Kapitel 6

Sirius Black fluchte, während er sich fragte, wo um alles in der Welt sie sich gerade befanden. Albus hatte Remus und ihm die Aufgabe gegeben mit einer französischen Widerstandsgruppe in Kontakt zu treten, die in letzter Zeit einige beachtliche Siege im Kampf gegen die Todesser erzielt hatten. Nun irrten sie schon seit einer Ewigkeit durch diesen Wald und hatten immer noch keine Ahnung, welche Richtung sie einschlagen sollten. Zwar hatte ihnen Albus den ungefähren Aufenthaltsort der Widerstandsgruppe mitgeteilt, aber nach seinen Ausführungen müssten sie jetzt einen See sehen, allerdings war weit und breit kein See in Sicht. Remus, der konzentriert auf seine Karte schaute, hob kurz seinen Kopf, blickte sich um und meinte:

„ Wir sind falsch, Sirius. Hier müsste…"

„…ein See sein. Ich weiß. Ist er aber leider nicht. Sollen wir wieder zurückgehen?"

Remus schüttelte unschlüssig den Kopf und schlug vor eine kurze Rast einzulegen. Sirius stimmte zu und setzte sich zu Remus auf den Boden, der die Karte ausgebreitet hatte und nachdenklich auf eine Stelle zeigte.

„ Ich glaube, wir müssten ungefähr hier sein. Ich denke, wir sollten den rechten Pfad nehmen. Dann müssten wir eigentlich den See finden, von dem Albus gesprochen hat und ihr Hauptquartier liegt in der Nähe des Sees. Also müssen wir nur den See finden.", sagte Remus.

„Ja. Aber die Frage ist wo? Wir suchen schon seit Stunden und hier sieht alles gleich aus. Vielleicht waren wir ja schon einmal hier und sind die ganze Zeit im Kreis gelaufen.", gab Sirius gereizt zurück.

„ Was ist los?", fragte er einen Augenblick später, als er sah, wie Remus mit wachsamem Gesichtsausdruck um sich blickte.

„ Ich habe ein Rascheln gehört.", flüsterte sein Freund zurück. Sirius fasste seinen Zauberstab fester und horchte nun auch.

„ Es war wohl nur irgendein Tier.", meinte er schließlich und stand auf.

„ Hoffentlich.", entgegnete Remus, faltete die Karte zusammen und erhob sich ebenfalls.

„ Also gut, versuchen wir es mit dem rechten Weg."

„Lasst eure Zauberstäbe fallen!" erklang eine laute Stimme auf Französisch.

Sirius und Remus drehten sich langsam um. Behände kamen etwa ein Dutzend Zauberer zwischen den Bäumen hervor, die Zauberstäbe auf Sirius und Remus gerichtet, umstellten sie sie.

„ Wer seid ihr?", verlangte eine andere Stimme Auskunft.

„ Und wer seid ihr?", fragte Sirius zurück, musterte die so jäh Aufgetauchten und kam zu dem Schluss, dass diese keine Todesser sein konnten. Dennoch war Sirius nicht gewillt, als erster ihre Identität preiszugeben.

Einen kurzen Moment standen sie da und starrten sich an. Schließlich trat einer der Zauberer einen Schritt nach vorn und sagte bündig:

„ Wir kämpfen gegen den Dunklen Lord."

Sirius nickte kurz. Seine Vermutung, dass sie endlich der französischen Widerstandsgruppe gegenüber standen, bestätigt sehend, erklärte er:

„ Wir kommen aus England. Wir sind Mitglieder des Phönixordens. Albus Dumbledore hat uns geschickt."

Der Anführer der Franzosen neigte den Kopf.

„Dann kommen Sie. Wir werden das überprüfen."

Während ihnen bedeutet wurde zu folgen, las einer der Männer ihre Zauberstäbe vom Boden. Sirius fühlte sich ohne seinen Zauberstab verloren, aber wissend, dass er ihn vorerst wohl nicht zurückbekommen würde, seufzte er. Als sie, dem rechten Pfad folgend, kurze Zeit später an einen großen See vorbeikamen, warfen sich Sirius und Remus einen Blick zu. Sie erreichten das gut versteckte Lager der französischen Widerstandsgruppe und nach einer Weile fanden sie sich – ohne ihre Zauberstäbe – in einem großen Zelt wieder. Sie mussten jedoch nicht lange warten, da betraten zwei Frauen das Zelt. Beide waren schlank und hatten dunkelbraune Haare. Sie sahen sich ähnlich. Die eine allerdings hatte blaue Augen, während die andere graue hatte. Die blauäugige Frau hatte ein kleines Fläschchen in der Hand. Sie hielt es ihnen entgegen und sagte mit klarer Stimme:

„ Veritaserum. Wir müssen sicher gehen, dass Sie keine Todesser sind."

Sirius ergriff mit resignierter Miene das fragile Fläschchen, nahm einen Schluck von der farblosen, nach Nichts schmeckenden Flüssigkeit und reichte das Veritaserum an Remus weiter.

Nachdem festgestellt worden war, dass sie die Wahrheit gesagt hatten, sprach die junge Frau:

„ Ich bin Charlotte Lynley und das ist meine Schwester Emily. Unser Onkel ist der Anführer unserer Gruppe. Im Moment ist er jedoch nicht hier. Wir hatten Sie eigentlich sehr viel früher erwartet und dachten, als Sie nicht zur vereinbarten Zeit eintrafen, dass Sie heute nicht mehr kommen würden. Unser Onkel sollte aber bald zurückkehren. Dann werden Sie mit ihm sprechen können."

„Das wäre wunderbar. Wir konnten übrigens den See nicht finden, deswegen unsere Verspätung. Verzeihen Sie, dass wir nicht pünktlich kommen konnten. Ich bin Sirius Black und das ist Remus Lupin.Freut mich Sie kennen zu lernen.", erwiderte Sirius und schüttelte Charlotte die Hand. Aus ihm unerfindlichen Gründen hielt er Charlottes Hand ein Weilchen länger, als notwendig gewesen wäre. Nachdem er auch Emily begrüßt hatte, wandte Sirius sich wieder Charlotte zu und fragte neugierig.

„ Kommen Sie aus England?"

Charlotte nickte, ihre dunkelblauen Augen schimmerten traurig.

„ Ja, wir wurden dort geboren, aber als unsere Eltern ermordet wurden, kamen wir hierher um mit unserer Tante und deren Ehemann zu leben."

Während sich Sirius mit Charlotte unterhielt, ruhten Remus' Augen auf Emily, die bisher schweigend neben ihrer Schwester gestanden hatte. Remus trat zu dem einzigen Tisch, der sich im Zelt befand und einen recht wackligen Eindruck machte und stellte das Fläschchen mit dem Veritaserum, welches er immer noch in der Hand hielt, ab. Er stand nun dicht bei Emily und als sie den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Im gleichen Augenblick stützte sich Remus schwer auf den Tisch und sog scharf die Luft ein. Er hatte gespürt, dass auch Emily ein Werwolf war. Der jungen Frau musste es ebenfalls bewusst geworden sein, dachte Remus, als er Emilys aschfahles Gesicht bemerkte. Unvermittelt lächelte sie, drehte sich um und verließ das Zelt. Remus folgte ihr. Eine Weile gingen sie nebeneinander her, ohne, dass einer von ihnen sprach, bis Emily das Schweigen brach und fragte:

„Wann wurden Sie gebissen?"

Remus richtete seinen Blick auf die herbstfarbenen Blätter der Bäume und murmelte:

„ Ich war fünf Jahre alt."

Auch nach so vielen Jahren erinnerte er sich nur ungern an dieses Ereignis, das sein Leben für immer verändert hatte. Das Mitgefühl und Verständnis in Emilys grauen Augen traf ihn unvorbereitet, doch schlagartig wurde ihm klar, dass auch sie den Schmerz der Transformationen kannte, die Angst, dass jemand das Geheimnis herausfinden könnte und die Verachtung und Geringschätzigkeit, die einem unweigerlich entgegengebracht wurde, erfuhren die Menschen von seinem Zustand.

„Ich war sechzehn Jahre alt.", sagte Emily trocken.

„Kurz danach wurde ich von Beauxbatons ausgeschlossen. Die Schule konnte es sich nicht leisten, mir zu erlauben, dort zu bleiben. Wurden Sie zu Hause unterrichtet?"

Remus schüttelte den Kopf.

„ Nein, glücklicherweise konnte ich nach Hogwarts gehen. Aber dieses war nur möglich weil Albus Dumbledore es erlaubt hat – er ist ein großartiger Mensch – und wegen meinem Freund James Potter. Zu dieser Zeit war sein Vater der Zaubereiminister. James hat mir so unglaublich viel geholfen. Er war ein wunderbarer Freund und wie ein Bruder für mich."

Seine Stimme zitterte leicht. Die Erinnerungen schmerzten immer noch. Emily, die ihn aufmerksam beobachtete, berührte sacht seinen Arm.

„ Der Schmerz vergeht nie, nicht wahr?", sagte sie leise.

Remus blickte auf ihre schmale Hand. Er fühlte sich seltsam hingezogen zu der jungen Frau und bevor er wusste, was er tat, sprach er aus, was ihn seit langem quälte.

„Es passierte vor fast drei Jahren. Der Dunkle Lord ermordete James, seine Frau und seinen Sohn. Sie waren meine Familie und ich habe es nicht verhindern können. Harry war erst…ein Jahr alt."

Seine Stimme brach fast, als die Erinnerungen ihn überwältigten.

Sie sagte nichts, doch der leichte Druck ihrer Hand tröstete ihn. Ihre Augen, die ihn ansahen, umwölkten sich.

„Es sind immer die Kinder, die in einem Krieg am meisten leiden.", sagte sie einen Augenblick später und wandte sich in Richtung der Zelte, wo ein kleines Mädchen am Boden kauerte und Kastanien aufsammelte.

„Gehen wir. Mein Onkel müsste mittlerweile eingetroffen sein.", meinte Emily schließlich und langsam schlenderten sie zurück zu Charlotte und Sirius.


Das kleine Mädchen gähnte. Es war langweilig, doch sie verließ die Fensterbank, auf der sie hockte nicht und sah weiterhin aus dem Fenster. Ihre Mutter hatte gesagt, dass ihr Vater heute kommen würde und daran glaubte sie mit aller Macht. Sie versuchte sich zu erinnern, wie lange ihr Vater schon fort gewesen war, aber sie wusste es nicht. Es kam ihr bereits so unglaublich fern vor, als er ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Am nächsten Tag war er fort gewesen.

„Carolina, es reicht! Komm sofort da runter."

Caro zuckte zusammen, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte. Sie wagte jedoch nicht zu widersprechen, sodass sie widerwillig von der Fensterbank rutschte. Einen Blick zurückwerfend, blieb sie plötzlich stehen.

„Papa.", flüsterte sie glücklich und wie der Wind sauste sie die Treppe hinunter und lief zu den großen Flügeltüren. Sich auf die Zehenspitzen stellend, versuchte sie die Klinke zu erreichen. Zwar gelang es ihr, doch sie schaffte es nicht, die schweren Türen zu öffnen. Sie sah hoch zu ihrer Mutter und wollte fragen, ob sie ihr nicht helfen könnte. Ihre Mutter aber war verschwunden. So blieb Caro nichts weiter übrig, als zu warten. Die Zeit wurde ihr lang, als sie auf die Türen starrte. Dann gingen sie endlich auf und der große, schwarz gekleidete

Zauberer breitete die Armen aus.

Das kleine schwarzhaarige Mädchen lachte, während es von seinem Vater durch die Luft gewirbelt wurde.

Die Arme um ihn schlingend, sagte sie:

„ Jetzt wirst du nie mehr fortgehen, nicht wahr?"

Ihr Vater schüttelte seufzend den Kopf.

„ Ich werde noch öfter fortgehen müssen, Prinzessin. Aber ich werde immer wieder zurückkommen."

Caro verdrängte ihre Enttäuschung.

„ Versprichst du es mir?"

„ Ja, mein Liebling. Ich verspreche es dir."

Getröstet kuschelte sich Caro an ihren Vater. Glücklich darüber, dass sie sich endlich wieder geborgen fühlen konnte.