Kapitel 3
31.10.1983
Voldemort betrachtete das Kind, das friedlich in seinem Bettchen schlief. Es würde nicht mehr lange dauern bis Harry alt genug sein würde, um Magie zu lernen. Er würde also bald einen Lehrer auswählen müssen. Die beste Entscheidung wäre ein Todesser, dem er am meisten vertraute, da momentan noch niemand über Harrys Existenz Bescheid wusste, abgesehen von der Hauselfe, die sich um das Kind kümmerte.
Der Dunkle Lord jedoch wollte Harry vor der Welt verstecken, bis die richtige Zeit gekommen war. Erst dann sollte die Welt von dem Erben Voldemorts erfahren. Harry drehte sich auf die Seite und Voldemort begann sich wieder einmal zu fragen, wie das Kind seinen Fluch hatte überleben können. Zwar hatte er sämtliche Bücher zu Rate gezogen, die er in seiner Bibliothek hatte finden können, aber keines war für ihn von irgendeinem Nutzen gewesen.
Es blieb dabei, dass niemals je ein Zauberer den Todesfluch überlebt hatte. Es war faktisch unmöglich und doch hatte Harry das Unmögliche geschafft. Der Dunkle Lord warf noch einen letzten Blick auf Harry, ging an der Hauselfe vorbei, deren Augen jeden seiner Schritte zitternd beobachtet hatten, verließ das Zimmer und begab sich wieder zu seinem Arbeitszimmer, während er im Geiste seine Anhänger durchging und überlegte, wer wohl am besten dazu geeignet wäre, seinem Erben in der Kunst der Magie zu unterweisen. Er brauchte ja nichts zu überstürzen. Schließlich würde er noch eine Weile Zeit haben. In seinem Arbeitszimmer angekommen, setzte er sich und rief einen der Hauselfen zu sich.
„ Sind Lucius, Severus und die anderen schon zurückgekehrt?", fragte er.
Als der Hauself verneinte, lehnte sich der Dunkle Lord in seinem Sessel zurück, sah in die tanzenden Flammen des Feuers und begann seinen nächsten Schachzug in diesem Krieg zu planen.
Severus Snape fluchte unterdrückt. Unglücklicherweise hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, den Phönixorden vor dem geplanten Angriff auf die Lennox Familie zu warnen. Die Zaubererfamilie kämpfte gegen den Dunklen Lord und Mr. und Mrs. Lennox waren im Orden und zudem noch hochrangige Ministeriumsbeamte, so dass es nicht verwunderlich war, dass Voldemort sie mit dem Auftrag hierher geschickt hatte, sie zu töten.
Und nun konnte er nichts tun, um die Morde zu verhindern. Angespannt wartete er bis Lucius und Narcissa Malfoy sowie Bellatrix Lestrange die Schutzbanne, die das Haus der Lennox' umgaben, so weit zerstört hatten, dass sie ungehindert in den Garten schleichen konnten. Wenig später betraten die Todesser leise das Haus und folgten der Treppe nach oben. Severus sonderte sich von den anderen ab und überprüfte die Zimmer auf der rechten Seite. Als er die Tür des letzten Zimmers aufstieß, sah er eine Frau schlafend im Bett liegen. Weil das Mondlicht auf ihr Gesicht fiel, erkannte er sie sofort.
Es war die Tochter der Lennox'. In Hogwarts war er zwei Jahre über ihr gewesen. Er starrte sie an und er wusste nicht genau warum er es tat, aber er legte einen Schlafzauber auf sie, hob die reglose Gestalt auf und versteckte die junge Frau unter dem Bett. Dann zauberte er sie unsichtbar. In diesem Moment schallten grauenhafte Schreie durch das Haus und Severus zuckte zusammen. Nachdem er mit bebenden Händen das Bett gemacht hatte, eilte er zu den anderen. Sein Herz raste und ihm war eisigkalt.
Wenn die anderen Todesser oder Voldemort jemals herausfinden würden, was er getan hatte, wollte er nicht wissen, welche Konsequenzen sein eigenmächtiges Handeln nach sich ziehen würde. Als er seine Begleiter fand, sah er Mr. und Mrs. Lennox und ihren einzigen Sohn tot auf dem Boden liegen. Lucius Malfoy sah jeden von ihnen kurz an und befahl mit kalter Stimme:
„Durchsucht das Haus, ob wir jemanden übersehen haben."
Severus folgte Lucius aus dem Zimmer, blieb stehen und wartete mit klopfendem Herzen. Sobald er sah, wie Bella aus Alison Lennox' Zimmer kam, spürte er, wie sich Erleichterung in ihm ausbreitete. Niemand hatte etwas gemerkt. Sobald die Todesser festgestellt hatten, dass sich niemand mehr im Haus befand, verließen sie es. Kaum hatten sie den Garten betreten, nahm Lucius seinen Zauberstab in die Hand und zauberte das Dunkle Mal in den Himmel. Lucius' Blick streifte ihn
„ Kommst du mit?", fragte er kühl.
Severus schüttelte den Kopf und entgegnete:
„ Nein, ich muss wieder zurück nach Hogwarts."
Der silberblonde Mann nickte und gab den anderen das Zeichen zum Aufbruch. Einen Augenblick später apparierten sie und Severus blieb allein zurück. Er seufzte erleichtert, froh, dass er diesmal nicht hatte töten müssen. Ein Geräusch ließ ihn herumwirbeln. Sirius Black und Remus Lupin standen vor ihm. Er hasste sie genauso, wie er Potter gehasst hatte.
Aber Potter hatte es geschafft sich umbringen zu lassen. Wenn es nicht für Lily gewesen wäre, hätte er zwei Jahre zuvor, überhaupt nicht getrauert. Lily war jedoch eine Freundin gewesen, die ihm vertraut und ihm geglaubt hatte, dass er nicht auf Voldemorts Seite stand. Obwohl er für Albus Dumbledore und den Phönixorden als Spion arbeitete, misstrauten ihm nach wie vor viele Mitglieder und dazu gehörten Black und Lupin. Auch Potter hatte in ihm immer einen Anhänger des Dunklen Lords gesehen. Er erinnerte sich an die Nacht vor zwei Jahren und an den Anblick, den er vorgefunden hatte, als er dort angekommen war. Warum war Godric's Hollow so zerstört worden? So etwas war nie zuvor passiert. Die Todesser zerstörten die Häuser ihrer Opfer nicht. Also weshalb hatte der Dunkle Lord damals befohlen das Haus des Potters zu zerstören?
„Konntest du uns nicht warnen? Oder bist du zu der Dunklen Seite übergelaufen?"
Sirius Blacks scharfe Stimme unterbrach Severus' Gedanken. Bevor er jedoch die Gelegenheit hatte etwas zu erwidern, erschien der Rest des Phönixordens. Albus Dumbledore sah ihn an und fragte ruhig:
"Was ist passiert?"
„ Sie sind tot, abgesehen von der Tochter. Ich habe sie unter dem Bett versteckt.", antwortete Severus müde.
Der Schulleiter von Hogwarts nickte und seufzte.
„ Wenigstens hat einer überlebt."
Eine Stunde später erreichten sie Hogwarts und Alison Lennox wurde zum Krankenflügel gebracht, wo sich Madame Pomfrey um sie kümmerte. Zu erfahren, dass ihre Familie umgebracht worden war, war ein schrecklicher Schock für sie gewesen. Als Severus den Schmerz in den meerblauen Augen der jungen Frau sah, fühlte er sich schuldig. Aber er hatte es nicht verhindern können, sagte er sich. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Er wandte sich um und wollte den Krakenflügel verlassen, als eine leise Stimme ihn zurückrief. Sie sah ihn an.
„ Danke.", flüsterte sie.
Severus blickte Alison einen Moment an und nickte kurz. Unfähig etwas zu sagen, floh er aus dem Zimmer, während seine Gedanken seltsamerweise immer noch bei Alison weilten. Als er auf dem Weg zu seinen Räumen durch die große Halle ging, merkte er noch nicht einmal, dass er an Sirius Black und Remus Lupin vorbeiging, die an einem der Tische saßen.
Sirius sah Severus nach, der aus der Halle eilte und fragte sich, was für einen Nutzen der Spion eigentlich für den Orden hatte, wenn es Snape noch nicht einmal gelang, sie zu warnen bevor jemand von ihnen umgebracht wurde. Hätte Snape sie nur damals warnen können, dass James und Lily Voldemorts nächste Opfer sein würden, hätte er selber nur erkannt, dass Peter ein Anhänger des Dunklen Lord war und hätte er nur James nicht überredet, die Sicherheit seiner Familie Peter anzuvertrauen, dann wären seine Freunde und Harry heute noch am Leben.
Aber was nützen schon all seine Wut, sein Schmerz und seine Schuldgefühle, die ihn erdrückten? Es war geschehen und keiner von ihnen konnte die Vergangenheit ändern, wie sehr sie ihn auch schmerzen mochte. Er vermisste sie so sehr und obwohl zwei Jahre seit dieser verhängnisvollen Nacht vergangen waren, war seine Trauer nicht geringer geworden. Sirius hob seinen Kopf und sah Remus an, der ihm gegenübersaß. Ihre Blicke trafen sich und auch in Remus' Augen spiegelte sich die Traurigkeit. Sirius fragte sich, ob Remus ihm mittlerweile verziehen hatte, dass seine damalige Entscheidung letztendlich zum Tode ihre Freunde geführt hatte. Jäh erinnerte er sich an den Tag, an dem er James, Lily und Harry zum letzten Mal gesehen hatte und die Trauer drohte ihn zu überwältigen. Abrupt stand er auf. Remus' fragenden Blick sehend, sagte er mit zitternder Stimme:
„ Ich gehe für eine Weile spazieren."
Sobald er das Schloss verlassen hatte, blieb er für einen Moment stehen und atmete tief die kalte eisige Luft ein. Während er langsam über die Ländereien von Hogwarts schlenderte, entschloss er sich zum Friedhof zu apparieren. Er wollte alleine sein. Sein Blick streifte den Verbotenen Wald und er balle unwillkürlich seine Fäuste. Wie oft waren James, Remus, Peter und er selber in ihrer Animagus- Gestalt doch in den Wald geschlichen. Vier Freunde, die sich ewige Freundschaft geschworen hatten. In den sternenübersäten Himmel schauend, fragte er sich wieder, warum Peter sie nur verraten hatte und ein Anhänger Voldemorts geworden war. Würde er je eine Antwort auf seine Frage finden?
Zur gleichen Zeit versuchte in London eine große, dunkelbraune Ratte einen Weg ins Zaubereiministerium zu finden. Da der Dunkle Lord plante das Ministerium zu erobern, sollte er Kenntnisse über den genauen Grundriss des Ministeriums beschaffen. Peter seufzte, während er sich zu erinnern versuchte, wo sich der Eingang befand, den er das letzte Mal benutz hatte, als er sich in das Ministerium geschlichen hatte, um Informationen zu sammeln. In den zwei letzen Jahren hatte er es nicht geschafft, ein Todesser im Inneren Kreis zu werden. Er war nicht sehr nützlich für den Dunklen Lord gewesen, nicht seit jenem Halloween.
Er hatte jedoch auch so ein Pech gehabt. Warum in aller Welthatten sie Sirius geglaubt, dass sie den Geheimniswahrer getauscht hatten? Wenn sie es nicht getan hätten, dann wäre Sirius in Askaban und er wäre immer noch im Orden und müsste sich jetzt nicht verstecken. Manchmal fragte er sich, ob es das wert gewesen war, die Menschen, die ihm vertraut hatten zu verraten, nur um ein Diener des Dunklen Lordszu werden.Er hatte jedoch keine Wahl gehabt, versicherte er sich hartnäckig, als er endlich das richtige Rohr fand, das ihn geradewegs in das Ministerium bringen würde.
