Kapitel 10

August 1986

Während die Sonne gleißend am Himmel stand und der leichte Wind durch die Gipfel der Bäume wehte, durchströmte Harry wieder ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit. Seinen Besen fester fassend, flog er jauchzend immer höher hinauf. Sooft er flog, fühlte er sich glücklich. Leider jedoch gelang es ihm längst nicht so häufig in den Park zu schleichen, wie er es sich gewünscht hätte.

„ Nicht so schnell, Harry. Ich mag das nicht." zischelte Diamond.

Harry lachte und blickte auf seine kleine Schlange, die sich eng um seinen Arm gewickelt hatte. Nell hatte sich über die Monate daran gewöhnt hatte zu fliegen, seine Schlange jedoch mochte es überhaupt nicht, wenn er seine Geschwindigkeit steigerte oder Loopings flog. Einen Augenblick später landete Harry auf dem Boden, senkte seinen Arm und sagte:

„Wenn du es nicht magst, dann geh von meinem Arm herunter und bleibe auf dem Boden."

Das schwarzsilberne Reptil zischelte wütend und glitt von Harrys Arm und schlängelte sich ins hohe Gras, in dem der schwarzhaarige Junge Diamond ziemlich schnell aus den Augen verlor. Gerade als Harry wieder auf seinen Besen steigen wollte, hörte er seltsame Klänge. Es hörte sich an wie Singen. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches gehört. Der Gesang war wunderschön. Auch Nell lauschte wie gebannt. Harry schaute sich um und sah etwas durch einige Sträucher schimmern. Neugierig begann er in die Richtung zu gehen, aus der das Singen ertönte. Er bog die grünen Zweige beiseite und hielt den Atem an.

Es war ein Phönix. Mit großen Augen starrte Harry auf den magischen Vogel. Er war schwarz, aber es war kein richtiges schwarz. Wenn das Licht seine Federn traf, schimmerten verschiedene Farben durch. Harry umrundete den Strauch und kniete sich hin. Der Phönix wandte sein Köpfchen und sie sahen sich an. Schwarze glitzernde Augen richteten sich auf ihn. Harry streckte vorsichtig seine Hand und streichelte über die weichen Federn. Der Phönix ließ es geschehen.

„Du bist wunderschön, nicht wahr? Willst du bei mir bleiben?", fragte Harry und war nicht im Mindesten erstaunt, als der Phönix trillerte und seinen Kopf neigte.

„ Ich werde bei dir bleiben.", sang sie.

Harry lächelte, aber dann fiel plötzlich etwas ein, was er in einem seiner Bücher gelesen hatte.

„Warum kann ich dich verstehen? Ich dachte, dass es unmöglich für einen Menschen ist, magische Wesen zu verstehen."

„Ich weiß es nicht. Ich spüre etwas Seltsames in dir, ähnlich einem Phönix."

Die Antwort überraschte Harry. Da er sich jedoch keinen Reim darauf machen konnte, zuckte er die Achseln. Er bewunderte das bunt schimmernde Gefieder des Phönixes und hatte eine Idee.

„Darf ich dich Rainbow nennen?"

„ Wenn du willst. Ich mag es."


Die junge Frau stand reglos wie eine Statue am Ufer und starrte mit leerem Blick auf den See hinaus. Ihr langes goldblondes Haar war stumpf und ihre Augen hatten ihr einstiges Strahlen verloren. Fröhliches Lachen schallte hinüber und Alison zuckte zusammen. Sie wandte sich um und erblickte zwei kleine Kinder, die miteinander spielten. Einen winzigen Augenblick sah sie ihnen zu. Dann drehte sie sich jäh um und ging mit schnellen Schritten davon. Wütend schlug sie ihre Hand gegen einen Baum, an dem sie vorbeikam. Aufschluchzend glitt sie langsam zu Boden. Sie konnte es nicht ertragen, zu wissen, dass es ihre Schuld gewesen war. Wäre sie nicht nach Cheltenham gegangen, hätte sie ihr Kind nicht verloren. Alison krallte ihre Finger in die Rinde und presste ihre Wangen gegen den Baumstamm.

Sie hatte es geliebt den See zu betrachten, über die Wiesen zu laufen und durch die Wälder zu streifen, doch seit jenem verhängnisvollen Tag hatte alles nur eine ungeheuerliche Gleichgültigkeit in ihr hervorgerufen. Nur an ihr verlorenes Kind konnte sie denken, sie malte sich aus, wie es eines Tages ausgesehen hätte, sprach mit ihm. Selbst in ihren Träumen verfolgten sie ihre Verzweiflung und Selbstvorwürfe. Emily und Charlotte hatten versucht, sie aufzumuntern, aber sie verstanden sie nicht. Sogar Severus verstand sie nicht. Die letzten Monate hatten sie sich nur noch gestritten. Alison begann zu schluchzen, als ohnmächtige Wut auf den Krieg in ihr aufstieg; der Krieg, der ihr Kind getötet hatte.

Was hatte es noch für einen Sinn weiterzuleben? Sie hatte ihr Kind verloren. Unvermittelt spürte sie starke Arme, die sie umfassten und während Severus sie an sich zog, wehrte sie sich nicht gegen seine Berührung. Weinend klammerte sie sich an ihn. Blind vor Tränen hob sie ihren Kopf. Sie hielten sich und küssten sich, als ob sie sich nie wieder loslassen wollten und Alison begriff, dass ihr Leben doch noch einen Sinn hatte.


Die eiligen Schritte der Kinder hallten durch das düstere Schloss, als sie die breite Treppe hinunterliefen. Ein Todesser, der am Fuße der Treppe auftauchte, schnalzte missbilligend mit der Zunge und die zwei Kinder verlangsamten ihr Tempo, während sie sich einen Blick zuwarfen. Das schwarzhaarige Mädchen, das knapp ein Jahr älter war, als der silberblonde Junge an ihrer Seite, ging voraus und führte sie durch verschachtelte Gänge zu einer kleinen Terrasse. Die wenigen Stufen hinuntergehend, betrat Caro den grünen Rasen. Draco sprang hinterher.

„Und was sollen wir jetzt machen?", fragte er mit gelangweilter Stimme.

„ Es wird bestimmt ewig dauern, bis sie fertig sind.", fügte er hinzu und dachte an die Todesser Versammlung, der ihre Eltern gerade beiwohnten. Wie gern wäre auch er dabei gewesen. Das wäre wenigstens aufregend anstatt dieser Warterei. Leider hatte Draco seinem Vater nur die Erlaubnis abgerungen, ihre Eltern zum Schloss des Dunklen Lords begleiten zu dürfen, aber nun sah er, dass sie auch genauso gut zu Hause hätten bleiben können. Eine Bewegung am Horizont zog jedoch plötzlich seine Aufmerksamkeit auf sich. Er kniff die Augen zusammen und rief:

„Da fliegt jemand! Komm!"

Caros Blick folgte seinem ausgestreckten Arm.

„Warte, Draco. Du weißt, dass unsere Eltern uns verboten haben das Schloss zu verlassen."

Draco jedoch ignorierte Caros Einwand und begann in die Richtung zu laufen, wo er die Gestalt gesehen hatte. Caro zuckte die Achseln und begann ebenfalls zu laufen. Außer Atem blieben sie schließlich stehen, richteten ihre Augen himmelwärts und bewunderten die steilen Sinkflüge. Draco pfiff anerkennend und als der schwarzhaarige Junge eine Weile später auf den Boden landete, trat Draco aus dem Schatten der Bäume heraus und fragte:

„Wer bist du?"

Der fremde Junge wirbelte herum und starrte sie aus großen erschrockenen Augen an, jedoch schien er sich kurz darauf zu entspannen.

„Ich bin Harry. Und ihr?", antwortete er.

„Mein Name ist Draco Malfoy und das ist Carolina Lestrange."

„Caro.", unterbrach ihn das Mädchen.

Draco nickte und fuhr fort:

„Sehr erfreut dich kennen zu lernen. Du fliegst übrigens toll. Wir fliegen auch. Wie wär's, wir könnten doch einmal zusammen Quidditch spielen?", schlug Draco erwartungsvoll vor.

Harry lächelte und sagte dann:

„Ja, warum nicht? Wir müssen aber vorsichtig sein, da ich nicht draußen sein darf. Mein Vater hat es verboten. Bitte sagt niemanden, dass ihr mich getroffen habt."

Draco zog eine Augenbraue hoch. Bevor er jedoch den Mund aufmachen konnte, fragte Caro mit gerunzelter Stirn.

„Verboten? Warum? Und was sagt deine Mutter dazu?"

Harry blinzelte sie an.

„ Ich weiß es nicht. Ich habe keine Mutter.", sagte er langsam.

Eine laute wütende Stimme ließ die Kinder herumwirbeln.

„Draco! Wo steckst du?"

„ Das ist mein Vater. Wir müssen gehen. Wir kommen bestimmt bald wieder.", seufzte Draco, während er sich fest vornahm seinen Vater zu überreden sie morgen ebenfalls zum Schloss des Dunklen Lords mitzunehmen, diesmal allerdings mit ihren Besen.

Harry nickte enttäuscht.

„Das wäre schön. Ich würde so gern mit euch Quidditch spielen. Aber bitte sagt euren Eltern nichts."

Caro schüttelte den Kopf.

„Wenn du das nicht willst, werden wir nichts sagen. Tschüss Harry."

Draco warf dem schwarzhaarigen Jungen noch einen Blick zu, drehte sich dann auch um und zusammen mit Caro verschwand er zwischen den Bäumen.


Später in der Nacht wälzte sich Harry ruhelos von einer Seite zur anderen. Da seine Gedanken mit den heutigen Geschehnissen beschäftigt waren, gelang es ihm einfach nicht einzuschlafen. Er war so glücklich, dass er Draco und Caro getroffen hatte. Endlich würde er Freunde haben mit denen er spielen konnte. Ob sie wohl morgen kommen würden?

Caro hatte ihm jedoch etwas zum Nachdenken gegeben. Zum ersten Mal in seinem Leben machte sich Harry Gedanken über seine Mutter und fragte sich warum er keine hatte. Wo war sie? Was war mit ihr passiert? Er weigerte sich zu glauben, dass sie ihn verlassen hatte. Sein Kissen eng an sich drückend, verspürte er ein schmerzhaftes Sehnen. Doch wonach genau, vermochte Harry nicht zu sagen. Als er schließlich einschlief, träumte er von einer schattenhaften Frau, die ihn im Arm hielt und ihm ein Schlaflied vorsang. Ihr Gesicht konnte er jedoch nicht sehen.

So tief schlief Harry, dass er nicht merkte, wie der Dunkle Lord sein Zimmer betrat, zu seinem Bett ging, stehen blieb und ihn betrachtete. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. Mit sechs Jahren war Harry nunmehr alt genug, um zu lernen, wer zu seinen zahlreichen Feinden zählte, eingenommen dieser alte Narr Dumbledore und vor allem musste das Kind seinen Platz in der Welt lernen. Der Junge war intelligent und das würde seinen Unterricht zweifelsohne vereinfachen.

Auch würde er ihm Parselmagie beibringen. Da Harry diese Gabe nun einmal besaß, wäre es Dummheit sie nicht auch zu nutzen. Zufrieden fuhr sich Voldemort mit der Hand über sein Kinn und frohlockend dachte er, dass Harry bald fähig sein würde ihm zu helfen die Welt zu beherrschen. Jedenfalls in einigen Jahren, schränkte der Dunkle Lord seine Erwartungen resignierend ein.