Kapitel 4
August 1984
Die große, schwarzhaarige Frau, die mit raschen Schritten den Korridor entlang hastete, fragte sich, was der Dunkle Lord von ihr wollen könnte. Es war ungewöhnlich, dass er nur einen Todesser zu sich befahl. Normalerweise wurde der gesamte Innere Kreis gerufen. Hatte sie unwissentlich seinen Ärger erregt? Nun, sie würde es sicherlich gleich erfahren. Bellatrix Lestrange klopfte an die Tür und trat ein. Sie verbeugte sich vor ihrem Gebieter und wartete. Lord Voldemort starrte sie mit seinen roten Augen durchdringend an und während er geistesabwesend seine Schlange, die es sich auf seinem Schoß gemütlich gemacht hatte, streichelte, fragte er:
„ Du hast eine Tochter nicht wahr?"
Überrascht antwortete sie:
„ Ja, mein Gebieter."
„ Ausgezeichnet. Hör zu Bella, ich werde dir eine sehr wichtige Aufgabe übertragen. Du wirst allerdings Stillschweigen darüber bewahren. Wenn du es irgendjemandem erzählst, wirst du bestraft werden. Ich habe dich dazu auserwählt meinem Sohn und Erben Lesen, Schreiben und natürlich Magie beizubringen."
Bella blinzelte völlig überrumpelt. Ein Sohn und Erbe? Sie nickte schwach.
„ Ich fühle mich geehrt, My Lord. Darf ich seinen Namen und sein Alter erfahren?", fragte sie, sobald sie sicher sein konnte, dass ihre Zunge ihr wieder gehorchen würde.
„ Sein Name ist Harry Riddle. Du wirst ihn jedoch mit My Lord anreden. Er ist vier Jahre alt."
„ Vier? Aber My Lord, er ist zu jung um Magie zu lernen. Er wird nicht fähig sein die Zaubersprüche auszuführen."
Kaum hatte sie jedoch zu Ende gesprochen, wusste sie, dass sie ihre Meinung besser für sich behalten hätte.
Ihr Gebieter hob seinen Zauberstab und sagte kalt:
„ Crucio."
Als er den Fluch wieder aufgehoben hatte, erhob er sich aus seinem Sessel.
„ Stelle niemals mehr meine Entscheidungen in Frage. Komm."
Nachdem er dieses gesagt hatte, verließ er das Zimmer. Bella stand schwankend auf und folgte ihm. In ihrem Kopf schwirrten eine Menge Fragen umher. Sie wusste, dass es nicht gerade intelligent sein würde, sie zu stellen, aber dennoch hätten sie ein paar Dinge brennend interessiert. Weshalb bestand der Dunkle Lord so sehr auf Geheimhaltung? Und wer war die Mutter des Kindes? Sie war so in Gedanken versunken, dass sie beinahe nicht gemerkt hätte, dass ihr Gebieter vor einer Tür stehen geblieben war. Der Dunkle Lord hob seinen Zauberstab und begann leise vor sich hinzumurmeln.
Kurz darauf erglühte die Tür in einem roten Licht und öffnete sich. Als sie eintraten, hob das kleine Kind, das mitten im Zimmer auf dem Fußboden saß und mit einer Hauselfe spielte, den Kopf und blickte sie mit großen, erstaunten Augen überrascht an.
Neugierig betrachtete Bella ihn. Er hatte rabenschwarzes Haar und die smaragdgrünsten Augen, die sie je gesehen hatte. Niemals zuvor hatte sie ähnliche Augen gesehen. Auf seiner Stirn hatte er eine seltsame Narbe, die wie ein Blitz geformt war. Der Junge stand auf, kam einen Schritt auf sie zu und blieb dann stehen.
Harry schaute die Frau an, während er sich fragte, wer sie wohl war. Den Mann mit den roten Augen hatte er schon einmal gesehen. Er war manchmal in sein Zimmer gekommen und hatte ihn angestarrt. Er hatte allerdings nie etwas gesagt. Harry hatte ein bisschen Angst vor ihm. Er mochte diese roten Augen nicht, die so unheimlich aussahen. Nell hatte ihm erzählt, dass es der Dunkle Lord war. Auch sie fürchtete sich vor ihm.
Nun sprach er:
„ Harry, diese Frau wird deine Lehrerin sein. Sie wird dir alles beibringen, was du fürs Erste wissen musst."
Bella ansehend, fügte er hinzu.
„Enttäusche mich nicht."
Einen Moment später hatte er das Zimmer verlassen. Harry, der immer noch überrascht war, dass der Mann ihn angesprochen hatte, fühlte sich leicht unbehaglich. Er war nicht daran gewöhnt, in anderer Gesellschaft zu sein, als in Nells und er mochte es nicht, dass diese fremde Frau ihn so seltsam anstarrte. Als sie endlich den Blick abwandte, fühlte er sich erleichtert. Stattdessen sah sie nun Nell an und sagte kühl:
„ Elfe, bring Pergament und Federkiele."
Nell nickte und verschwand, während sich Harry wieder von den stahlgrauen Augen Bellas fixiert fand.
„ So, My Lord bitte setzt Euch. Zuerst werde ich Euch Lesen und Schreiben beibringen.", sagte sie mit freundlich klingender Stimme. Harry ging zum Tisch hinüber und fragte sich, ob es Spaß machen würde etwas zu lernen und ob Nell es vielleicht auch lernen könnte.
Alison Lennox schlenderte langsam über die Ländereien von Hogwarts. Ihr Gesicht hielt sie der wärmenden Sonne entgegen. Zwei Schmetterlingen zusehend, die durch die Lüfte tanzten, fühlte sie sich glücklich. Wie schön dieser Tag doch war! Alison streckte ihre Hände aus und begann sich im Kreis zu drehen. Lachend wirbelte sie umher. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die gleißende Helligkeit schwand und Alison kam zu einem jähen Halt. Das Lachen verstummte und der strahlende Glanz in ihren Augen erlosch. Welches Recht hatte sie glücklich zu sein, während ihre Familie nicht mehr am Leben war? Wie sehr sie ihre Eltern und ihren Bruder doch vermisste. Immer noch tat es ihr weh, an sie zu denken, aber zu wissen, dass sie gegen Voldemort kämpfte, tröstete sie. Als Albus Dumbledore sie letztes Jahr gefragt hatte, ob sie nicht dem Phönixorden beitreten wolle, hatte sie nicht lange zu überlegen brauchen.
Es war selbstverständlich für sie gewesen. Auch wenn es gefährlich war, war es doch ihre Pflicht die Dunkle Seite zu bekämpfen. Die erste Zeit war schlimm gewesen. Halb wahnsinnig vor Kummer hatte sie den einzigen Sinn in ihrem Leben darin gesehen für den Orden zu arbeiten. Erst allmählich hatten sich ihre Gedanken anderen Dingen zugewandt. Und dann war da noch Severus gewesen. Der Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. Am Anfang hatte sie ihn nicht besonders gemocht.
Aber eines Nachts hatte sie gesehen, wie er von einem Todesser Treffen zurückgekommen war, immer noch bebend von einen Cruciatus- Fluch. Er hatte sich geweigert, zum Krankenflügel zu gehen und so hatte sie ihn zu seinen Räumen gebracht. Erst in jenem Augenblick war ihr bewusst geworden, dass er jedes Mal sein Leben aufs Spiel setzte, wenn er Hogwarts verließ und Voldemort ihn zu sich rief. Jederzeit konnte sein Geheimnis entdeckt werden und er als Spion enttarnt werden. Langsam waren sie Freunde geworden. Es war nicht einfach gewesen, da sein Verhalten ihr gegenüber ziemlich abweisend gewesen war und manchmal sogar wütend. Sie hatte es nicht verstanden. Enttäuscht und verwirrt war sie oftmals davor gewesen ihn zum Teufel zu wünschen und nie wieder mit ihm zu sprechen.
Sie wusste nicht warum, aber sie hatte es nie getan. Vielleicht hatte sie gespürt, wie einsam und unglücklich er war. Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei einem kleineren Gefecht leicht verletzt worden war und als sie Severus' Blick gespürt hatte und ihn angesehen hatte, hatte sie schlagartig begriffen, dass er sie liebte und dass auch sie ihn liebte. Oft hatte sie sich schuldig gefühlt, so glücklich zu sein, wie eben jetzt. ‚Aber hätten meine Eltern und mein Bruder nicht gewollt, dass ich glücklich bin?', dachte sie und starrte zur Sonne, die immer noch von Wolken verdeckt wurde.
Alison seufzte. Nun verstand sie, warum er es nicht gewollt hatte, sich einem anderen Menschen nahe zu fühlen. Er hatte sich nicht verletzlich machen wollen. Auch sie wusste nicht, ob sie es noch einmal ertragen würde können einen Menschen zu verlieren, den sie liebte. Doch wer wusste schon wie die Zukunft aussehen würde? Sie wusste, dass er sie niemals fragen würde, ob sie ihn heiraten wolle. Er würde sie nicht gefährden wollen. In diesem Fall allerdings könnte ich ihn ja fragen, dachte Alison und plötzlich fing sie übermütig an zu lächeln.
Albus Dumbledore saß hinter seinem Schreibtisch und blickte durch eines der bogenförmigen Fenster in den wolkenverhangenen Himmel hinauf. Heftiger Wind war aufgekommen und formte die Wolken zu immer, schnell vorüberziehenden, neuen Gebilden. Müde seufzte Albus auf. Er fühlte sich besiegt und hoffnungslos. Die gegenwärtige Lage war mehr als besorgniserregend. Vor drei Monaten hatte Voldemort das Ministerium erobert, sodass nicht nur der Zaubereiminister nach Hogwarts geflohen war. Auch viele Zaubererfamilien hatten entweder Zuflucht in Hogwarts gesucht oder hatten sich in Verstecke zurückgezogen. Der Phönixorden hatte so viel Zulauf bekommen, dass Albus nichts anderes übrig geblieben war, als mit seinen engsten Vertrauten die Entscheidungen, die getroffen werden mussten, zu fällen und dem Rest der Mitglieder später mitzuteilen. Aber es war die einzige Möglichkeit den Orden effizient zu führen.
Trotz all der Menschen, die gegen Voldemort kämpften, war es ihnen bisher nicht gelungen der Dunklen Seite einen vernichtenden Schlag zu versetzen und nun konzentrierte sich Tom Riddle auch noch darauf Europa zu erobern und zu unterwerfen.
Die Nachrichten von Angriffen auf dem Festland häuften sich. Seinen Informationen zufolge bildeten sich auch dort immer mehr Widerstandsgruppen. Es wäre ratsam sich mit ihnen zu verbinden, dachte Albus. Schließlich würde es wenig nutzen viele weit verstreute Widerstandsgruppen zu haben. Viel besser würde es sein sich zusammenzutun. Er würde darüber genauer nachdenken. Gedankenverloren nahm der alte Zauberer seinen Zauberstab und berührte damit die Oberfläche seines Denkariums. Er wirbelte die silberweiße Substanz umher und hielt dann inne.
Eine wunderschöne Frau erhob sich aus dem Denkarium in die Luft. Es war Lily Potter. Er seufzte tief, als sein Kummer drohte Oberhand zu nehmen. Lily, dachte er und Tränen brannten in seinen Augen. Seit der Zeit, als sie und James graduiert hatten und angefangen hatten für den Phönixorden zu arbeiten, hatten sie ihm sehr nahe gestanden.
Beide ungewöhnlich mächtige Zauberer hatten vor Allem sie ihm geholfen Strategien zu entwickeln, waren sie mit neuen Ideen zu ihm gekommen und hatten mit ihm die Bürde geteilt den Orden anzuführen. Mit der Zeit hatte er angefangen sie zu lieben, als ob sie seine eigenen Kinder wären. Lily war immer optimistisch gewesen. Sie hatte ihnen stets wieder Mut zugesprochen. Selbst als die Schreckensmeldungen von Tag zu Tag häufiger wurden, hatte sie nicht die Hoffnung verloren. Albus erinnerte sich, wie glücklich das junge Paar gewesen war, als Harry geboren worden war. Wie Lily gestrahlt hatte, als sie ihm das Baby zum ersten Mal gereicht hatte, wie stolz James auf seinen Sohn gewesen war.
Plötzlich dachte er zurück an Harrys ersten Geburtstag, an dem das Kind den größten Kuchen bekommen hatte, den jeder Gast je gesehen hatte. Der ganze Orden war eingeladen gewesen. Albus lächelte. Wie wütend Lily gewesen war, als sie entdeckt hatte, dass Sirius Harry einen kleinen Besen geschenkt hatte und dass er und James sofort versucht hatten dem Baby das Fliegen beizubringen. Er seufzte traurig. Wie glücklich diese Erinnerungen auch waren, so waren sie auch zutiefst schmerzlich. Er schaute auf Lily und sagte leise:
„ Ich hoffe, du hast Recht, dass Tom eines Tages besiegt wird. Wenn nicht, möchte ich nicht wissen, was aus dieser Welt wird. Aber du hast Recht, wir dürfen die Hoffnung niemals aufgeben."
