Kapitel 9
April 1986
Es war später Nachmittag und der erste schöne Tag seit Wochen, in denen sich Regen mit Schnee abgewechselt hatte. Kalt und neblig war es draußen einfach ungemütlich gewesen, sodass niemand Hogwarts verlassen hatte, wenn es nicht unbedingt notwendig gewesen war. In der Nähe des Sees saßen Sirius, Remus, Charlotte und Emily zusammen auf einer Decke und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen.
Seit sie sich in Frankreich kennen gelernt hatten, waren sie gute Freunde geworden. Als der Phönixorden und die französische Widerstandsgruppe begonnen hatten zusammenzuarbeiten, waren die zwei Schwestern oft nach Hogwarts gekommen, hatten Nachrichten überbracht oder hatten Albus' Aufträge in Empfang genommen. Remus und Emily hatten sich verliebt und vor einigen Wochen hatte Remus endlich genügend Mut aufgebracht und die junge Frau um ihre Hand gebeten. Emily hatte überglücklich eingewilligt. Wenig später war sie nach Hogwarts gezogen.
Als der Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste ermordet worden war, hatte Albus Dumbledore händeringend nach einem Ersatz gesucht und schließlich den vier jungen Auroren die Position angeboten, sodass auch Charlotte nach Hogwarts übergesiedelt war.
Es war zwar nicht einfach sich die Position zu teilen, aber da sie sich über den Unterricht absprachen, hatte diese Regelung bisher gut funktioniert. So fielen wenigstens nicht zu viele Stunden aus, wenn dringende Aufgaben für den Orden erledigt werden mussten. Das Fach Zaubertränke wurde ebenfalls abwechselnd von Severus Snape und seiner Frau unterrichtet. In Hogwarts war es ein offenes Geheimnis, dass die Schüler Alison Lennox sehr viel lieber mochten als Professor Snape.
Während die vier Freunde gemütlich beisammen saßen, kamen viele Leute an ihnen vorbei. Seitdem Hogwarts ein Zufluchtsort geworden war und ein Ort, den der Dunkle Lord noch nicht erobert hatte – trotz einiger Versuche dieses zu tun – war es beinahe eine kleine Stadt geworden. Sogar einige Muggel Kinder, deren Eltern umgebracht worden waren, lebten hier. Da der Dunkle Lord und seine Todesser in den letzten Jahren so viele Muggel getötet hatten, war es nahezu unmöglich geworden die magische Welt noch länger geheim zu halten. Es würde nicht mehr lange dauern und die Muggel würden herausfinden, dass neben der ihrigen noch eine andere Welt existierte. An diesem Tag aber dachten die vier jungen Leute nicht daran, dass sich die magische Welt am Rande einer Katastrophe befand.
„ Hast du gehört, dass Charlie Weasley ein ausgezeichneter Flieger sein soll? Wenn einer der älteren Schüler nächstes Jahr mit der Schule fertig ist, wird er bestimmt in die Quidditch Mannschaft kommen." sagte Sirius gerade und sein Blick schweifte in Richtung des Quidditchfeldes.
„ Vielleicht wird Gryffindor dann wieder einmal gewinnen!", erwiderte Remus und biss in seinen Apfel.
Seitdem Remus, Sirius und ihre Freunde von der Schule abgegangen waren hatte Gryffindor es nicht ein einziges Mal geschafft den Quidditchpokal zu erringen. Letztes Jahr hatte Hufflepuff gewonnen und dieser unerwartete Sieg hatte fast die ganze Schule geschockt. In den Jahren zuvor war der heiß begehrte Preis hauptsächlich den Slytherins überreicht worden und das, obwohl sich die Anzahl der Schüler in Slytherin über die Jahre sehr verringert hatte. Die Todesser, die den Dunklen Lord öffentlich unterstützten schickten ihre Kinder nicht nach Hogwarts.
Diejenigen die ihn unterstützen, aber Masken trugen und versuchten der Welt das Gegenteil zu beweisen, erlaubten ihren Kindern den Besuch der einzigen Zaubererschule Englands. Natürlich hatten nicht alle Slytherin Schüler Todesser als Eltern, aber es waren viele.
Während sich Sirius und Remus über Quidditch unterhielten, tauschten Charlotte und Emily ein Lächeln aus. Beide wussten, wie Quidditch begeistert ihre Freunde waren. Über Hobbys oder andere unwichtige Dinge zu reden war jedoch bitter notwendig in diesen schrecklichen Zeiten, in denen man fortwährend von Angst erfasst wurde, um sein eigenes Leben kämpfen musste und Mord, Folter und furchtbare Tragödien miterleben musste. Sie alle litten sehr unter dem Krieg, jeder von ihnen hatte Narben auf der Seele davongetragen, aber sie hatten keine andere Wahl als weiterzuleben und zu kämpfen.
Emily lehnte sich an die mächtige Kastanie und betrachtete Remus, während sie mehr seiner Stimme als seinen Worten lauschte. Sie liebte ihn und wäre der Krieg nicht gewesen, wäre sie zweifelsohne wunschlos glücklich gewesen. So aber plagten sie zahlreiche Ängste. Hatten sie überhaupt eine Zukunft? Sie wusste, wie hart es für Severus und Alison, mit der sie sich angefreundet hatte, war. Ihre Heirat wurde sehr von der Notwendigkeit sie geheim zu halten belastet und immer vorsichtig zu sein, ja nichts zu verraten, unter dem täglichen Stress und unter Severus' Arbeit als Spion.
Sie würde es nicht ertragen können, sollte Remus etwas zustoßen, dachte Emily und spürte wie eine eisige Kälte sie erfasste. Sie verstanden einander wie niemand sonst es konnte und Emily konnte sich nicht mehr vorstellen ohne ihn zu leben. Für einen Moment gruben sich ihre Nägel in ihre Handflächen. Remus saß ihr gegenüber und es ging ihm gut, versicherte sie sich selber. Der singende hohe Ton eines Phönixes, den ihr Armband unvermittelt von sich gab, ließ sie zu Eis erstarren. Sie blickte auf das schmale silberne Band und las die leuchtende Botschaft, die dort erschienen war:
‚Angriff in Cheltenham!'
Vor einem Jahr war ein Mitglied des Phönixordens auf die Idee gekommen die Armbänder zu benützen und sie waren verblüfft gewesen, welche ungeahnten Vorteile diese Methode mit sich brachte. Sich so schnell untereinander zu verständigen, war vorher nicht möglich gewesen. Auch ermöglichten die Armbänder ihnen die Schutzzauber, die Hogwarts umgaben, zu passieren, ohne irgendwelche komplizierten Zaubersprüche aufzusagen, wie sie es vorher getan hatten.
Emily stand auf und blickte auf. Jegliche Freude und Unbeschwertheit war aus den Gesichtern ihrer Schwester und den von Remus' und Sirius' verschwunden. Zurück blieb nur grimmige Entschlossenheit. Zusammen liefen sie zum Apparationsplatz und Emily streckte ihre Hand aus. Remus ergriff sie und für einen flüchtigen Augenblick sah sie dieselbe Furcht in seinen Augen. Würden sie den heutigen Tag überleben? Wenig später waren die jungen Auroren verschwunden, um das zu tun, was sie langsam zerstörte.
Eine Stunde später kümmerte sich Poppy Pomfrey um die Opfer des Angriffs in Cheltenham. Verzweifelt versuchte sie den vielen Verletzten zu helfen. Der Krankenflügel hatte magisch vergrößern werden müssen, da er zu klein gewesen war. Als Poppy einen der Verwundeten versorgt hatte, starrte sie auf den vor ihr liegenden Anblick.‚Wem sollte sie zuerst helfen?' Die Entscheidung wurde ihr jedoch abgenommen. Remus Lupin, dicht gefolgt von einer aufgelösten Emily, kam zur Tür hereingestürzt.
In seinen Armen trug er eine bewusstlose Frau.
„ Poppy, schnell! Sie wurde von einem Crutiatus Fluch getroffen.", schrie er und legte die Frau vorsichtig auf ein Bett, von dem er zwei junge Zauberer herunterscheuchte. Poppy eilte zu Remus und Emily und erkannte den Grund für die besorgten Gesichter. Es war Alison, die Frau von Severus Snape, die sie sehr gern hatte.
„ Wird sie überleben?" fragte Remus zögernd.
Poppy nickte leicht.
„ Ich denke schon, aber sie hat ihr Kind verloren.", seufzte Poppy traurig.
Es war nur wenige Wochen her gewesen, als Alison zu ihr gekommen war und sie ihre zwei Monate weite Schwangerschaft entdeckt hatten. Die junge Frau war so glücklich gewesen.
Remus drehte sich um, fluchte und stürzte davon, um wieder zu kämpfen, während Emily bei Alison blieb und ihre Hand hielt. Mitleid erfasste sie, als sie in Alisons bleiches Gesicht starrte. Sie strich Alison eine Strähne aus der Stirn und die vielen Verletzten ansehend und dann Poppy, fragte sie:
„ Wie kann ich helfen?"
