„Du solltest nicht hier sein!"
„Keiner von uns sollte das!" erwiderte Leo und ging langsam auf Chris zu, bis er dicht vor ihm stand.
Er sah die ausdruckslose Miene in Chris' Gesicht und fragte sich, warum er es ihm so
schwer machte ihm zu helfen.
„Warum bist du hier?"
„Weil du hier bist!" Leo sah, dass Chris diese Antwort nicht gefiel. Genervt drehte er sich
von Leo weg und sah wieder in die Dunkelheit, die unendlich schien. Er hatte seine Hände in den
Hosentaschen und ließ die Schultern hängen.
„Das kann nicht der Grund sein! Du bist nicht freiwillig hier, richtig?" Leo verzog seinen Mund,
als er daran dachte, dass Chris Recht hatte.
„Ist das denn so wichtig?"
„Im Grunde nicht! Es hätte mich auch gewundert, wenn du freiwillig hier wärst! Es würde nicht
zu dir passen!"
„Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch nicht!" Leo ging wieder einige Schritte vor,
um Chris in die Augen sehen zu können. „
Ich kenne dich besser, als du mich je kennen wirst!"
„Woher?"
„Woher spielt keine Rolle!"
„Das ist nicht fair, Chris! Ich mag vielleicht nicht freiwillig hier sein, doch meine Bemühungen dich
zu retten haben mich hier her geführt! Zählt das denn gar nichts?"
Chris sah zu Leo und begegnete ihm mit einem durchdringenden Blick. Obwohl um sie herum
tiefste Finsternis herrschte, waren beide in ein sanftes Licht getaucht.
„Vielleicht! Aber es reicht nicht!"
„Reicht nicht wofür?"
„Um .. wieder gut zu machen!" Wieder drehte sich Chris von Leo weg und sah nach oben.
Es waren keine Sterne zu sehen, kein Mond, nichts!
„Ein seltsamer Ort!" flüsterte Chris. Leo starrte ihn mit offenem Mund an. Er hatte keine Ahnung,
was Chris meinte, was er ihm damit sagen wollte. Was sollte er wieder gut machen?
„Chris,ich weiß, dass ich dir oft nicht vertraut habe, dass ich dich beschuldigt habe, Dinge
getan zu haben und ich gebe zu oftmals im Unrecht gewesen zu sein! Wenn dies der Grund ist,
warum du dich meinen Heilungsversuchen widersetzt, so lass mich dir sagen, dass es mir
Leid tut, doch woher sollte ich es besser wissen? Du hast mir nie die Chance gegen dich
kennen zu lernen! Chris, wir brauchen dich! Hast du vergessen, weshalb du
zurückgekommen bist? Denk an Wyatt!" Chris lächelte abwesend. Er dachte an den kleinen
unschuldigen Wyatt, wie er ihn ansah mit seinen blauen Augen und den blonden Locken.
Wie ein kleiner Engel. Ja, das war er einmal.
„Wyatt! Wusstest du, dass ich als Kind auch blonde Haare hatte?"
„Bitte?"
„Ja! Nicht lange! Im ersten Jahr! Danach wurden sie dunkler!"
Leo wusste nicht, warum Chris ihm das erzählte, doch er wollte Chris nicht unterbrechen.
Was hatte Nereus gesagt? Finde heraus, wer er ist! Das war die Gelegenheit.
„Nein, wusste ich nicht! Woher auch! Du hast uns nie etwas erzählt!"
„Ich hatte meine Gründe!" Wieder sah Leo Chris fragend an, während dieser in die Dunkelheit
starrte. Was war nur mit diesem Jungen los? Was hatte ihn so verbittert werden lassen?
Er versuchte sich vorzustellen, wie seine Welt wohl aussah, wie sein Leben dort ausgesehen hatte.
„Was ist mit deinen Eltern?"
„Meine Mutter war wunderbar! Sie war schön, klug und liebte mich! Mein Vater hingen war
viel unterwegs und strafte mich mit Missachtung, wann immer er konnte!"
„Wo sind sie jetzt?"
„Tot!" Dies stimmte zwar nicht ganz, denn Leo - sein Dad - war immer noch am Leben, doch
nicht für Chris. Wieder herrschte Stille zwischen ihnen.
„Geschwister?"
„Einen älteren Bruder!"
„Was ist mit ihm?"
„Mehr oder weniger tot! Er entschied sich für die falsche Seite!"
Immer noch starrte Chris in dieselbe Richtung, würdigte Leo keines Blickes. Er wusste nicht,
warum er Leo das alles erzählte, doch etwas in ihm wollte unbedingt, dass er Bescheid
wusste. Bescheid darüber, wen er sterben ließ.
„Heiße Schokolade!"
„Was?" Leo war nun endgültig verwirrt.
„Heiße Schokolade! Ich hasse heiße Schokolade! Meine Mutter hatte sie mir immer vorgesetzt,
doch ich mochte sie nicht! Ich mochte sie nie, dennoch hab ich sie getrunken! Nach ihrem Tot
hatte ich mich danach gesehnt noch einmal eine ihrer heißenSchokoladen trinken zu können!"
Leo schüttelte den Kopf.
„Ich dachte, du magst sie? Ich meine, wenn einer der Schwestern einemachte, hast du sie
doch auch getrunken!" Jetzt sah Chris wieder zu Leo und lächelte schief.
„Ja, aber nur Piper's!" Leo sah Chris entsetz an. Er riss die Augen auf, als ihm ein bestimmter
Gedanke nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Plötzlich flackerte es vor Leos Augen und
das Bild von Chris verschwand immer wieder kurz.Ein leichtes Dröhnen hallte durch Leos Kopf
und alles verschwamm. Er sah Chris, wie er sich umdrehte und weg ging.
„Nein! Warte!" Leo versuchte dagegen anzukämpfen.
„Nereus! Nicht! Noch nicht!" doch das Flackern ließ nicht nach.
„Chriiiiiis!" schrie er, doch Chris war bereits verschwunden.
„Oh mein Gott! Oh … mein Gott!" Phoebe war aufgeregt. Nervös lief sie im Wohnzimmer auf
und ab. Sie waren gerade erschienen und Piper lag, immer noch bewusstlos, auf dem Sofa.
Kaja war wütend, sehr wütend und ihre Wut galt nicht nur Cian, sie galt ihnen allen.
„Denkst du, es ist wegen Chris?" fragte Paige vorsichtig und sah sich dabei um. Sie erwartete,
dass Kaja sich jeden Moment in ihrem Haus blicken ließ.
„Oh, ich denke das nicht nur, ich weiß es!"
„Piper! Piper, aufwachen!" Phoebe beobachtete, wie Paige sanft Pipers Wangen klopfte.
Sie sah sich fragend um, als würde sie in dem Raum eine Antwort auf eine
unausgesprochene Frage erwarten. Wie spät war es eigentlich? War es Tag? War es Nacht?
Sie lauschte in den Raum, doch es war nichts zu hören. Kein Geräusch, kein Vogel, der den
Morgen ankündigte, oder die Nacht willkommen hieß, kein Motorengeräusch, nichts. Ihr Blick
wanderte zum Fenster. Es war tiefste Nacht.
„Wir müssen hier weg! Und ich weiß auch schon, wohin!" Phoebe sah zu Piper. Sie war zwar
besorgt, wusste jedoch, dass ihr nichts Schlimmes widerfahren war. Ein heftiger Schlag ins
Gesicht, doch keine äußeren Wunden zu sehen.
„Bleib bei Piper!" sagte sie schließlich und ging eiligen Schrittes die Treppen hinauf.
Sie riss die Tür zum Dachboden auf und ihr Blick fiel auf Nereus, der mit geschlossen Augen
hinter Leo stand. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, flüsterten etwas, was Phoebe
nicht verstand. Leo kniete vor Chris und hatte ebenfalls die Augen geschlossen, doch er
schien abwesend, schien in einer Art Trance verfallen zu sein.
„Leo! Leeeoo!" schrie Phoebe, doch Leo rührte sich nicht. Sie lief zu Nereus und packte ihn
an den Schultern.
„Hey!" schrie sie und schüttelte ihn. Nereus hatte immer noch die Augen geschlossen,
versuchte dieVerbindung zu Leo zu halten, doch wurde unterbrochen. Nereus öffnete
erschrocken die Augen.
„Was … was ist passiert!"
„Wir müssen hier weg und zwar schnell!"
„Aber … aber ich…!" Immer noch versuchte er sich zu orientieren. Die plötzliche Unterbrechung
verwirrte ihn. „ … kann nicht!"
Nereus sah Phoebe erstaunt an. Er konnte sich zwar frei in dem Haus der Halliwells bewegen,
doch war auf diesen Ort beschränkt.
„Ich bin nicht in der Lage diesen Ort zu verlassen!" Phoebe presste ihre Lippen zusammen.
„Kaja ist hier her unterwegs und sie wird nicht so einfach mit sich reden lassen! Wir brauchen
einen Vorsprung! Es tut mir leid!" Nereus wusste, was Phoebe ihm damit sagen wollte und es war
in Ordnung. Es konnte ihm nichts geschehen. Er war bereits tot. Phoebe ließ Nereus Schultern
los und kniete sich neben Leo.
„Was ist mit ihm?" Phoebe sah Leo besorgt an. Seine Augen wanderten ruhelos hinter verschlossenen
Liedern hin und her und er zuckte immer wieder mit dem Kopf, als hätte er einen schlechten Traum.
„Leo?" Leo riss die Augen auf und sog Luft in seine Lungen, als hätte er seit Minuten nicht
geatmet, dann stieß er sie wieder mit einem schweren Seufzer aus. Einen Augenblick starrte
er an die Wand gegenüber und rührte sich nicht. Er schluckte und senkte seinen Blick.
„Leo? Alles in Ordnung?" Erneut atmete er tief ein und seufzte still, eher er Phoebes Blick
begegnete. Seine Augen spiegelten Entsetzen wider.
„Leo! Wir müssen hier weg!" Es verging gerade einmal eine Sekunde, als Leo reagierte, aber
es schien ihm, als würde er eine Ewigkeit in Phoebes Augen sehen.
„Wa-Warum?"
„Frag nicht! Ich erklär es später!" erwiderte Phoebe sanft, aber mit Nachdruck. Ihr Blick schweifte
von Leo zu Chris, der immer noch reglos am Boden lag.
„Nein!" sagte Leo schließlich.
„Wir können nicht weg hier!"
„Kaja ist stink wütend wegen Chris und ich möchte ihre Wut nicht unbedingt am eigenen Leib erfahren!"
Leo blickte auf, als Paige und Piper durch die offene Tür traten. Piper hatte Wyatt auf dem Arm
und hielt sich mit einer Hand die Schläfe.
„Worauf warten wir?" drängte Paige und sah erwartungsvoll zu Leo.
„Er will hier nicht weg!" sagte Phoebe gedankenverloren.
„In Ordnung! Runter in den Keller! Alle!" Phoebe machte eine auffordernde Handbewegung
und deutete einen jeden sich zu beeilen.
„In den Keller?"
„Ja, warum nicht! Wie viele Dämonen, oder ähnliches sind bis jetzt schon auf die Idee gekommen
da unten nachzusehen, wenn sie uns hier nicht finden?" entgegnete Phoebe.
„Das gibt uns zumindest ein bisschen mehr Zeit zu reagieren, einen kleinen Vorsprung!"
„Auch wieder war!" Paige nickte kurz und ergriff Pipers Hand. Phoebe sah wieder zu Leo,
der ihr zustimmend zunickte.
Die Luft war staubig und feucht, als sie im Keller des Halliwell-Manors erschienen. Sie waren
schon länger nicht mehr hier unten gewesen, da das Haus groß genug war und der Keller
nicht wirklich benötigt wurde. Paige knipste die Lampe an, die über ihr hin und sah sich um.
In der Ecke war Leo mit Chris und Nereus erschienen. Langsam erhob sich Leo und ging auf
seine Frau zu.
„Alles in Ordnung mit dir?" frage er Piper sanft, als er die rote Stelle an ihrer Schläfe sah.
„Es ist nichts! Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest!" entgegnete sieihm und sah
zu Wyatt. Mit großen verständnislosen Augen sah er sie an. Sein Unbehagen war deutlich zu
erkennen und Piper küsste ihm auf die Stirn.
„Schon gut, mein Kleiner!"
„Was ist passiert?" frage Leo und sah die Schwestern der Reihe nach an. Dann viel ihm etwas auf.
„Wo ist Lucian?"
„Nicht da, würde ich sagen!" Phoebe presste die Lippen zusammen und ging schuldbewusst zu Leo.
„Wir hatten die Urne und Kaja – irgendwie – auf jeden Fall hätte die Urne uns vor ihren Kräften
schützen sollen! Ich habe die Urne … fallen lassen! Kaja wurde ziemlich wütend und es ihr wurde
bewusst, dass sie nun nicht mehr länger ihrer Kräfteberaubt war! Sie griff uns an und wir sind
geflohen! Wir alle! Inklusive Cian! Also … er istnicht mit uns … sondern …wie auch immer!"
Phoebe blinzelte Leo unschuldig an.
„Oh!"
„Ja, das hab ich mir auch gedacht!" Ein breites Grinsen zierte Phoebes Gesicht.
„Ok, nun zu dir! Warum wolltest du nicht weg von hier?" Phoebe sah Leo nun wieder ernst,
fast schonvorwurfsvoll in die Augen. Der Keller war nun mal nicht die ultimative Lösung, deshalb
wollte sie eine plausible Erklärung dafür haben, warum sie alle hier bleiben mussten. Doch ihr Blick
erweichte sich, als sie spürte, wie Leo innerlich mit seinen Gefühlen kämpfte. Er drehte sich
um und sah zu Nereus, dann zu Chris. Phoebe schnappte ihn am Ellenbogen und schob ihn
vorsichtig in deren Richtung.
„Was ist passiert, Leo?" flüsterte sie.
„Oben am Dachboden, was war da?" Leo setzte zu einer Antwort an, doch stockte. Er sah über
seine Schulter zu Piper und Paige, drehte sich jedoch wieder um, als er sah, dass beide mit
Wyatt beschäftigt waren.
„Nachdem all meine Versuche Chris zu helfen scheiterten, brachte mich Nereus indie Zwischenwelt!"
„In die Zwischenwelt?"
„Ja, er brachte mich dort hin, um herauszufinden, warum ich Chris nicht helfen kann! Chris ist in
der Zwischenwelt gefangen! Ich glaube Nereus wusste genau, was mich dort erwartete! Wusstest du es?"
„Wusste ich was?" frage Phoebe vorsichtig, doch hatte bereits eine Ahnung, was er wohl erfahren
haben muss. Sie standen nun neben Nereus, immer noch mit den Rücken zu den anderen.
„Dass Chris unser Sohn ist! Ich mein … also Pipers und mein Sohn" korrigierte Leo verlegen.
„Ja, schon klar!" Phoebe sah ihn sanft an und lächelte leicht.
„Ja, ich wusste es! Ich wusste es von dem Moment an, als ich die Vision von Kaja hatte!
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte! Chris bat mich darüber Stillschweigen zu bewahren!"
„Warum?" Phoebe schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht!" Normalerweise hätte Leo nachgehackt, nicht so einfach geglaubt, dass sie
wirklich nichts wusste, doch in ihren Augen war Aufrichtigkeit zu lesen, die ihn nicht daran
zweifeln ließ.
„Ich muss noch einmal zurück, muss noch einmal mit Chris reden! Ich brauche
seine Hilfe, damit ich ihm helfen kann! Deshalb können wir hier nicht weg! Ich brauche
Nereus!" Phoebe nickte verständnisvoll und strich Leo sanft über den Rücken.
„Hol ihn zurück!" flüsterte sie und ging zurück zu ihren Schwestern. Sie strich Wyatt liebevoll
über die Haare, als sie zu Piper und Paige trat. Leise erklärte sie ihnen, warum Leo hier bleiben
wollte, doch ließ den Teil mit Chris bewusst aus. Es war nicht an ihr Piper über ihren zweiten
Sohn zu informieren.
„Wir müssen Kaja irgendwie beruhigen, ihr irgendwie klar machen, dass wir für das, was
geschehen ist, nicht die Schuld tragen, dass wir es nicht in böser Absicht taten!" immer noch
flüsterte Phoebe, denn sie wollte das Risiko nicht eingehen, dass sie gegebenenfalls von jemandem
gehört werden konnten, von jemandem, der sie bereits in ihrem eigenen Haus suchte.
„Also ich glaube nicht, dass Kaja sich alleine von unseren Erklärungsversuchen, oder Entschuldigungen
beruhigen lassen wird! Nicht, so lange Chris immer noch …!"
„Ich weiß!" unterbrach Phoebe Paige.
„Und was ist, wenn wir sie glauben lassen, dass es Chris gut geht?" Piper und Paige sahen Phoebe
skeptisch an.
„Wie willst du das anstellen?" Piper war gespannt, denn sie konnte sich nichts darunter vorstellen.
„Es geht ihm eindeutig nicht gut!" Piper deutete in die Ecke zu Chris.
„Und sie wird uns nicht glauben, so lange sie sich nicht selbst davon überzeugt hat!" Paige streckte
ihr Kinn forsch vor. Sie sah Phoebe, die mit ihren Fingern spielte, in die Augen. Der Gesichtsausdruck,
den sie hatte, verriet, dass sie bereits eine Idee hatte, die ihnen nicht sonderlich gefallen würde.
Paige und Piper verzogen den Mund.
„Was?" fragten beide gleichzeitig.
„Es braucht nur einer von uns in die Rolle von Chris schlüpfen!" Phoebe lächelte unschuldig,
während sie ihre Finger ineinander verknotete. Piper schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was?" stieß sie hervor. Phoebe legte ihr rasch die Hand auf den Mund, um sie daran zu erinnern
leise zu sein. Vorsichtig sah sie zur Kellertür hinauf und wartete. Nichts war zu hören.
„Wenn Paige die Gestalt von Chris annimmt, so können wir sie vielleicht davon überzeugen, dass
alles in bester Ordnung ist!"
„Moment! Ich?"
„Ja, du! Du kannst das, das weißt du! Ich könnte einen Spruch schreiben, der mich in Chris
verwandelt, dann hab ich allerdings immer noch das Problem, dass ich nicht orben kann!
Wer weiß, vielleicht musst du das ja!" Paige schloss kurz die Augen, ließ Phoebes Worte einen
Augenblick auf sich wirken.
„Ich hab darin keine Übung und das letzte Mal ist schon sehr lange her!"
„Ach, du schaffst das schon!" grinste Phoebe breit und klopfte Paige aufmunternd auf die Schulter,
doch Paiges Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich nicht wohl bei dem Gedanken fühlte.
„Ok, und was dann?" Piper ging zu Leo und drückte ihm Wyatt in den Arm, ehe sie sich wieder
umdrehte und zurück zu ihren Schwestern ging.
„Dann? Oh, also dann … ja, dann …!" Phoebe überlegte.
„Wir müssen Leo und Nereus nur genügend Zeit einräumen, bis Chris wieder unter uns weilt,
dann brechen wir diese Maskerade ab und machen das, was wir ursprünglich vorhatten! Die
zweite Urne finden, deren Macht auf Kaja übertragen und dann die Mächte in ihr vernichtet!
Aus, Ende!" Piper stieß ein kurzes Lachen aus.
„Oh, so einfach also? Warum haben wir das dann noch immer nicht geschafft?"
„Nicht so negativ, Schwesterherz, denk positiv!" Phoebe zwickte ihrer Schwester in die Wange.
„In Ordnung, vielleicht funktioniert das ja! Ich lasse Wyatt bei Leo! Er wird, wenn es notwendig
sein sollte, sein Schutzschild auf die anderen ausweiten! Hoff ich halt einmal! Zumindest auf Leo!"
Piper sah besorgt zu ihrem Sohn.
„Du atmest schon wieder nicht, Piper, Atmen!" Piper blickte zu Phoebe und musste lächeln.
Sie machte das immer, wenn sie aufgebracht war, oder in großer Sorge. Im Moment war sie
beides. Langsam ging sie zu Leo. Sie nahm Wyatt aus seinen Armen und lächelte ihren Sohn
liebevoll an.
„Mummy ist bald wieder da, mein Kleiner! Versprochen! Dein Dad wird auf dich aufpassen!"
Wieder gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn und drückt ihn an sich. Dann sah sie zu Leo und
lächelte ihn an. Sie sagte kein Wort, als sie ihm Wyatt wieder in den Arm reichte.
„Wir bekommen das hin, Piper!" auch Leo lächelte Piper liebevoll an und zog den Pullover von
Wyatt glatt.
„Dann lasst uns mal auf den Dachboden zurückkehren! Paige?" Paige nickte und schloss die
Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Langsam verschwammen ihre Konturen und
veränderten sich, doch als sie die Augen wieder öffnete,war nichts geschehen. Immer noch
stand Paige vor ihren Schwestern. Phoebe und Piper sahen sie erwartungsvoll an. Paige hob
einen Finger und deutete ihnen sich noch etwas zu gedulden. Wieder schloss sie die Augen und
wieder verschwammen ihre Konturen, als sich ihre Gesichtszüge veränderten und sie in der
Gestalt von Chris vor ihnen stand.
„Ok, wie ist es?" fragte sie und sah die zweifelnden Blicke ihrer Schwestern.
„Du hast recht!" sagte Phoebe.
„Du hast keine Übung!" Paige war verwirrt. Sie sah an sich herab und erkannte sofort, dass es
nicht ihr Körper war. Wieder sah sie zu ihren Schwestern.
„Was ist? Hat Chris rote Haare?"
„Nein, mit den Haaren ist alles in Ordnung!" entgegnete Piper.
„Aber das Reden solltest du lieber uns überlassen!"
„Ok, mein Kleiner, Daddy wird jetzt versuchen deinen kleinen Bruder zu helfen!" Leo sah
Wyatt an, als er sich zu Chris kniete. Wyatt setzte er auf seinen Schoß und sah dann zu
Nereus.
„Du musst mich noch einmal in die Zwischenwelt bringen! Ich muss es noch einmal
versuchen!" Nereus sah Leo eine Zeit lang regungslos an, als er schließlich nickte. Er
schloss die Augen und begann wieder etwas zu murmeln, leise, so dass Leo kaum etwas
hörte. Wyatt lehnte mit seinem Rücken an Leos Brust und Leo schlang seine Arme
beschützend um dessen Körper, als er die Augen schloss und sich auf Chris konzentrierte.
Wieder wurde seine Vorstellung klarer, realer, nur diesmal sah er nicht das Gesicht von
Wyatt vor sich, sondern von Chris. Immer wieder flackerte es vor seinem inneren Auge und
die ihm nun bekannte Dunkelheit bahnte sich wieder ihren Weg in das Zentrum seiner
Konzentration.
Leo öffnete die Augen und sah in die schwarze Leere der Zwischenwelt. Langsam sah er
sich um, versuchte herauszufinden, wo Chris sich befand.
„Chris!" rief erund wartete, doch er konnte nur das Echo seiner Stimme hören, dass langsam
in der Dunkelheit verschwand.
„Chris!" rief er erneut, etwas lauter. Bitte! flehte er innerlich. Wieder blickte er sich um und hielt
inne. Er neigte seinen Kopf, als er glaubte in der Ferne etwas zu erkennen. Langsam ging er in
diese Richtung, als ein schwaches Licht durch die Dunkelheit dran und sanft zu scheinen begann.
„Chris!" flüsterte Leo, als er die Umrisse seines Sohnes erkannte. Chris saß auf einem großen
Stein, die Arme um seine Beine geschlungen und blickte nach oben. Es schien, als würde er
etwas suchen, was ihm erlauben würde, das
„Oben" als Himmel zu bezeichnen. Leo stand nun hinter Chris und ballte angespannt seine
Hände zu Fäusten. Er überlegte, was er sagen sollte, suchte nach den passenden Worten,
doch in erster Line suchte er nach dem Mut in ihm, um das Wort an Chris zu richten.
„Chris?"
„Ich sitze hier nun schon eine ganze Weile, ich kann nicht sagen, wie lange, doch ich konnte
bis jetzt keinen einzigen Stern sehen!" Chris Stimme klang monoton.
„Hier gibt es nichts!"
„Warum hast du uns nie etwas gesagt?"
„Du hast nie gefragt!"
„Wie kann ich etwas fragen, von dem ich nicht einmal weiß, dass es zu erfragen wäre?"
Chris senkte seinen Kopf und blickte gerade aus ins Leere.
„Was nun, Leo, was wirst du mit dieser Erkenntnis anfangen?"
Leo sah Chris fragend an. Er konnte Chris nicht einfach am Arm packen und aus der
Zwischenwelt zerren, so sehr er es auch wollte. Chris musste schon freiwillig zulassen, dass
er ihn zurückholte.
„Ich möchte dir ein Vater sein, wie ich es für Wyatt bin!"
„Das kannst du nicht! Wenn du es könntest, dann hätten wir dieses Problem hier nicht!"
Chris glitt langsam von dem großen Stein und blieb stehen. Er blickte auf den Fels und legte
seine Hand auf ihn.
„Seltsam, nicht wahr? Er war einfach da! Als ich in den Himmel sah, war er einfach da!"
Leo sah betrübt zur Seite, überlegte, was er sagen sollte.
„Warum gibst du mir keine Chance, Chris?" Chris steckte seine Hände wieder in die Hosentaschen
und sah Leo ausdruckslos an.
„Ich habe dir schon so viele Chancen gegeben, Chancen, die du nicht genutzt hast!
Wann ist deiner Meinung nah Schluss? Wie viele Chancen verdient ein Mensch? Ein Vater?"
„Du sprichst hier von Chancen, die du mir als deinen Vater gegeben hast! Die du mir erst
geben wirst! Warum gibst du mir nicht hier und jetzt … mir, Leo … eine Chance es richtig zu
machen? Die erste Chance? Meine erste Chance?"
Chris schwieg. Eine Zeit lang sah er in Leos Augen, doch wich dann seinem Blick aus.
„Ich werde nicht zulassen, dass ich dich hier und jetzt verliere! Ich werde nicht zulassen, dass
ich meinen Sohn an diese Welt verliere!"
Chris seufzte und schloss seine Augen. Er war immer bereit gewesen Leo eine weitere
Chance zu gewähren, das stand für ihn nie zur Frage, doch jetzt wusste er es nicht mehr.
Seit er in dieser seltsamen Ebene war, in dieser Zwischenwelt, in der es für ihn kein vor oder
zurück gab, verschwammen seine Erinnerungen und Wünsche zu einer gleichgültigen
Einheit. Langsam fühlte er sich wie ein Teil dieser Welt, leer wie diese Welt. Er öffnete
wieder seine Augen und blickte zu Leo, als er stockte. Er sah an Leo vorbei und riss die
Augen auf.
„Wa…!" Leo war erschrocken.
„Was ist, Chris?"
„Wyatt!"
„Was?"
„ Warum hast du Wyatt mit hier her gebracht?" schrie Chris und sein Blick war zornig auf Leo
gerichtet. Hinter Leo stand der kleine Wyatt und hielt sah die beiden unschuldig an. Ein sanftes
Licht umgab ihn, als er noch einen Schritt näher kam.
