„Hey, Harry. Ich bin's Hermine." hallte es vom Telefon direkt zu ihnen hinüber.
Halb geschockt richtete Harry sich wieder auf.
Hermine?
Judie hatte in ihrer Bewegung inne gehalten, und ließ Hermine weitersprechen.
„Du wunderst dich bestimmt, dass ich dich heute anrufe. Ich habe gehofft, du wärst zuhause, damit ich es dir persönlich erzählen kann...
Auf jeden Fall bin ich für eine Woche wieder zurück in England, um meine Eltern zu besuchen. Ich hab herausgefunden, dass du auch wieder in England wohnst, und so habe ich gedacht, wir könnten uns mal treffen.
Ich könnte verstehen, wenn du noch nicht so weit bist, mich wieder zu sehen. Aber ich werde morgen im Kaffee 'San Metro' um 11 Uhr morgens auf dich warten. Egal wie viel Zeit du brauchst.
Bis dann."
Harry war immer noch zu sehr überrascht, um zu realisieren was das bedeutete, auch wenn er Hermines Worte verstanden hatte.
Es war, als wäre ein gewaltiger Sturm von der einen auf die andere Sekunde in seinem Kopf ausgebrochen, der alles durcheinander brachte.
Hermine.
Ein Anruf von ihr.
Jetzt!
„Harry?"
Judies besorgte Stimme ließ Harry aus seinen Gedanken wieder hochschrecken.
Er sah ihr kurz in die Augen. Sie schien einerseits erstaunt und andererseits wirklich besorgt um Harry zu sein.
Harry räusperte sich kurz.
„Entschuldige mich. Ich hab noch viel zutun."
Sagte er, und stand dann hastig auf, was, wie er bemerkte, keine gute Idee gewesen war.
Wieder wurde ihm für kurze Zeit leicht schwindelig, doch er ließ sich nichts anmerken.
Er hatte nichts zu tun. Nicht mal ansatzweise. Er hatte das Gefühl, jetzt einfach allein sein zu müssen.
Schnurstracks lief er in die Richtung seines Zimmers, schloss die Tür und ließ nur noch eine leicht verwirrte Mitbewohnerin zurück.
Sobald er die Tür geschlossen hatte, ging er zur Terrassentür und öffnete sie.
Kalte aber auch frische Luft wehte sofort durch sein zerstrubbeltes Haar. Er schloss die Tür hinter sich, und lehnte sich gegen das Geländer, natürlich bedacht darauf, dass es nicht mit seinem linken Arm in Berührung kam.
Er hörte die Autos der Autobahn und das wehen des Windes. Er blickte geradeaus auf das andere schräg stehende Haus vor sich, doch in Wirklichkeit sah er es gar nicht...
Als er Hermines Stimme gehört hatte, hatte er einen fürchterlichen Stich im Bauch gefühlt, und er hielt immer noch an.
Es waren die Stiche und das bohren der Vergangenheit.
Alle Bilder des Krieges kamen ihm plötzlich wieder in den Sinn.
Er wollte es nicht, er versuchte sich dagegen zu wehren, doch es ging nicht.
Es waren so fürchterliche Bilder.
Bilder von Toten.
Von seinen Mitschülern, Mitmenschen – von unschuldigen Menschen die grundlos getötet worden waren.
Von ihm.
Lord Voldemort.
Sofort sah Harry wieder seine schlangenartigen roten Augen vor sich. Sein fieses unmenschliches grinsen, wenn er jemanden um sein Leben brachte.
Immer mehr Erinnerungen und Bilder bohrten sich in sein Gehirn. Er dachte schon, sein Kopf würde explodieren, als das schließen einer Autotür in der Nähe ihn wieder aus seinen Gedanken hochschrecken ließ.
Kate und Maurice waren also wieder da, schloss er.
Harry seufzte.
Er, Hermine und Ron hatten den Krieg damals zum Glück überlebt. Zwar stark angeschlagen, aber immerhin überlebt.
Für Harry war damals gleich klar gewesen, dass er erst mal Zeit für sich brauchen würde.
Hermine und Ron, oder jedenfalls Hermine, hatte das sofort akzeptiert.
Sie war mit Ron damals erst einmal noch mal zum Fuchsbau zurückgekehrt, um sich dort von den Weasleys vorerst zu verabschieden.
Doch Harry hatte sich sofort gedacht, das der wahre Grund ein anderer war.
Beide wollten noch etwas Zeit zusammen verbringen, da sie nämlich vorhatten, bald getrennte Wege zu gehen.
Ron wollte fürs erste Charlie in Rumänien bei den Drachen besuchen, um dann später in England vielleicht eine Aurorenausbildung zu beginnen.
Hermine jedoch hatte schon während des siebten Schuljahres den beiden von der Idee erzählt, eine neue Unterrichtsart zu erfinden. Ein Fach, in dem man lernte, wie die Zauberei in anderen Ländern für Vorgeschichten hatten, wie sie die Zauberei ansahen und welche „Sitten" es gab.
Sie hatte sich von der Idee nicht mehr abbringen lassen, und fand sogar Zuspruch bei den Lehrern.
Also wollte sie, nachdem sie noch mal im Fuchsbau vorbeigeschaut hatte, eine Art Weltreise machen, die mehrere Jahre dauern sollte, um in der ganzen Welt nach Zauberei zu suchen, um sich genug Notizen zu machen, um dann irgendwann wieder nach Hogwarts zurückzukehren und erste Lehrerin für dieses Fach zu werden.
Danach hatte Harry nie wieder etwas von den beiden gehört. Für ganze zwei Monate.
Er hatte, wenn man es so sehen konnte, ein völlig neues Leben begonnen, doch als er Hermines vertraute Stimme gehört hatte, war es fast wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.
Doch was hatte Harry denn erwartet?
Irgendwann wäre es sowieso passiert.
Er kannte Hermine.
Sie hatte ihm Zeit gelassen, doch es passte einfach zu ihr, sich nach spätestens zwei Monaten um Harry zu sorgen.
Er war auch nicht zornig über ihren Anruf. Er freute sich, sie wiederzusehen, doch dieser Anruf hatte so viel in Ihm wieder wach gerüttelt, und alte Wunden, die lieber verschlossen geblieben worden wären, wieder aufgerissen.
Harry vernahm plötzlich ein klopfen an seiner Zimmertür. Auch wenn er auf dem Balkon stand, konnte er das klopfen hören, da nur eine relativ dünne Glastür das Zimmer von dem Balkon trennte.
„Hey, Harry. Ich bin's Maurice. Darf ich rein kommen?"
Harry atmete einmal tief aus. Er dachte schon, es wäre Judie gewesen. Denn auf sie wollte er momentan lieber verzichten.
Harry hatte gar nicht gemerkt, dass er draußen die ganze Zeit mit bloßem Oberkörper gestanden hatte. Er holte sich schnell ein neues Hemd aus seinem Schrank, zog es vorsichtig an, ging wieder auf die Terrasse und antwortete Maurice mit ‚Ja'.
Nur wenig später kam der ebenfalls schwarzhaarige Maurice auf den Balkon, stützte seine Ellenbogen auf das Geländer, und blickte in die Ferne.
Harry kam nicht umhin zu bemerken, dass Maurice kurz darauf schon anfing, Harry mit seinen blauen Augen zu mustern.
„Na, was läuft so bei dir?" fragte Maurice schroff, doch Harry hatte den Braten schon gerochen.
„Hat dich Judie zu mir geschickt?"
Auf Maurice Gesicht bildete sich ein lächeln. Er steckte seine rechte Hand in die Jackentasche und schon bald darauf kam eine Zigarettenschachtel zum Vorschein.
Er streckte sie Harry entgegen, doch dieser schüttelte den Kopf.
Harry hatte das rauchen schon immer Verabscheut.
Maurice nahm sich eine Zigarette heraus und steckte die Zigarettenschachtel sogleich wieder an seinen Platz zurück.
„Wenn du's genau wissen willst – ja. Sie hat sich Sorgen um dich gemacht, und mich gebeten, dich ein bisschen auszuhorchen. Sie dachte, ich komm eher an dich ran. Aber dir kann man schlecht was vor machen. Oder ich bin einfach nur ein miserabler Schauspieler." Sagte Maurice schließlich.
Harry musste schmunzeln.
Maurice war schon erstaunlich.
Er war immer zu scherzen aufgelegt, und konnte schlecht gelaunte Personen gut wieder ins Leben zurückreißen. Doch trotzdem konnte man sich in brenzligen Situationen auf ihn verlassen.
Es schien ihm nie schlecht zu gehen, und selbst wenn, ließ er es sich nicht anmerken, sondern brachte andere zum lachen.
Harry bewunderte das. Wenn er sich doch nur selbst so gut verschließen könnte...
„In letzter Zeit bist du so oft abwesend." Fuhr Maurice weiter. Er hatte sich die Zigarette bereits angesteckt, und rauchte nun genüsslich vor sich hin.
„Frauenprobleme?" fragte er weiter.
„So was ähnliches." Sagte Harry. Er hatte nach dem Krieg niemandem je, weder von Hermine oder Ron, noch von seinen magischen Kräften erzählt, und so sollte dass auch fürs erste bleiben.
Maurice nickte.
„Ich weiß nicht um wen es geht, und ich will dich auch nicht löchern, aber sollte es um Judie gehen –" sagte er, und zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie wegwarf, „würde ich mir sie an deiner Stelle schnappen, so lange sie noch Single ist." Fuhr er fort.
Harry sah ihn überrascht an.
„Glaub mir, es fällt nicht nur mir auf, dass ihr beide gegenseitig aneinander interessiert seid." Erklärte Maurice weiter.
„Wie auch immer, ich geh mal Kate suchen. Schönen Abend noch." Meinte er noch, ehe er erst die Terrassentür, und kurz darauf auch Harrys Zimmertür hinter sich schloss.
Harry hatte gehofft, dass er seine Gefühle besser hat verbergen können.
Er seufzte.
Ein letzter Blick warf Harry noch seinem Arm zu, der nun rot und angeschwollen wirkte, jedoch nicht mehr blutete, bevor er sich, obwohl es noch recht früh war, ins Bett legte, um die vielen Ereignisse zu verdauen.
