Kapitel 21

Sirius Black stöhnte, während er Remus fester um die Taille packte.

„ Schaffst du es noch eine Weile?"

Doch in dem Moment spürte er, wie sein Freund ohnmächtig gegen ihn sackte. Fluchend gelang es ihm gerade noch Remus nicht fallen zulassen und ihn beinahe sanft auf den Boden zu legen. Er setzte sich, nach Luft schnappend daneben. Wachsam spähte er umher, aber als er nichts Auffälliges entdecken konnte, seufzte er erleichtert auf, während er sich mit der Hand durch sein Haar fuhr. Er war erschöpft und er hätte nichts lieber gewollt, als sich hinzulegen und zu schlafen, aber er wusste, dass er Remus irgendwie auf den schnellsten Weg nach Hogwarts bringen musste.

Die Situation hätte schlimmer nicht sein können. Zwar waren sie um haaresbreite mit ihrem Leben davongekommen, aber sie hatten in dem schrecklichen Kampfgetümmel beide ihre Zauberstäbe verloren und Remus war verwundet worden. Sei verdammt Voldemort, dachte Sirius. Gegen ihn und seine tausende Todesser hatten sie keine Chance gehabt. Es waren zu viele gewesen. Er sah auf Remus' aschfahles Gesicht und widerstrebend wurde ihm klar, dass er es einfach wagen würde müssen. Eine Apparation war die einzige Möglichkeit.

Er war so müde, dass er kaum mehr die Augen offen halten konnte und Remus brauchte unbedingt Hilfe. Nur war er noch nie in so einer schlechten Verfassung appariert und er wusste nur zu gut, welche Folgen das nach sich ziehen konnte. Abgesehen davon musste er ja auch noch Remus mitnehmen und eine Doppelapparation war schon unter normalen Umständen schwierig. Sirius kniete sich hin, umfasste Remus Arm und holte entschlossen Luft, während er zu Gott betete, dass er sie nicht zersplintern würde. Dann begann er sich zu konzentrieren.


Zur gleichen Zeit schritt der Dunkle Lord zornentbrannt durch sein Zimmer. Seine roten Augen glühten in einem furchterrengenden Licht. Jäh blieb er stehen, drehte sich um und maß die drei Personen, die vor ihm knieten, mit eiskaltem Blick.

„ Wie ist es möglich, dass ihr nicht in der Lage wart, ihn in einer Woche zu finden!", flüsterte er gefährlich leise.

Während er auf Lucius, Bella und Narcissa starrte, spürte er, wie rasende Wut ihn durchzuckte. Wie hatten diese Idioten seinen Sohn verlieren können? Seinen Erben? Als er vor einer Viertelstunde von seinem Aufenthalt in Frankreich zurückgekehrt war – es hatte länger gedauert, den Widerstand zu brechen, als er eigentlich geplant hatte – und erfahren hatte, dass Harry und seine Freunde vor einer Woche verschwunden waren und dass Lucius, Bellatrix und Narcissa es bisher nicht geschafft hatten, sie zu finden und es doch tatsächlich gewagt hatten ihn nicht sofort zu informieren, da hatte er vor Wut gekocht. Ohne zu fragen was genau passiert war, hatte er sie mit dem Cruciatus- Fluch belegt, solange bis ihre markerschütternden Schreie seinen Zorn etwas besänftigt hatten.

„ My Lord, wir haben ihnen Briefe als Portschlüssel geschickt, aber es hat nichts genutzt und wir haben sie überall gesucht, aber sie sind nirgends zu finden.", sagte Lucius mit heiserer Stimme.

Der Dunkle Lord runzelte nachdenklich seine Stirn. Er konnte nicht glauben, dass die Kinder entführt worden waren. Aber was war der Grund für ihr Ausreißen? Briefe, die in Portschlüssel umgewandelt worden waren, nutzen natürlich nichts, schließlich hatte er selbst Harry beigebracht, sehr vorsichtig gegenüber allem zu sein, was er bekam, so dass er davon ausgehen konnte, dass Harry jeden Brief überprüfen würde. Konnte es sein, dass er vor den Folterungen, die er lernen sollte, geflohen war?

Als er an seinen Spaziergang mit Harry im Park zurückdachte, als der Junge ihn gefragt hatte, ob er denn wirklich lernen müsse, wie man foltert und tötet, kam Voldemort der Gedanke gar nicht so abwegig vor. Der Grund war jetzt allerdings nicht so wichtig, es war viel dringender, dass er Harry so schnell wie möglich fand. Zum Glück hatten die Malfoys und Bella wenigstens so viel Verstand gehabt, um das Verschwinden der Kinder geheim zuhalten. Gar nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Phönixorden davon erfahren hätte.

Dieser Dummkopf Dumbledore hätte Tag und Nach gesucht, um die Kinder zu finden. Während er über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, wie er sie finden konnte, hielt er plötzlich seinen Atem an. Natürlich! Sich verfluchend, dass er nicht eher daran gedacht hatte, machte er sich sofort auf den Weg, um herauszufinden, ob er Recht hatte. Sekunden später wusste er, dass eine kleine gewisse Elfe auch nicht mehr gesehen worden war, seit die Kinder verschwunden waren. Wieder in seinem Arbeitszimmer trat er lächelnd zu seinen Schreibtisch, zog ein Blatt Pergament hervor und hielt inne. Er musste vorsichtig sein, durfte nichts überstürzen.

Andernfalls konnte es leicht geschehen, dass er den Jungen für immer verlieren würde. Obwohl, es gab selbstverständlich immer eine Möglichkeit. Selbst wenn alles fehlschlagen würde. Aber vielleicht konnte er es noch verhindern. Als ein Plan sich in seinem Kopf zu formen begann, spürte er, wie sein Zorn langsam verrauchte. Noch war nichts verloren. Zuversichtlich begann er eine kurze Nachricht zu schreiben. Dann befahl er Lucius, es zu Harry zu schicken, streckte seine Hand aus und begann zu flüstern.


Es war früh am Nachmittag, als Harry, Caro und Draco auf der weichen blauen Decke saßen und sich ausruhten. Obwohl es kalt war, war es doch ein wunderschöner Tag. Eher ungewöhnlich für April, aber die Sonne schien und wärmte sie angenehm, während ein leichter Wind blies. Sie hatten gerade Quidditch gespielt. Nachdem sie so viele Monate nicht imstande gewesen waren, zu spielen, konnten sie nun gar nicht mehr damit aufhören, solchen Spaß machte es ihnen. Harry lächelte glücklich, während er seine Tasse Tee fester umfasste, einen Schluck von der heißen Flüssigkeit nahm und seinen Blick umherschweifen ließ.

Draco aß gerade ein Sandwich, Caro hatte ihr Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen und bräunte sich, Diamond hatte sich zusammengerollt und schlief und Nell knabberte an einem Kuchenstück. Ein Stück entfernt von ihnen war Peter Pettigrew indessen damit beschäftigt, die Zweige und Äste der verwilderten Hecke zurechtzustutzen. Da er es ohne Magie tun musste, arbeitete er schon den ganzen Tag daran. Harry grinste leicht, Peter war in den letzten Tagen wirklich nützlich gewesen. Er war sogar zweimal in die Winkelgasse gegangen und hatte eingekauft. Die eine Woche, seit dem sie hier angekommen waren, war einfach phantastisch gewesen.

Jeden Tag hatten sie Quidditch gespielt, hatten miteinander geredet, gelacht oder hatten ein bisschen an den immer noch nicht fertigen Kleinigkeiten gearbeitet, die im Haus oder im Garten noch zu erledigen waren. Draco hatte sich von seinen schrecklichen Erlebnissen erholt, jedenfalls hoffte Harry das. Die ersten Tage war er ziemlich zugeknöpft gewesen, mittlerweile schien es ihm jedoch besser zu gehen. Das einzig unerfreuliche waren die vielen Briefe gewesen, die sie von Bella und Dracos Eltern bekommen hatten. Ansonsten war alles wunderbar gewesen. Harry hätte sich nie vorstellen können, dass es so sein würde. So rundum traumhaft.

Ein leiser, qualvoller Schrei riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Sein Tee schwappte über und lief ihm heiß über die Hand, aber er spürte es nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Nell gerichtet, deren Gesicht voller Angst und schmerzverzerrt war. Sie schaffte nur mit erstickter Stimme zu sagen:

„ Gebieter ruft."

Dann, mit einem leisen Geräusch, verschwand sie. Harry sah fassungslos zu Caro und Draco, die mit weißen Gesichtern auf die Stelle starrten, wo gerade noch Nell gesessen hatte. Harry fühlte, wie Angst ihn packte. Ein Flügelschlagen ließ sie zusammenzucken und im gleichen Moment traf Harry etwas am Kopf. Es war ein einzelnes weißes Blatt Pergament. Grazil, beinahe anmutig flatterte es zu Boden, wo es liegen blieb. Mit klopfenden Herzen blickte Harry auf die klare eckige Handschrift seines Adoptivvaters.

Harry,

Wenn du nicht willst, dass ich deine Hauselfe zufällig verfluche, würde ich vorschlagen, dass du sofort nach Hause kommst!

Vater

Harry starrte auf das Pergament und konnte es nicht glauben, dass alles vorbei war. Er wusste, dass er zurückgehen musste. Er konnte es einfach nicht zulassen, dass sein Adoptivvater Nell tötete. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sein Adoptivvater genau das tun würde. Ein Hauself mehr oder weniger machte für ihn keinen Unterschied. Harry schluckte. Er hatte jedoch keine Wahl. Wenn er wollte, dass Nell am Leben blieb, musste er zurückkehren. Besiegt hob er seinen Kopf und sah wortlos seine Freunde an. Draco beobachtete ihn, sein Gesicht verzog sich und er hob abwehrend seine Hände.

„ Nein, nein , nein. Sag mir nicht, dass wir nur wegen einem verdammten Hauselfen zurückgehen müssen!"

„Draco, wie kannst du so etwas nur sagen? Du weißt, dass Harry Nell liebt. Und ich…ich tue es auch. Wir müssen zurückkehren.", sagte Caro mit zitternder Stimme.

Dracos Augen weiteten sich entsetzt.

„ Aber…aber ich kann nicht zurück! Mein Papa wird mich umbringen!"

Harry sah seine Freunde an und sagte mühsam.

„ Ihr könntet hier bleiben, wenn…"

„ Vergiss es, Harry! Nichts wird uns dazu bringen hier zu bleiben, während du zurückgehen musst! Wenn wir zurückkehren, dann gehen wir alle zusammen.", rief Caro aus.

„ Nicht wahr, Draco?", fügte sie hinzu.

Draco zögerte einen Moment und nickte schließlich.

„ Sie werden furchtbar wütend sein.", wandte Harry ein und als er Dracos unglückliches Gesicht bemerkte fuhr er fort.

„ Es wäre wirklich besser, wenn ihr hier blieben würdet. Es würde mir nichts ausmachen. "

Draco schnaubte und schüttelte seinen Kopf.

„ Harry, entweder wir bleiben alle hier oder wir gehen alle zurück. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wenn du nämlich zurückgehst, dann wird der Dunkle Lord sowieso erfahren, wo wir sind. Ja, ich weiß, dass du uns nicht verraten würdest, aber ein Tropfen Veritaserum würde zum Beispiel schon ausreichen. Außerdem gibt es auch noch andere Möglichkeiten."

Harry seufzte traurig, sah jedoch widerstrebend ein, dass Draco völlig Recht hatte.

Er streckte sein Hand aus, packte Diamond in seine Tasche und sah auf. Ihre Blicke trafen sich und für einen kurzen Augenblick herrschte ein so tiefes Verständnis und Vertrauen zwischen ihnen, dass Harry schlagartig begriff, wie unglaublich viel Caro und Draco ihm bedeuteten.

„ Dann sollten wir wohl besser packen gehen.", sagte Harry flach und sah sich nach Pettigrew um. Er konnte ihn nirgendwo entdecken.

Wahrscheinlich war er ins Haus gegangen, um eine Pause zu machen, dachte Harry. Davon, dass Nell verschwunden war, hatte er wohl nichts mitbekommen. Während sie langsam über den Rasen schritten, bemühte er sich, die Tränen wegzublinzeln. Er hatte das seltsame Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wie hatte er nur vergessen können, dass Hauselfen magisch an ihre Besitzer gebunden waren? Natürlich hatte Nell nicht aufgehört der Besitz des Dunklen Lords zu sein, als sie angefangen hatte, für ihn zu sorgen. Die Hilflosigkeit, die in ihm aufstieg, machte ihn wütend. Ein einziger Fehler und alles war kaputt!

Und nun? Was würde jetzt geschehen? Er wollte nicht lernen, wie man folterte und tötete! Im Haus angekommen stürmte er die Treppe hoch in sein Zimmer, wo er nach seinen Sachen griff und sie heftig in einen der Koffer warf, die sie im Schloss gefunden hatten. Er bezweifelte, dass er und seine Freunde noch einmal eine Möglichkeit finden würden, aus dem Hauptquartier des Dunklen Lords zu fliehen. Zehn Minuten später trafen sie sich in der Halle.

„ Was machen wir mit Pettigrew?", fragte Caro, während sie begann ihre Sachen aus dem Wohnzimmer einzusammeln. Harry zuckte die Achseln.

„ Er kommt mit. Er kann sich ja wieder in eine Ratte verwandeln. Aber er wird bestimmt nicht hier bleiben. Ich geh ihn mal suchen."

Harry drehte sich um und ging in den Garten. Nachdem sich Pettigrew ziemlich widerwillig wieder in seine AnimagusGestalt verwandelt und Harry ihn in seine Kiste getan hatte, hob er seinen Blick und starrte wehmütig Godric's Hollow an.

„ Harry, wir sollten jetzt gehen." Caro legte ihre Hand kurz auf seinen Arm und er sah, dass sie Tränen in ihren Augen hatte. Harry blinzelte, nickte und warf dem Haus seiner Eltern noch einen letzten Blick zu. Dann stiegen sie auf ihre Besen und flogen in den Himmel hinauf.

Der Rückweg verlief schweigend. Keiner von ihnen dachte daran, sich unsichtbar zu zaubern. Das einzige was ihre Gedanken beschäftigte, war, wie die Reaktionen der Erwachsenen ausfallen würden, wenn sie das Schloss erreichten. Rainbow trillerte tröstend, während sie neben ihnen her flog, die drei konnten jedoch nur an ihre Angst denken. Harry machte sich währenddessen heftige Vorwürfe. Warum, warum nur hatte er nicht daran gedacht?

Nach einer Weile landeten sie in dem Wald, der das Schloss umgab. Sie schlichen sich in den Geheimgang und trotteten niedergedrückt zu dem Arbeitszimmer des Dunklen Lords. Vor der richtigen Tür blieben sie stehen und starrten sich an. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Harry schluckte nervös, er hätte alles gegeben um jetzt nicht hier zu sein müssen. Als er das leichte Gewicht Rainbows spürte, die sich auf seiner Schulter niedergelassen hatte, biss er sich auf die Lippen, hob seine Hand und klopfte, während er fühlte, wie sein Herz anfing, ihm bis zum Hals zu schlagen. Dann öffnete er die Tür und sie gingen hinein. Sie waren kaum eingetreten, als sie die kalte Stimme des Dunklen Lords hörten.

„ Ich möchte mit meinem Sohn alleine sprechen und denkt daran, was ich euch befohlen habe. "

Lucius und Bella erhoben sich schwankend, verbeugten sich, ergriffen ihre Kinder beim Arm und zogen sie mit unbewegten Gesichtern hinaus, während Narcissa, deren Augen auf Draco geheftet waren, ihnen mit einem glücklichen Lächeln folgte. Harry sah ihnen nach. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hob er trotzig seinen Kopf.

„ Wo ist Nell? Was hast du ihr angetan?"

Die roten Augen seines Adoptivvaters verengten sich und musterten ihn durchdringend.

„ Ich habe ihr nichts getan und gerade müsste es in der Küche sein. Was mich allerdings viel mehr interessiert: Wo bist du die ganze letzte Woche gewesen? Und warum bist du überhaupt weggelaufen, Harry?"

Harry blinzelte seinen Adoptivvater ungläubig an. Er hätte eigentlich alles erwartet, aber nicht, dass er ihn im ruhigen, beinahe gleichgültigen Ton fragen würde, wo er gewesen war und warum er geflohen war. Doch konnte er ihm vertrauen, dass er Nell nichts angetan hatte und dass es ihr gut ging?

„ Warum bist du weggelaufen? Und wo warst du?", wiederholte der Dunkle Lord seine Frage und diesmal hatte seine Stimme einen ungeduldigen Unterton.

„ Ich wollte nicht töten und nicht foltern! Ich will mir keine Foltersitzungen ansehen und will nicht dazu gezwungen werden zu foltern und zu töten, wenn ich nicht will und wir waren in Godric's Hollow!", brach es aus Harry hervor, während er seinen Adoptivvater zornentbrannt anstarrte, wütend darüber, dass er ihn gezwungen hatte, zurückzukehren. Im nächsten Augenblick hätte er sich die Zunge abbeißen können. Wie hatte er das nur sagen können?

Die roten Augen weiteten sich überrascht.

„ Godric's Hollow?" Ein plötzliches Verstehen erschien auf Voldemorts Gesicht.

„ Du hast es also herausgefunden? Wie?"

Harry zögerte einen Moment, aber dann begann er zu erzählen. Schließlich spielte es jetzt sowieso keine Rolle mehr. Als er geendet hatte, fühlte er sogar eine seltsame Erleichterung.

Der Dunkle Lord nickte leicht.

„Beeindruckend. Deswegen wolltest du also auf einmal wissen, wer deine Mutter war."

Jäh schritt er auf Harry zu, der erschreckt zurückzuckte, hob Harrys Kinn und starrte mit seinen roten Augen direkt in Harrys smaragdgrüne. Rainbow trillerte warnend, doch Voldemort schenkte dem magischen Vogel keine Beachtung.. Harry spürte wie er zitterte, er wollte den Blick abwenden, aber er schaffte es nicht. Diese roten Augen schienen ihn unbarmherzig festzuhalten.

„ Und was soll ich nun mit dir machen, Harry?"

Harry wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte.

„ Nichts?", murmelte er schließlich zögernd.

Sein Adoptivvater ließ ihn los und fragte:

„Hasst du mich?"

Harry starrte ihn an und er sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam.

„ Ich habe dich gehasst, als du mich gezwungen hast Nell zu foltern."

„ Und jetzt?" Die roten Augen musterten ihn prüfend und Harry senkte seinen Blick zu Boden.

Plötzlich erkannte Harry, dass er es nicht wusste. Er konnte es einfach nicht in Worte fassen, was er für seinen Adoptivvater empfand. Er liebte ihn nicht gerade über Alles, ein wenig fürchtete er sich sogar vor seinem Adoptivvater, aber hasste er seinen Adoptivvater wirklich? Er war wütend auf ihn, dass ja, wenn er an seine Eltern dachte, dann hasste er ihn zuweilen auch. Aber richtig hassen tat er ihn eigentlich nicht. Oder?

„ Du hasst mich nicht? Obwohl ich deine Eltern getötet habe?" Die Stimme seines Adoptivvaters, der ihn immer noch genau beobachtete, riss ihn aus seinen Gedanken.

Harry blinzelte verwirrt.

„ Ich weiß es nicht. Aber irgendwie tue ich es nicht. Nicht richtig jedenfalls. Nur manchmal, wenn ich…du hast mich erzogen und mir so viele Sachen beigebracht…, aber als du mich gezwungen hast, Nell zu foltern und wolltest, dass ich sie töte…" Harry brach ab und einen Moment schwiegen sie. Harry sah seinen Adoptivvater an und versuchte zu erkennen, was er dachte, doch das Gesicht des Dunklen Lords verriet nichts.

„ Warum hast du mich nicht getötet?" Harry konnte nicht verhindern, dass diese Frage auf ein Mal aus ihm hervorsprudelte. Seit er die Wahrheit herausgefunden hatte, hatte er sich diese Frage öfter gestellt.

Sein Adoptivvater zog eine Augenbraue hoch.

„ Ich habe es versucht. Aber der Todesfluch, mit dem ich dich töten wollte, prallte zurück und du hast überlebt."

Harry riss seine Augen auf, mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Als die Worte ihm jedoch richtig zu Bewusstsein kamen, schüttelte er benommen den Kopf.

„ Ich habe den Todesfluch überlebt? Aber das ist unmöglich!"

„ Ja, normalerweise schon. Ich weiß nicht, warum, aber du hast überlebt, Harry. Damals dachte ich, dass du unglaublich mächtig sein müsstest, mächtiger als ich, und somit den Fluch abwehren konntest, aber ich kann nicht sagen, ob dies tatsächlich der Grund war. Dies hat übrigens deine Narbe verursacht. "

Unbeabsichtigt flog Harrys Hand zu seiner Stirn, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen.

„ Und deswegen hast du dich entschieden mich mitzunehmen und aufzuziehen? Weil du dachtest ich würde mächtiger sein als du?"

„ Ja, Harry. Genau. Ich wollte deine Macht nutzen, mit deiner Hilfe wollte ich die Welt erobern und beherrschen und jeglichen Widerstand zerstören. Aber offensichtlich sträubst du dich mit aller Macht dagegen. Vielleicht bist du noch zu klein. Wir werden sehen, wie du in ein oder zwei Jahren darüber denkst. Komm, ich bringe dich zu deinem Zimmer."

Der Dunkle Lord legte einen Arm um Harry und führte ihn schweigend zu seinen Räumen, wo er ihn verließ. Als die Tür sich geschlossen hatte, blieb Harry stehen und starrte sie an. Niemals hatte er gedacht, dass sein Zusammentreffen mit seinem Adoptivvater so verlaufen würde.

Er hatte eine Bestrafung erwartet, heftige Schelte und Wut, aber nichts von dem war eingetreten. Sein Adoptivvater war noch nicht einmal wütend geworden, als er ihm erzählt hatte, dass er wusste, wer seine richtigen Eltern waren. Er schüttelte seinen Kopf. Er verstand es nicht. Aufseufzend griff er in seine Tasche und begann alles auszupacken, während er an seine Freunde dachte. Hoffentlich verlief es nicht so schlimm für sie. Eigentlich, dachte er, könnte er ja mal nachsehen, ob mit ihnen alles in Ordnung war und sie besuchen gehen. Dann konnte er auch gleich nach Nell sehen. Er ging zu Tür und wollte sie öffnen. Aber sie war verschlossen. Verdutzt flüsterte er.

„ Alohomora."

Als sein Zauberspruch nichts half, versuchte er mächtigere Magie. Dies hatte allerdings auch nicht die gewünschte Wirkung. Er konnte es nicht glauben. Sogar als er fünf Jahre alt gewesen war, hatte er es geschafft, die Zauber an seiner Tür zu brechen und jetzt war er dazu nicht in der Lage? Nach einer Weile erkannte er, dass die Zauber an seiner Tür verändert worden waren und dass er tatsächlich eingesperrt war und dass er wahrhaftig nicht fähig war seine Tür zu öffnen. Was hatte sein Adoptivvater bloß vor?

Was plante er? Wollte er ihn für immer in seinem Zimmer gefangen halten? Verwirrt setzte sich Harry auf den Boden, zog seine Knie an und umschlang sie mit seinen Armen. Also war er jetzt ein Gefangener. Plötzlich sprang er auf, rannte zu seinem Fenster, riss es heftig auf und fühlte eine magische Barriere. Rainbow trillerte und flog hindurch, kehrte jedoch augenblicklich zu ihm zurück. Voller Hoffnung sah er seinen Phönix an:

„ Rainbow, kannst du…"

„ Nein, Harry. Ich kann die Barriere nicht zerstören. Die Magie kann mir nichts anhaben, weil ich ein Phönix bin, aber ich habe nicht die Macht sie zum Verschwinden zu bringen.", sang Rainbow traurig, während sie ihr Köpfchen auf Harrys Schulter legte.

Fassungslos starrte er hinaus in den Park und die Tatsache, dass er gefangen war, schien ihn zu lähmen und kalte Angst kroch in ihm hoch, während nur eine Frage ihn quälte. Was bezweckte sein Adoptivvater damit? Wieso hatte er ihn eingeschlossen? Sein Adoptivvater musste doch wissen, dass er ohne Nell nicht fliehen würde. Also warum?