihm auch klar, dass er ihm nichts tun würde. Cian brauchte ihn noch,
obwohl sein Vertrauen in Nadir gebrochen war. Er hatte die Urne geöffnet, ohne an die Konsequenzen
zu denken. Seine Neugierde hatte etwas ins Rollen gebracht, dessen Ausmaß noch keiner von ihnen
erahnen konnte. Cian blieb stehen und senkte seinen Blick. Er hatte sich nun schon seit Stunden
abreagiert und sein Zorn auf Nadir hatte sich noch kein bisschen gelegt. Er verzieh ihm nicht, dass er
seinen Plan möglicherweise zu Nichte gemacht hatte, doch er brauchte all seine Kraft, um eine rasche
Lösung zu finden. Er hatte Nadir nur um eine simple Aufgabe gebeten, nichts weiter und die Tatsache,
dass er sich nicht daran hielt, machte ihn wütend. Er hätte sich denken können, dass Nadir nicht in der
Lage sein würde seine Neugierde im Zaum zu halten, doch hielt er ihn nicht für so blöd.
Als Cian das gebrochene Sigel sah, wusste er nicht, ob der Inhalt der Urne verloren war, doch er musste
sich sicher sein, also öffnete er sie selbst vor der geplanten Zeit, doch sie war leer. Der Ruf der alten Macht
war aus der Urne befreit. Cian wusste, dass sie sich auf die Suche gemacht hatte und nur wenn sie IHN finden
würde, würde er selbst erst an sie ran kommen. Doch würde sie heute noch einen finden? Was, wenn nicht?
Er hoffte immer noch, dass es sich hier nicht um die von ihm so heiß ersehnte Urne Sebulons handelte,
doch er konnte sich erst sicher sein, wenn Lucian mit der Zweiter erschien. Als ob er das stille Flehen
Cian's hören konnte, schimmerte Lucian in die Höhle. Er sah zu Nadir, der immer noch still in der Ecke stand
und zu Boden blickte. Er wandte sich Cian zu, der offenbar sein Erscheinen noch nicht registriert hatte.
"Hier bin ich, Cian!" Cian wirbelte herum und seine Augen weiteten sich voll Hoffnung.
"Lucian, bitte sag mir, dass du sie hast. Enttäusche mich nicht, wie Nadir!" Lucian warf einen verwirrten Blick zu Nadir.
"Hattest du mir nicht in Rom erklärt, du wärst ihrem Verbleib schon dicht auf der Spur? War wohl nichts!"
und ein hämisches Lächeln umspielte Lucians Mund. Nadir sah Lucian verächtlich an, doch entgegnete ihm nichts.
"Und ob er ihr auf der Spur war! Er war ihr so dicht auf den Fersen, dass er sie geöffnet und den Ruf der
alten Macht befreit hat. Wir wissen noch nicht einmal, welche Urne er geöffnet hat!" schrie Cian in Richtung Nadir.
Obwohl dies Lucian nicht wirklich überraschen konnte, hob er dennoch erstaunt eine Augenbraue.
"Nadir, du Narr!" gab Lucian verächtlich von sich. Cian wandte seine Aufmerksamkeit hoffnungsvoll wieder
Lucian zu, doch als er sah, dass dieser mit leeren Händen kam, schloss er seine Augen.
"Wo ist sie?" Lucian sah Cian einen Moment lang schweigend an, bevor er antwortete
"Ich konnte sie nicht finden, tut mir leid! Doch ich habe wenigstens ihren Verbleib auf ein kleines
Gebiet einschränken können!" Cian öffnete seine Augen wieder und sah Lucian interessiert an.
"Anhand der Informationen, die ich sammeln konnte, kann ich ihren Verbleib auf diese Stadt einschränken.
Sie ist hier, in San Fransisco. Zeig mir die Urne, die Nadir dir gebracht hat!" Cian nahm die Urne und
reichte sie Lucian. Als dieser die Urne in seinen Händen drehte wurde sein Blick ernst.
Wieder starrte er Nadir an, bevor er sein Wort an Cian richtete.
"Gebannt auf alle Zeit ist hier des Sebulons Macht. Hütet euch, ihr Narren, zu ersehnen was in ihr verborgen!"
Cian wich ein paar Schritte zurück.
"Nein! Oh, nein! Du musst dich irren!" stieß er hervor, doch Lucians Blick änderte sich nicht.
Das konnte doch nicht war sein.
Chris orbte in sein Zimmer im P3 und zog sich seine nasse Kleidung aus. Achtlos warf er sie in eine
Ecke und zog sich etwas Trockenes an. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es eindeutig schon
zu spät war, als dass sich noch eine der drei Schwestern hier aufhalten würde. Der Gedanke beruhigte
ihn, denn so war keine Gefahr, dass eine der Dreien ihm heute noch einen Besuch abstattete.
Er setzte sich auf sein Bett und lehnte sich an die kalte Wand. Er starrte in die Dunkelheit seines
Zimmers und dachte an Leos vorwurfsvolle Worte, die er ihm am Dachboden entgegen warf.
Was konnte er nur damit gemeint haben? Welche Veränderungen? Er konnte keine Veränderung
spüren, oder erkennen. Er konnte sich auch nicht aus seiner Zeit an eine drohende Gefahr erinnern.
Vielleicht war es auch nichts und Leo wollte Chris nur herausfordern, doch Chris konnte selbst nicht
recht daran glauben. Leo mochte ihm vielleicht nicht vertrauen, doch war er bis jetzt immer von dem,
was er sagte, überzeugt, was Chris dazu veranlasste die Sorge der Ältesten ernst zu nehmen.
Chris schloss die Augen. Er war müde und wollte eigentlich im Moment keinen Gedanken mehr
daran verschwenden. Nicht mehr in dieser Nacht. Morgen wieder.
Chris erhob sich wieder von seinem Bett. Er dachte daran, dass das P3 jetzt eigentlich leer war,
bis auf Kaja, die die Spuren des Abends beseitigte. Sie würde ihm sicher noch einen Gute-Nacht-Trunk
geben, bevor sie den Club schloss und nach Hause ging. Er mochte Kaja und er unterhielt sich gerne mit ihr.
Sie war ihm sehr ähnlich, hatte ihre eigenen Geheimnisse, die sie nicht verriet, doch was er am meisten
an ihr mochte war, dass sie ihm keine lästigen Fragen stellte. Sie akzeptierte, dass er ihr vieles von
sich nicht erzählte und hatte offenbar kein Problem damit. Die Tatsache, dass sie nicht über ihn und
die Schwestern Bescheid wusste, gab ihm die Möglichkeit sich auch einmal über andere Dinge zu unterhalten,
ohne Wyatts und ihrer aller Zukunft ins Spiel zu bringen. Eigentlich wusste er von Kaja genauso wenig,
wie sie von ihm und trotzdem hatte sich eine vertraute Freundschaft zwischen ihnen gebildet. Chris wollte
gerade die Tür zum Club öffnen, als er ein dumpfes Geräusch vernahm. Vorsichtig öffnete er die Tür und
sah sich um. Die Lichter über der Bar brannten noch, doch es war niemand zu sehen.
Ob sie vergessen hatte, sie abzudrehen Er betrat den Club und ging Richtung Tresen, als er ein leises Schluchzen hörte.
"Kaja?" fragte er vorsichtig, doch er bekam keine Antwort. Er ging um die Bar und das Schluchzen
wurde etwas lauter. Er vernahm ein leises flehendes Flüstern
"Lasst mich in Ruhe! Geht weg!" hörte er sie leise. Sein Blick fiel auf Kaja, die in einer Ecke hinter
der Bar kauerte. Ihr Gesicht glänzte feucht von den stillen Tränen und mit ihren Händen hielt sie sich die Ohren zu.
"Kaja!" sagte Chris noch einmal, doch sie reagierte nicht. Chris kniete sich zu ihr. Erst jetzt sah er, dass an
der Innenseite der Bar einige seltsame Zeichen gemalt waren. Er kannte sie nicht und schenkte ihnen
weiters keine Aufmerksamkeit. Zuerst wollte er wissen, was mit ihr los war.
"Kaja, was ist los mit dir?" fragte er sie erneut. Jetzt endlich bemerkte sie ihn und wandte sich ihm zu.
"Chris? Hilf mir!" Sie schlang ihre Arme um Chris' Hals und ließ ihren Tränen freien Lauf. Chris drückte
sie an sich und schaukelte sie sanft.
"Sssch...! Ist ja gut!" Versuchte er sie zu beruhigen.
"Was ist denn los? Du kannst es mir sagen!" Kaja hob ihren Kopf von Chris' Schulter und sah in an.
Angst spiegelte sich in ihren blauen Augen wieder.
"Kannst du sie hören? Kannst du sie hören?" fragte Kaja mit zittriger Stimme. Chris sah sie irritiert an.
Er machte sich Sorgen und ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Kaja's Blick
wandte sich von Chris ab und richtete sich auf die Wand hinter ihm. Sie riss die Augen auf. Ihr Atem
wurde immer schneller.
"DA!" schrie sie. "Kannst du es sehen?" Ein dünner grauer Schleier, kaum merklich bahnte sich seinen
Weg durch die Wände des P3. Unaufhaltsam hielt er auf die beiden Gestalten zu, die in einer Ecke
hockten. Er war am Ende seiner Suche. Er hatte ihn gefunden. Den letzten seiner Art. Mit voller Wucht
durchdrang er Chris' Körper bevor er in Kaja eindrang. Chris machte einen tiefen Atemzug, als sich
Dunkelheit vor seinen Augen ausbreitete und er sein Bewusstsein verlor.
