Alle Augen waren auf Chris gerichtet, der immer noch regungslos innerhalb des
Energiefeldes lag. Sein Körper lag seitlich zusammengekrümmt, die Beine angezogen.
Keiner konnte sagen, ob er noch atmete. Es war schließlich Phoebe, die sich langsam auf
ihn zu bewegte und einen Kristall in die Hand nahm, um diesen zu entfernen.
„Phoebe, nicht!" sagte Leo, doch die Unsicherheit in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Leo, wir können ihn nicht einfach so liegen lassen. Lass mich nachsehen, wie es ihm geht!"
Phoebe konnte es nicht glauben. Wäre Leo tatsächlich bereit Chris ihre Hilfe zu
untersagen? Sie konnte das nicht glauben. Sie hatte genauso Bedenken, wie alle
anderen. Chris hatte sie schon oft angelogen und so ganz vertraute ihm keiner, doch das
war für sie kein Grund ihn jetzt im Stich zu lassen. „Chris?" Vorsichtig näherte sich
Phoebe ihm. Sie konnte sehen, dass er flach atmete. Seine Lippen bewegten sich
schwach, als würde er etwas sagen wollen, doch Phoebe konnte ihn nicht verstehen. Sie
ergriff seine Schulter." Chris?" Plötzlich zuckte sie zusammen.
Eine dunkle Höhle war zu erkennen und in einer Ecke lag eine junge Frau. Sie konnte ihr
Gesicht nicht erkenne. Vor ihr war ein Dämon über sie gebeugt, der etwas murmelte. Sie
konnte nichts verstehen. Blaue Blitze zuckten über dem Körper der jungen Frau. Drangen
immer wieder in sie ein, um dann vom Dämon absorbiert zu werden. Der Dämon wandte
sich von ihr ab. Kaja.
Phoebe öffnete wieder ihre Augen und atmete tief durch. „Was hast du gesehen?" fragten
Piper und Paige gleichzeitig. Phoebe sah einige Zeit Chris an, ehe sie sich ihren
Schwestern zuwandte.
„Ich habe Kaja gesehen. In einer Höhle. Es passierte das gleich mit ihr, was eben mit
Chris geschah. Ich konnte einen Dämon sehen, doch ich weiß nicht, wer er ist!"
Phoebe hockte immer noch neben Chris und ihre Hand ruhte auf dem Boden neben ihm.
Sie bemerkte nicht, wie sich Chris' Hand langsam ihrer näherte und er sie ergriff. Sie fuhr
herum und sah in erstaunt an. Sie konnte es nicht glauben. Sie empfing verschiedene
Gefühle von ihm. Angst, Schmerz, Liebe, unsagbar große Liebe. Sie sah einen kleinen
jungen an der Hand von Piper, der sie mit großen Augen anstarrte.
„Kann das sein?" flüsterte sie.
„Mum?" es war ein zitterndes Flüstern, kaum zu hören, außer für Phoebe. Plötzlich zog
Chris seine Hand wieder weg und schrie abermals auf. Wieder konnten die vier das
gleiche dramatische Schauspiel, wie zuvor beobachten. Schnell legte Phoebe den Kristall
wieder auf den Boden und das Energiefeld baute sich um Chris auf. Hilflos mussten sie
mit ansehen, wie die Blitze ihrem Wächter des Lichts unsagbare Schmerzen zufügten. Es
schien kein Ende zu nehmen und Chris' Schreie wurden immer leiser, bis er die Qualen
nur noch stöhnend über sich ergehen ließ.
Cian schrie. Er war wütend.
„Es funktioniert nicht! Warum funktioniert es nicht!" Er blickte auf Kaja, die erschöpft in
einer Ecke am Boden lag.
„Es hätte funktionieren müssen!"
„Was hast du mit mir getan?" fragte Kaja, die sich langsam aufrichtete und sich
an die Wand lehnte. Cian sah sie nur verachtend an. Zwei Mal hatte er es versucht. Zwei
Mal und nichts geschah. Cian drehte sich wutentbrannt um und ließ Kaja in dem Raum zurück.
Was hatte er falsch gemacht? Er hatte sich genau an die Worte gehalten, die ihm
die Macht von Sebulon übertragen hätten sollen. Er müsste jetzt eigentlich seine Macht
besitzen, doch etwas lief falsch, komplett falsch. Er musste herausfinden, woran es lag,
wie er an die Macht kommen konnte. Er wollte nicht aufgeben, noch lange nicht. Und
wenn er Kaja töten musste, um an Sebulons Macht zu kommen, so würde er es ohne mit
einer Wimper zu zucken, tun.
„Komm mit!" sagte er zu Nadir, der das ganze Schauspiel still beobachtet hatte. Er hatte
sich die Worte, die Cian sprach, genau eingeprägt. Er lächelte schief, als er hinter Cian
her hastete. Er würde ihn genau beobachten, sich alles einprägen, bis es Zeit für ihn
wäre, das Ruder an sich zu reißen. Seit Jahren stand er nun schon in Cians Diensten,
gehorchte ihm widerwillig, machte alles, was Cian ihm auftrug. Doch er verfolgte ein
anderes Ziel. Sein Ziel und diesem kam er Tag für Tag näher.
„Wenn Lucian mit diesem Wächter des Lichts auftaucht möchte ich, dass du ihn sicher
verwahrst. Ich möchte, dass er noch einige Zeit lebt. Zumindest so lange, bis ich das,
was ich brauche, von den mächtigen Dreien bekommen habe. Danach kannst du mit ihm
machen, was du willst. Er gehört dir!"
„Verstanden!" gab Nadir von sich, doch er würde nicht so lange warten, er brauchte ihn
für seinen Plan nicht. Er stand ihm nur im Weg und die mächtigen Drei ebenfalls. Was
Nereus anbelangte, so brauchte er auch ihn nicht, denn er war nicht scharf auf Yales Macht.
Er wollte nur die Macht Sebulons.
Plötzlich war wieder alles vorbei. „Alles in Ordnung?" fragte Paige Phoebe, die immer
noch erschrocken am Boden vor Chris saß. Phoebe nickte nur kurz und starrte weiterhin
auf Chris. Ihre Gedanken rasten. Mum? Dieses eine Wort hallte immer wieder in
ihrem Kopf und sie wurde es nicht los. Sie sah diesen kleinen unschuldigen Jungen mit
den grünen Augen an Pipers Hand vor sich. Langsam näherte sie sich wieder Chris, doch
bevor sie den Kristall wieder entfernte, blickte sie über ihre Schulter zurück zu Leo. Er
nickte nur zustimmend und trat neben sie. Leo war bereit Chris zu heilen, doch es gab
nichts, was zu heilen gewesen wäre. Keine Wunde war zu sehen.
„Was sollen wir tun?" fragte er vorsichtig, doch ehe er eine Antwort bekommen konnte,
wurden er und Phoebe ans andere Ende des Dachbodens geschleudert. Ein Dämon war
erschienen und näherte sich Chris. Piper erhob blitzschnell ihre Hände, um den Dämon
explodieren zu lassen, doch er war schnell, zu schnell. Er schimmerte sich zu Chris, und
an der Stelle, an der er zuvor noch stand war eine laute Explosion zu hören.
„Verdammt!" presste Piper hervor und drehte sich dem Dämon, der nun neben Chris
stand. Doch ehe sie erneut ihre Hände gegen ihn erheben konnte, wurden auch sie und
Paige in die Ecke geschleudert. Paige rappelte sich hoch und sah, wie sich der Dämon zu
Chris hinunter beugte.
„Kristall!" schrie sie und der Kristall, den Phoebe zuvor noch in ihren Händen hielt
entmaterialisierte sich kurz. Paige machte eine schnelle Handbewegung und schleuderte
den Kristall Richtung Chris. Doch es war zu spät.
„Es tut mir Leid!" flüsterte der Dämon zu Chris, ergriff ihn an der Schulter und verschwand.
„Es tut mir Leid?" wiederholte Piper die Worte des Dämons ehe sie sich am Sofa hochzog.
„Was sollte das? Wer war das?"
Inzwischen waren auch Leo und Phoebe wieder auf den Beinen und starrten auf die
Stelle, an der zuvor noch Chris lag.
„War das der Dämon, den du in deiner Vision gesehen hast?" fragte Paige Phoebe, doch
sie schüttelte nur den Kopf.
„Wir haben einen Wächter des Lichts, der plötzlich Kräfte eines Dämons hat, einen
Dämon der Mitgefühl zu haben scheint … vielleicht sollte ich versuchen zu orben?" sagte
sie sarkastisch, doch die anderen schüttelten nur verständnislos den Kopf.
„Habt ihr schon mal einen Dämon gesehen, der sich für etwas entschuldigt? Ich nicht!"
meinte sie. Sie ging zum Buch der Schatten und blätterte wahllos in ihm herum.
„Phoebe!" sagte sie schließlich und Phoebe wusste, was Piper von ihr wollte. Sie stellte
sich neben sie und blätterte das Buch langsam durch. Sie suchte nach dem Dämon, den
sie ihn ihrer Version gesehen hatte und auch nach jenen Dämon, der sich Chris geholt hatte.
„Ok, wenn das nicht der Dämon aus Phoebes Vision war, wer war er dann? Und was will
er von Chris?" fragte Paige.
„Andere Frage: Warum sah Phoebe in ihrer Vision Kaja, aber nicht Chris, als sie ihn berührte?"
Piper sah die anderen erwartungsvoll an. Phoebe unterbrach ihre Suche nach dem Dämon
„Wenn es stimmt, was Chris uns von dem Abend im P3 erzählt hat und es die
Macht von Sebulon war – wovon wir, nach Tariks Ausführungen, ausgehen können –
dann glaub ich, dass sich Chris und Kaja diese Macht teilen. Das wäre eine Erklärung
dafür, warum ich eine Vision von Kaja hatte und nicht von Chris und warum Kaja in
meiner Vision dasselbe widerfuhr, wie Chris hier!"
Piper dachte nach. „Klingt logisch. Dann wird wohl der Dämon versuchen die Macht, die
in den beiden wohnt, zu erlangen!"
„Davon können wir ausgehen. Allerdings glaube ich nicht, dass der Dämon weiß, dass
sich die beiden die Macht teilen!" entgegnete Phoebe. Die anderen sahen sie nur fragend an.
„Und warum hat er dann Chris holen lassen?" Phoebe schwieg. Es war nur eine
Vermutung von ihr und sie konnte sie nicht erklären.
„Ich weiß es nicht! Vielleicht hat er mit ihm was anderes vor?" Phoebe wandte sich
wieder dem Buch der Schatten zu.
„Irgendwie verspür ich gerade eine große Sehnsucht Tarik wieder zu sehen!" sagte Piper
mit einem gezwungenen Lächeln und sah dabei Leo an.
„Äh…!" gab Leo von sich, ehe er kapierte und er orbte sich vom Dachboden des Halliwell-Manors.
