Kapitel 27

März 1993

Silbernes Lachen erklang und ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten auf. Sie streckte eine kleine Hand nach ihm aus und er ergriff sie. Sich im Kreise drehend, leuchteten ihre dunkelroten Haare wie Flammen im Licht der untergehenden Sonne. Sie ließ ihn los und begann zu laufen. Einen Augenblick blieb er stehen, sah ihrer ranken Gestalt nach und folgte ihr dann. Rasch holte er sie ein, doch sie entwand sich im spielerisch. Ihr Lachen verschwand. Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen, die ihr wie kleine glitzernde Perlen über die Wangen liefen. Sie begann sich aufzulösen und unvermittelt war er allein. Sie war verschwunden.

Jäh riss er seine Augen auf. Er brauchte einen Augenblick um zu begreifen, wo er war. Der Traum war ihm so wirklich vorgekommen. Nach so vielen Jahren, weshalb träumte er ausgerechnet jetzt von ihr? Während er in die Finsternis starrte, formten seine Lippen einen Namen; einen Namen, den er seit langem tief in seinem Innersten verborgen hatte. Cathy, dachte er und er war machtlos gegen die Erinnerrungen, die in ihm aufstiegen.


Harry spähte nervös zur Tür, richtete kurz darauf seinen Blick auf Caro und flüsterte:

„Hast du etwas gefunden?"

Ohne aufzusehen, schüttelte Caro den Kopf.

„ Nein, noch nicht. Wenn du mir helfen würdest, ginge es bestimmt schneller.", erwiderte das schwarzhaarige Mädchen und beugte sich tiefer über ein Blatt Pergament, das sie in den Händen hielt. Harry seufzte, trat zum Tisch, wo er seinen Zauberstab fallen ließ und begann, die vor ihm stehenden, Regale zu mustern. Auf den dicken Ordnern, die sich dort aneinander reihten, standen nur die Jahreszahlen und als er sah, wie viele Ordner es vom Jahr 1988 gab, begriff er, warum Caro immer noch nicht fündig geworden war. Sich einen Ordner greifend, schlug er die erste Seite auf und hielt zögernd inne.

Es hatte lange gedauert bis sie herausgefunden hatten, dass sich das Archiv des Phönixordens in der Nähe von Dumbledores Büro befand und noch länger hatten sie darauf warten müssen, dass sich eine Gelegenheit ergab, dort hin zu schleichen, ohne, dass sie vermisst worden wären. Heute endlich hatte ein großer Teil des Ordens Hogwarts verlassen um zu kämpfen, Unterricht fand am Nachmittag nicht statt und so hatten Caro und Harry die Chance am Schopf ergriffen. Draco hatten sie zurücklassen müssen, da er eine Strafarbeit bei Remus Lupin ableisten musste. Der Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste war auf die glorreiche Idee gekommen sie in Paaren zusammenzuarbeiten lassen und Draco hatte Ron Weasley als Partner bekommen. Das allerdings stellte sich als großer Fehler heraus. Bevor Harry es verhindern hätte können, standen sich die beiden in einem Duell gegenüber.

Da Caro die Gelegenheit auf keinen Fall hatte verstreichen lassen wollen, hatten sie sich warm angezogen, hatten im Schnee einen Spaziergang gemacht und in der Nähe des richtigen Fensters gewartet bis niemand mehr zu sehen war. Sobald die Luft rein gewesen war, hatte sich Harry in einen Phönix verwandelt, Caro sich unsichtbar gezaubert und so waren sie zum Fenster hochgeflogen.

Harry starrte auf die vielen Ordner und verfluchte den Orden, dass er so leichtsinnig gewesen war, die Fenster mit keinerlei Schutzzaubern zu versehen. Dann hätte er vielleicht noch eine Ausrede finden und Caro davon abhalten können, hier einzubrechen. Aber so hatte er keine andere Wahl gehabt als mitzukommen. Je schneller sie von hier wieder verschwanden, desto besser, dachte Harry, aber dafür mussten sie finden, weswegen sie hergekommen waren. Harry gab sich einen Ruck und fing an zu lesen. Wenig später war er so vertieft, dass er weder Caros jähes Luftholen hörte noch die Tür, die sich öffnete. Die wütende Stimme, die plötzlich erklang, erschreckte ihn so sehr, dass er den Ordner fallen ließ.

„ Wie könnt ihr es wagen!"

Bevor Harry wusste, wie ihm geschah, hatte der Zauberer, der, bekleidet mit einem scharlachroten Umhang, zu den Mitgliedern des Phönixordens zählen musste, Caro mit einem Zauber getroffen. Während Caro zu Boden sank, machte Harry einen Sprung zu seinem Zauberstab. Doch das rote Licht, das auf ihn zuschoss, gab ihm keine Möglichkeit mehr seinen Zauberstab zu ergreifen. Er riss seine Hände hoch und spürte wie Magie ihn umgab.

Als der Fluch seines Angreifers sein Schutzschild traf, ließ ihn die Wucht des Aufpralls zurücktaumeln. Der Zauber wurde zurückgeschleudert. Der Mann duckte sich und das rote sirrende Licht traf das schwere Bücherregal, das über dem Zauberer zusammenstürzte. Harry war für einen Moment wie gelähmt. Mit zitternden Fingern ergriff er seinen Zauberstab und mit einer heftigen Bewegung richtete sich das Regal auf. Auch die Bücher schwebten zurück an ihre Plätze. Harry lief zu Caro, warf sich neben ihr zu Boden und versuchte sie mit dem Ennervate Zauber aufzuwecken.

Erleichterung durchströmte ihn, als Caro die Augen aufschlug, sich aufsetzte und ihn mit benommenem Gesichtsausdruck anstarrte. Für einen Augenblick drückte Harry Caro heftig an sich. Dann half er ihr hoch. Caros Augen funkelten wütend, als sie ihren Zauberstab ergriff und zu ihrem Angreifer hinüberging, der bewegungslos am Boden lag. Harry folgte. Wenig später sagte Caro:

„ Er ist tot."

Harrys Augen weiteten sich, er sah auf die reglose Gestalt hinunter während alles vor seinen Augen zu verschwimmen schien. Caro rappelte sich auf und fasste Harry bei den Armen.

„Harry, er hat uns angegriffen! Du musstest dich doch verteidigen."

„ Caro, es ist einfach passiert. Ich wollte es nicht. Meine Magie…ich hatte keine….das Bücherregal ist umgefallen.", stammelte er und starrte sie mit großen Augen an.

„Es ist einfach passiert.", wiederholte Harry fassungslos.

„ Ich wollte ihn nicht umbringen."

„Ich weiß, Harry.", sagte sie geistesabwesend und überlegte fieberhaft, was sie nun tun sollten. Harry ansehend, sagte sie eindringlich.

„ Harry, wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden. Wenn uns jemand entdeckt…"

Als hätte Caro mit ihrer laut geäußerten Befürchtung den Teufel heraufbeschworen, wurde jäh die Tür aufgerissen.

„Alfred, wo bleibst du…"

Der junge Mann mit den roten Haaren brach ab, starrte sie an und schlug die Hand vor den Mund. Bevor er jedoch in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte Caro ihren Zauberstab auf ihn gerichtet. Als er zu Boden sank, schien Harry erstmals aus seiner Lethargie aufzuwachen.

„ Caro! Was sollen wir jetzt nur tun?"

Die beiden sahen sich Hilfe suchend an. Harry fuhr sich mit zitternder Hand über sein Haar.

„ Er wird uns verraten.", stellte er mit mühsam unterdrückter Panik in seiner Stimme fest.

„ Wir könnten ihn mit einem Vergessenzauber belegen.", schlug Caro vor und Harry nickte zögernd.

Caro, die sah, dass Harry nichts unternehmen würde, stand auf, umklammerte ihren Zauberstab fester und seufzte. Sie hatte das ungute Gefühl, dass Vergessenszauber bei bewusstlosen Personen nicht wirkten. Es war Charlies Bruder, sah sie einen Augenblick später und während sie noch zögerte, hörte Caro Schritte und Gemurmel. Ihre Augen flackerten zur offenen Tür, zu Harry, der mit seltsam abwesendem Blick dastand und zu ihrem Zauberstab. Sie schwang herum und packte Harry am Arm.

„ Verwandle dich, Harry, schnell."

Harry jedoch starrte sie nur hilflos an. Caro fluchte, schnappte sich den einen Ordner, ergriff abermals Harrys Arm und zerrte ihn zur Tür. Kaum hatten sie die Tür durchschritten, ertönte ein schrilles, lautes Alarmsignal, das anfing ohrenbetäubend durch das Schloss zu heulen.

Erschrocken zuckten Harry und Caro zusammen. Als sie wie von Sinnen den Korridor entlang stürzten, brauchte Caro Harry nicht mehr hinter sich herzuziehen.


Remus, der sich mit den anderen Ordensmitgliedern durch die Tür drängte, blieb abrupt stehen, als er das Dunkle Mal sah, dass in der Mitte des Raumes in der Luft schwebte. Im Licht der untergehenden Sonne blitzten die Armbänder auf, die um die Handgelenke der Zauberer und Hexen geschlungen waren.

Der schrille Alarmton verstummte, doch keiner, der wie erstarrt dar stehenden Mitglieder des Phönixordens, nahm dies auch nur ansatzweise zur Kenntnis. Endlich kam Bewegung in die Menge und die ersten knieten vor den am Boden Liegenden. Angst und Entsetzten bereitete sich auf den Gesichtern aus, als sie feststellten, dass beide der Zauberer tot waren. Remus humpelte zu dem Tisch und bückte sich schwerfällig. Mit schlafwandlerischer Langsamkeit starrte er auf den Schal, den er in den Händen hielt. Zu Weihnachten hatte Charlotte den Kindern unter anderem Schals geschenkt und als er nun das eingestickte H in dem grünen Stoff sah, da fühlte er, wie er erstarrte.


Harry und Caro kamen, völlig außer Atem, erst vor dem Eingang der Slytherins zum Stehen, wo sie auf Draco trafen, der bei ihrem Anblick erleichtert aussah.

„Was ist passiert? Als der Alarm ertönte, ließ Lupin mich gehen, ich habe schon befürchtet, dass man euch entdeckt hätte."

„Wir erklären dir alles später. Aber erst müssen wir so schnell wie möglich das Schloss verlassen.", brachte Caro mühsam hervor.

Während Caro in ihrem Schlafsaal lief, folgte Draco Harry mit ziemlich verwirrtem Gesichtsausdruck. Sein zweiter Versuch in Erfahrung zu bringen, was passiert war, scheiterte ebenfalls, da Harry nur den Kopf schüttelte. Harry, der unterdessen fahrig seine Sachen packte, versuchte mit aller Macht nicht an das eben Vorgefallene zu denken. Das kleine hölzerne Kästchen, das er vor dreieinhalb Jahren in Godric's Hollow gefunden hatte, fiel ihm aus seinen Händen.

Es schlug auf dem Boden auf, der Deckel glitt zur Seite und der Inhalt verstreute sich auf dem dicken, weichen Teppich. Nell, die mit großen besorgten Augen ihre Hände rang, befehlend weiter zu packen, sammelte er eilig die Sachen auf und stopfte sie zurück in das Kästchen. Als er die Kette mit dem schwarzen Stein vom Teppich klaubte, die er ebenfalls in den Ruinen von Godric's Hollow gefunden hatte, hielt er inne und einem Impuls folgend, streifte er sich die Kette über. Augenblicklich spürte er, wie eine ungeheure Wärme ihn umhüllte, die ihn eigenartigerweise zu trösten schien.

Sich immer noch darüber wundernd, fand er sich einen Moment später mit Draco und Nell im Slytherin Gemeinschaftsraum wieder, wo sie auf Caro warteten. Es dauerte nicht lange, da tauchte sie auf. Als sie über die Ländereien von Hogwarts liefen, versuchte Draco erneut, den Grund für ihre plötzliche Flucht in Erfahrung zu bringen. Während Caro, nach Atem ringend, Draco in Kurzversion ins Bild über das Geschehene setzte, erreichten sie schließlich die Wand aus Schutzzaubern und mächtigen Bannen, die Hogwarts von der restlichen Welt abschirmte. Sie blieben stehen und Caro, lehnte sich, die Hände gegen ihre Seiten gestemmt, mit rotem Gesicht, vor.

„ Wie sollen wir da nur hindurch kommen? Wir haben keine Armbänder.", jammerte sie entsetzt.

„ Wir könnten in unserer Animagi Gestalt hindurch gehen, aber du nicht.", sagte Draco, der immer noch nicht genau begriffen hatte, was eigentlich geschehen war. Caro warf ihm einen Blick zu, der Bände sprach.

Harry war inzwischen etwas eingefallen.

„ Wir haben Peter vergessen!"

Nun war er es, den Caro fixierte.

Und? Willst du jetzt zurücklaufen? Denk dir lieber aus, wie wir da durchkommen!"

„ Da geht jemand", bemerkte Draco. Caro wirbelte herum.

„ Na, bitte. Vielleicht kann er uns ja mit einem Armband aushelfen."

Harry schloss die Augen und wartete bis seine beiden Freunde zurückkamen, während er ein immer stärker werdendes Gefühl verspürte in einem furchtbaren Alptraum zu stecken.

„ Er hatte eines!", erklärte Draco triumphierend und hielt das zierliche silberne Band hoch. Harry nickte lediglich.

Gerade wollte er seine Hand nach dem Band ausstrecken, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Peter!", sagte Harry erleichtert und ließ die Ratte in seiner Tasche verschwinden. Sie streckten ihre Hände aus, berührten das Schmuckstück und passierten die Schutzbanne. Im gleichen Augenblick löste sich das Armband in Luft aus, doch keiner von ihnen schenkte dem große Beachtung, als sie losliefen. In Hogsmeade, in der Nähe der heulenden Hütte, kamen sie zu einem abrupten Halt.

„ Wohin gehen wir eigentlich?", fragte Draco und warf Caro und Harry einen Blick zu.

„Irgendeinen Vorschlag auf Lager?", fügte er hinzu.

Caro blitzte ihn ärgerlich an.

„ Nokturngasse. Wir suchen uns ein kleines Hotel und dann sehen wir weiter. Komm, Harry."

Während sie flogen, fing es an zu regnen. Schwere, kalte Regentropfen peitschten in Harrys Gesicht, doch er unternahm keinen Versuch seinen Umhang höher zu ziehen.

Es war später Abend, als sie die Nokturngasse erreichten. Nass und durchgefroren hasteten sie durch die enge Straße und suchten nach einer Absteige. Vor einem kleinen, alten Haus blieben sie stehen. Die Buchstaben auf dem Schild waren schon abgeblättert, welches im Wind düster klappernd hin und her schwang. Das Zimmer, das der Eigentümer ihnen nach einigen Galleonen zuwies, war winzig und schäbig. Für eine vorläufige Unterkunft würde es jedoch reichen. Harry sank auf das nächstbeste Bett und schauderte. Auch Caro und Draco ließen sich auf die Betten fallen. Rainbow trillerte traurig und Nells Augen wirkten riesengroß, als sie sich auf der Decke ängstlich zusammenkauerte. Schließlich sagte Draco.

„ Könnte mir einer vielleicht endlich sagen, was genau passiert ist? Von dem was du mir vorhin versucht hast zu erzählen, Caro, habe ich nur die Hälfte mitbekommen."

Caro sah zu Harry hinüber.

„ Nun ja…"

„ Du kannst es ihm ruhig erzählen.", sagte Harry hohl und aufstehend, trat er zum Fenster und blickte in die Dunkelheit, die nur von vereinzelten schwachen Lichtern erhellt wurde, hinaus.

Caro seufzte, erhob sich ebenfalls, ging zum Kamin hinüber und während sie ihren Zauberstab zur Hilfe nahm, um ein Feuer in Gang zu setzten, erzählte sie langsam was geschehen war. Als Caro bei dem Teil angelangt war, wo sie festgestellt hatten, dass ihr Angreifer tot war, ballte Harry seine Hände zu Fäusten zusammen, so fest, dass seine Nägel blutige Halbmonde in seinen Handflächen hinterließen.

Als Caro geendet hatte, schüttelte Draco den Kopf.

„ Du meine Güte….Also hast du nichts über den Mörder deines Vaters herausgefunden?"

Caro zögerte einen Moment, schüttelte dann den Kopf und meinte:

„ Leider nicht."

Sie trat zu Harry und legte eine Hand auf seinen Arm.

„Harry, er hat uns angegriffen. Du musstest dich verteidigen."

Wütend fuhr Harry herum.

„ Ich habe ihn umgebracht! Kannst du nicht verstehen, was das bedeutet?"

„ Harry…" sagte Caro hilflos.

„ Wetten, dass er dich umgebracht hätte, hättest du ihm die Gelegenheit dazu gegeben? Harry, nimm es nicht zu schwer.", mischte sich Draco ein.

Harry starrte seinen Freund fassungslos an.

„ Das ist doch überhaupt nicht der Punkt. Das ist…"

Harry brach ab und schwieg, ging zu einem der Betten hinüber und setzte sich. Draco stand auf und kümmerte sich um ein dürftiges Abendbrot. Obwohl Caro versuchte Harry zu überreden etwas zu essen, trank Harry nur ein bisschen Tee. Bald darauf legte er sich auf sein Bett und drehte das Gesicht zur Wand.

Irgendwann, mitten in der Nacht, verspürte Harry das dringende Bedürfnis zu lachen. Er prustete in das Kissen, um Caro und Draco nicht zu wecken. Es schüttelte ihn so heftig, dass man meinen hätte können, er litte unter Schüttelfrost. Da versuchte sein Adoptivvater ihn die ganzen Jahre über dazu zu bringen in seine Fußstapfen zu treten und zu lernen, wie man folterte und tötete; er sträubte sich erbittert dagegen und nun hatte er einen Mord begangen. Sein Adoptivvater wäre sicherlich stolz auf ihn gewesen, hätte er diese Tat in seiner Anwesenheit vollbracht. Als das Gelächter abebbte, stieg ein verzweifeltes Schluchzen in ihm auf, während er immer wieder sah, wie das Bücherregal umfiel und den Zauberer unter sich begrub. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken.

Der folgende Tag versprach neblig und trübe zu werden. Das Frühstück verlief schweigend. Niemand wusste so recht, was er sagen sollte.

„ Was haben wir jetzt eigentlich vor? Wir können hier nicht für immer bleiben.", wagte Draco es das Schweigen zu brechen.

Harry, der nur wenig gegessen hatte und völlig übermüdet war, ging zu seinen Sachen herüber und fischte das hölzerne Kästchen hervor. Es in seiner Hand haltend, rief er sich das vergangene Weihnachtsfest in Erinnerung.

„Terley.", flüsterte er und unvermittelt überkam ihm das seltsame und höchst befremdliche Gefühl, mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft zu fliegen. Harry fiel hart auf den Boden. Benommen rappelte er sich auf und erstarrte, während er an seinem Verstand zu zweifeln begann. Das kleine Zimmer des Wirtshauses war verschwunden, wie auch weder Draco noch Caro zu sehen waren. Harry starrte ehrfürchtig auf das mächtige Schloss, das sich auf der Anhöhe gen Himmel emporhob. Er sah zum Tor hinauf. In der Mitte der eisernen Stäbe war das Wappen der Potters eingelassen: Wild flackernde Flammen und in ihrer Mitte ein goldenes ‚P'. Sein Verstand begann zu begreifen. Das hölzerne Kästchen, das er immer noch in der Hand hielt, musste ein Portschlüssel sein.

Seufzend begann Harry zum Tor hinauf zu gehen. Das hatte ihm wirklich noch gefehlt. Wie sollte er jetzt wieder zurückkommen? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Kästchen ihn nicht wieder in die ungemütliche Absteige zurück transportieren würde. Er streckte eine Hand in Richtung der eisernen Gitterstäbe und kaum hatte er sie berührt, schwang das Tor offen. Verblüfft ging Harry hindurch. Die Anhöhe hinauflaufend, blieb er, oben angekommen, mit weit aufgerissenen Augen stehen.

Das Meer erstreckte sich unendlich weit vor ihm. Schäumende Wellen brachen sich am Strand. Harry atmete die Luft ein und schmeckte Salz. Der Wind war heftig, doch Harry bereitete die Arme aus und stemmte sich dagegen, versunken in den Anblick des Meeres, welches er in nie zuvor gesehen hatte. Wie wunderschön das Meer war. Für einen Moment vergaß er alles um ihn herum, als er auf diese unendliche Weite sah. Dann griff er langsam in seine Tasche und holte seinen Zauberstab hinaus. Sinnend betrachtete er ihn einen Augenblick und erinnerte sich unwillkürlich an den kleinen Zauberstabladen, wo er seinen Zauberstab gekauft hatte und sein Adoptivvater den Ladenbesitzer umgebracht hatte.

Weit ausholend, warf er den Zauberstab die Klippen hinunter. Sein Blick verfolgte, wie sein Zauberstab fiel und kurz darauf von den weiß schäumenden Wellen verschluckt wurde. Von nun an, dass schwor er sich, würde er niemals mehr seine Magie verwenden, weder mit Zauberstab noch ohne. Harry stand lange dort auf den Klippen und starrte auf das Meer.

Als er sich endlich abwandte, kamen ihm die Bilder von der Hochzeit seiner Eltern in Erinnerung. Aufseufzend ging er die Treppen hoch und vor dem Portal stehen bleibend, das ebenfalls mit dem Wappen der Potters verziert war, streckte er abermals eine Hand aus und wie auch zuvor öffneten sich die Flügeltüren und ließen ihn eintreten. Mit klopfendem Herzen schritt Harry über die Schwelle.

Harrys zaghafte Schritte hallten laut durch die stille große Halle. Seine Blicke glitten hinauf zur gewölbten, kunstvoll verzierten Decke, zu der breiten Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, zu den, von der Halle, abzweigenden Fluren und zu den Wänden, an denen zahlreiche Bilder hingen und schließlich schaute er zu einem kleinen, in einer der Ecken, stehendem Tischchen, auf dem, in einer Vase, ein Strauß roter Rosen stand. Harry schritt durch die Halle und näher kommend, sah er, dass es echte Blumen waren. Ein Schauder erfasste ihn. Wer hatte die Rosen hierher gestellt? Auf den Boden blickend, bemerkte er außerdem, dass er nirgendwo Staub sehen konnte. Er blickte zur Treppe und sagte sich, dass ihm hier wohl keine Gefahr drohen würde, sollte er sich bemerkbar machen. Und wenn schon, es spielte ohnehin keine Rolle mehr.

„ Hallo? Ist hier jemand?", rief er und tappte ein paar Schritte weiter.

Als ein dünnes Stimmchen erklang, blieb ihm beinahe das Herz stehen. Herumwirbelnd, sah er ein kleines Wesen vor sich stehen, das sich tief verbeugte. Mit großen Augen starrte es ihn an.

„Gebieter hat gerufen?"

Harry nickte erleichtert. Wie dumm von ihm nicht gleich an Hauselfen zu denken. Dann fiel ihm etwas ein.

„ Du hast nicht zufällig eine Idee, wie ich zurück in die Nokturngasse komme, oder?"

Die Hauselfe neigte den Kopf.

„ Ihr könntet den Kamin benutzen, Gebieter."

Wenige Augenblicke später stand Harry vor einem prächtigen Kamin und nach dem Flohpulver greifend, das sich in einer silbernen Schale befand, die die Hauselfe ihm reichte, sah er sich noch einmal um. Hier würden sie bleiben können und die gestrigen Geschehnisse vergessen können, doch im selben Augenblick wusste Harry, dass ihm das niemals gelingen würde.


„Nein!"

Sirius schlug seine Faust gegen die Wand, während sich alles in ihm sträubte zu glauben, dass Harry sie so verraten hatte. Doch wie er es auch drehte und wendete, es änderte sich nichts an den Fakten. Harry war im Archiv des Ordens gewesen, es war kaum möglich, dass der Schal dort zufällig hingekommen war und dann die Flucht, im Laufe derer sie Felix verflucht und ihm sein Armband gestohlen hatten. Felix hatte die drei eindeutig identifiziert. Wären sie unschuldig an den Verbrechen, wären sie nicht geflohen. Das bittere Gefühl verraten worden zu sein, war so viel stärker, als damals. Peter war sein Freund gewesen, aber Harry hatte er geliebt, war sein Patensohn gewesen. ‚Warum? Warum hast du das getan, Harry?'

Erst als Charlotte anfing zu sprechen, merkte er, dass er laut gesprochen hatte.

„Sirius, wir wissen nicht genau was passiert ist. Vielleicht…."

Sirius wirbelte herum.

„Was? Was willst du sagen, Charlotte? Dass es Harry nicht gewesen ist? Sein Schal war dort und außerdem sind sie durch das Fenster gekommen, wahrscheinlich hat er sich in einen Phönix verwandelt und Alfred und Bill sind tot, ermordet und das Dunkle Mal schwebte genau in der Mitte. Natürlich weiß Harry, wie man es heraufbeschwört und wenig später überfallen sie Felix und flüchten! Wenn sie mit den Morden nichts zu tun gehabt hätten, dann hätten sie wohl kaum so hastig das Schloss verlassen!"

„Sirius…", versuchte Charlotte zu sagen, aber ihr Ehemann schaute sie mit einem Blick an, der unmissverständlich ausdrückte, dass sie schweigen sollte, wirbelte herum und marschierte aus dem Zimmer, die Tür schlug er laut hinter sich zu. Charlotte seufzte und verfluchte die Sturheit Sirius'.

Es stimmte, dachte sie niedergeschlagen, die Beweise deuteten alle darauf hin, dass Harry und seine Freunde die Täter waren, zumindest Harry und Caro, da Draco unter Remus' Aufsicht gewesen war, aber trotzdem fand sie, dass die Geschehnisse keinen Sinn machten. Es war ihr wohl bewusst und sie hatte es keinen Augenblick vergessen, dass Harry unter Voldemorts Obhut aufgewachsen war, aber nichtsdestotrotz, sie bezweifelte es stark, dass es Voldemorts Plan gewesen war einen Auror zu töten, der nicht einmal einen hohen Rang innerhalb des Ordens besaß und einen jungen Mann, der erst vor kurzer Zeit angefangen hatte, für den Orden zu arbeiten. Seltsamerweise wollte dies niemand hören Außerdem begriff sie nicht, was die Kinder im Archiv gesucht hatten. Um zu spionieren und ihre geplanten Taktiken und neuesten Strategien in dem Krieg herauszufinden, wäre es viel logischer gewesen, in Albus' Büro, das zugleich der Versammlungsraum seiner engsten Vertrauen war, einzubrechen.

Diese Überlegungen wollte ebenfalls niemand hören. Sie versuchte ja nicht die Geschehnisse als nicht so tragisch abzutun, sie war genauso wie alle anderen bestürzt und fassungslos, aber sie hatte Harry in ihr Herz geschlossen und nun sollte sie sich so in ihm getäuscht haben? Sie dachte zurück an Weihnachten, wie traurig und zur selben Zeit unglaublich begierig er ausgesehen hatte, als Sirius und Remus ihm Geschichten über seine Eltern erzählt hatten. Konnte es wirklich sein, dass Harry fähig dazu war zu morden?

Sie konnte es nicht glauben, wollte es nicht, doch weder Sirius, noch Dumbledore, noch nicht einmal Remus, der sonst immer so vernünftig gewesen war, wollte ihr zuhören, wenn sie sagte, dass es keinen Sinn machte. Vielleicht, dachte Charlotte ging das Gefühl der Enttäuschung und des Verrats zu tief. Sirius hatte Harry so sehr geliebt und Dumbledore ebenfalls, Charlotte was sich sicher. Und sie alle waren so glücklich gewesen, als Harry mit seinen Freunden in Hogwarts aufgetaucht war. Traurig seufzte sie und stand auf.

Charlotte schnappte sich einen wärmeren Umhang und machte sich auf den Weg zum See. Sie brauchte ein bisschen frische Luft. Als sie kurze Zeit durch das Portal ging und die kalte Luft einatmete, schüttelte sie den Kopf. Wenn die drei Albus ermordet hätten, hätte sie es verstanden. Voldemort hätte seinen ärgsten Widersacher von drei Kindern beseitigen lassen, das wäre ein genialer Plan gewesen und dem Dunklen Lord durchaus zuzutrauen, aber Alfred und Bill?

Unwillkürlich daran denkend, wie Sirius Harry und seine Freunde gefunden hatte, schüttelte sie den Kopf. War damals alles nur gespielt? Aber Harry war magisch verausgabt gewesen und hatte geglüht. Dafür musste es doch einen Grund gegeben haben. Irgendetwas musste sie tun, beschloss Charlotte, sie hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung was. Zum See hinüberblickend, sah sie Ginny, Hermiones beste Freundin, am Ufer sitzen. Für einen Augenblick fragte sie sich, weshalb Ginny bei dieser Kälte wohl am See saß, dann beschäftigten sich ihre Gedanken wieder mit dieser verworrenen Situation, die so unerwartet über sie hereingebrochen war.


Ginny sah bewegungslos auf den See. Das Wasser war mehr grau als blau und auch die Wellen, die an das Ufer schwappten, waren höher als sonst. Der Wind, der Ginny in das Gesicht blies, war heftig und sie fror in ihrer viel zu dünnen Robe. Sie hatte nicht daran gedacht, sich einen warmen Umhang überzuziehen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie konnte es nicht glauben, dass ihr Bruder tot war. Bill, dachte sie und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Unwillkürlich starrte sie herunter auf das glitzernd weiße Band, welches um ihr Handgelenk geschlungen war. Sie hatte nie jemanden erzählt, von wem sie es geschenkt bekommen hatte. Noch nicht einmal Hermione wusste von der verzauberten Weihnachtsnacht, an der sie Harry hoch oben auf einem der Türme begegnet war. Sie konnte es sich nicht erklären, doch klammerte sie sich mit aller Kraft, zu der sie fähig war, an die Gewissheit, dass es Harry nicht gewesen sein konnte.

Als der Alarm ertönt war, war sie in der Bibliothek gewesen und hatte mit Hermione nach Büchern gesucht, die ihnen bei einer ihrer Hausaufgaben helfen könnten. Sie war beunruhigt gewesen, aber erst als Charlie mit wachsbleichem Gesicht zu ihr gekommen war, hatte sie begriffen, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Erst nach und nach hatte sie erfahren, was sich ereignet hatte. Harry, Caro und Draco waren wie vom Erdboden verschwunden und alle hielten sie für schuldig. Nur sie glaubte es nicht. Den Grund dafür hätte sie nicht erklären können, aber sie wusste es, wusste tief in ihrem Herzen, dass es Harry nicht gewesen war. Die Hand hebend, legte sie ihre Wange auf das kühle Armband und starrte verloren auf den See.