Kapitel 28
Oktober 1993
Silbriger Nebel hatte den Strand umhüllt, als Harry dem schmalen Weg folgte, der sich durch die hohen Klippen wand. Auch an diesem Morgen schäumte das Meer und Harry hob sein Gesicht empor und spürte den Wind. Seitdem Harry Terley zum ersten Mal betreten hatte, liebte er das Meer, dessen Aussehen niemals gleich war, sondern sich immer änderte. Besonders mochte er es, wenn das Meer stürmte und die weiße Gischt an den Strand brandete. Langsam am Strand entlang schlendernd, stellte Harry überrascht fest, dass er sich tatsächlich für einen Augenblick glücklich gefühlt hatte.
Gleich darauf stürmte wieder das Gefühl der Schuld auf ihn ein, das ihn hartnäckig verfolgte. Er wusste, dass Caro und Draco ihn nicht verstanden, aber er konnte die sich überstürzenden Ereignisse, die sich im Archiv des Ordens ereignet hatten, einfach nicht vergessen. Ruhelos beschleunigte Harry seine Schritte. An diesem Ort hätte er glücklich werden können.
In Terley fühlte er sich geborgen und die vielen Bilder seiner Vorfahren, die im Schloss an den Wänden hingen, gaben ihm das Gefühl zu Hause zu sein. Wären da nicht seine Erinnerungen gewesen, die ihn heimsuchten und seine widerstreitenden Empfindungen für die Menschen, die er in Hogwarts zurückgelassen hatte und für seinen Adoptivvater, vor dem er geflohen war. Zornig begann Harry noch schneller zu gehen. Er wollte nicht wieder daran denken. Er begann zu laufen. Es war mühsam im Sand, doch wie so oft zuvor, war es Harry gleichgültig, als er sich zwang immer schneller zu werden.
Oben auf den Klippen stand eine zierliche Gestalt und schaute hinunter. Während Caros schwarze Haare im Wind flatterten, waren ihre dunkelgrauen Augen traurig auf Harry gerichtet, der sich stetig weiter fort bewegte. Sie wusste, warum er lief und sich dabei jedes Mal bis zur Erschöpfung verausgabte. Sie wusste es und trotzdem konnte sie nichts tun, um ihm zu helfen. Auch nach über einem halben Jahr hatten Harrys Schuldgefühle nicht nachgelassen.
Seit diesem unseligen Tag war er nicht mehr er selbst gewesen und seit damals hatte er auch keinen einzigen Zauberspruch aufgesagt. Irgendwie schien Harry seiner Magie die Schuld zu geben. Sie hatte ihm unzählige Male gesagt, dass es ein Unfall gewesen war, doch hatte alles nichts genützt. Als sie an die Vorwürfe dachte, die sie sich selbst machte, dass ihre Suche nach dem Mörder ihres Vaters der Auslöser für ihre Flucht und für Harrys Unglücklichsein gewesen war, schnitt sie eine Grimasse. Warum hatte nicht auch sie diejenige sein können, die ihren Angreifer getötet hatte?
Sie war überzeugt davon, dass sie keinerlei Schuldgefühle geplagt hätten. Der unerwartete Angriff hatte sie zu ihrer Schande jedoch so überrascht, dass sie nicht fähig gewesen war, sich zu verteidigen. Dabei war sie die Ältere, sie hätte Harry beschützen müssen und nicht Harry sie. Sie hatte es zudem noch nicht einmal geschafft den Mörder ihres Vaters zu entlarven und sich an ihm zu rächen. Zwar wusste sie, wer alles an dem Tag gegen ihren Vater und seine Begleiter gekämpft hatte, doch wer von ihnen ihren Vater auf dem Gewissen hatte, wusste sie nicht. Sie blickte wieder zu Harry.
Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie damals den richtigen Ordner gefunden hatte – auch hatte er wohl nicht gesehen, dass sie ihn mitgenommen hatte – was vor allem daran lag, dass auch Sirius Black an jenem Tag der Gruppe angehört hatte, die versucht hatte, die Anhänger des Dunklen Lords zu besiegen. Sie wusste zwar nicht genau, welche Gefühle Harry seinem Paten entgegen brachte, aber sollte er tatsächlich derjenige sein, der ihren Vater ermordet hatte, war sie sich sicher, dass Harry ihr diesmal nicht helfen würde. Kopfschüttelnd seufzte sie. Sie würde sowieso nie wieder eine Gelegenheit bekommen, mit den Mitgliedern des Phönixordens zusammenzutreffen. Die Möglichkeit, dass sie jemals wieder Hogwarts betreten würde, war äußert gering.
„ In welchen Gedanken bist du denn versunken?"
Caro schreckte hoch und sah Draco mit grinsendem Gesicht vor sich stehen. Um seine Schultern hatte er ein Handtuch geschlungen. Seine Frage ignorierend, starrte sie ihn ungläubig an.
„ Du willst schwimmen gehen?"
„ Ja, warum nicht? Es ist doch noch nicht kalt. Nur ein wenig neblig.", antwortete er und begann den Pfad hinunterzulaufen.
Caro schüttelte abermals den Kopf und zog die Schultern hoch. Ihr wäre das Wasser viel zu kalt gewesen, aber Draco musste es ja schließlich wissen. Seufzend wandte sie sich ab und begann zum Schloss zurückzugehen.
Als er die Augen aufschlug und in die undurchdringliche Finsternis seiner Zelle starrte, gelang es ihm nicht, sich an seinen Traum zu erinnern. Verzweifelt versuchte er sich zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, dass es von größter Wichtigkeit war, dass es ihm gelang, sich seinen Traum ins Gedächtnis zu rufen. Die Anstrengung trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn. Ein Bild von meerblauen Augen stieg in ihm hoch. Hatte er davon geträumt?
Doch was sollte das bedeuten? Er konnte nichts mit diesen blauen Augen verbinden, sie kamen ihm noch nicht einmal bekannt vor, aber weshalb hatte er dann das beängstigende, seltsame Gefühl, dass diese meerblauen wunderschönen Augen der Schlüssel gegen sein Vergessen und die immer finsterer werdende Dunkelheit waren?
Die Kapuzen ihrer Umhänge tief über ihre Gesichter gezogen, hasteten Caro und Harry durch Hogsmeade.
Es war später Nachmittag und es begann schon zu dämmern. Da Caro festgestellt hatte, dass sie ihre Vorräte wieder einmal aufgebraucht hatten, waren Caro und Harry nach Hogsmeade aufgebrochen, um einzukaufen. Draco lag mit Fieber in Terley. Warum musste er bei solch einem Wetter auch schwimmen gehen? fragte sich Caro ärgerlich, während sie die Regale nach den Zutaten für einen Heiltrank durchstöberte. Rainbows Heilkräfte waren zwar ausgezeichnet dazu geeignet Knochenbrüche zu heilen, aber gegen einfache Erkältungen halfen sie nicht.
„ Beeil dich.", zischte Harry ungeduldig.
„ Wir hätten doch besser in die Nokturngasse gehen sollen, wie sonst auch. Dort ist die Chance erkannt zu werden immerhin minimal."
„ Dort gäbe es aber keine Möglichkeit Zutaten für heilende Zaubertränke zu kaufen. Und in die Winkelgasse wolltest du nicht gehen. Außerdem habe ich ja schon das richtige gefunden.", sagte Caro und wenige Zeit später hatten sie den Laden verlassen.
„ War's das jetzt?"
Caro nickte.
„ Ja."
Als sie beinahe die Heulende Hütte erreicht hatten, streifte Caros Blick ein paar schemenhafte Gestalten, die im Schutze einiger Bäume zu erkennen waren und jäh blieb sie stehen. Auf dem Boden wälzte sich ein Mann und für einen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht.
„ Harry! Es ist Charlie Weasley! Wir müssen ihm helfen!", flüsterte sie atemlos und packte Harrys Arm. Harry starrte sie an.
„ Wie stellst du dir das vor? Es sind zu viele.", entgegnete er, fluchte dann und lief in Richtung der Todesser. Caro folgte, während sie sich verwirrt fragte, was sie da eigentlich tat. Sie konnte doch unmöglich gegen die Dunkle Seite kämpfen, oder?
Harry streifte die Kapuze ab.
„ Hört auf den Gefangenen zu foltern! Sofort!"
„Zabini, mein Vater wünscht ihn lebend."
Für einen Augenblick glaubte Caro, dass Harry den Verstand verloren hätte, begriff dann aber, dass Harry einen der Todesser erkannt hatte. Dieser seinerseits hatte inzwischen wohl auch Harry erkannt, wenigstens seiner Reaktion nach zu urteilen. Sich verbeugend, gebot der Zauberer seinen Untergebenen Einhalt.
„ Ihr könnt gehen. Wir werden den Gefangenen nach Arreton bringen.", sagte Harry gebieterisch, eine goldene Aura schien ihn zu umgeben. Caro blinzelte verwundert. Wie durch ein Wunder gehorchten die Todesser. Kurz darauf waren sie verschwunden und Harry sackte gegen einen Baum.
„ Ich hätte nie gedacht, dass das funktioniert.", sagte er schwach, während er immer noch nicht fassen konnte, dass ihm der Name eingefallen war und die Anhänger seines Adoptivvaters ihm wirklich gehorcht hatten.
Kopfschüttelnd, meinte er:
„ Sie müssen es irgendwie geschafft haben unser Verschwinden geheim zuhalten. Andernfalls hätten sie nie…"
„ Harry, hilf ihm!", unterbrach ihn Caro, die sich indessen über Charlie gebeugt hatte und den Schweigefluch aufgehoben hatte. Caro strich ihm über die Stirn und Harry musterte sie überrascht. Niemals zuvor hatte er solch einen Ausdruck in ihren dunkelgrauen Augen gesehen.
Sich vom Baum abstoßend, zog er eine Augenbraue hoch.
„ Du liebst ihn, nicht wahr?"
Caro sprang auf.
„ Nein, das tue ich nicht.", schrie sie fast und wandte sich um.
Harry schüttelte den Kopf und verwandelte sich in einen Phönix. Es dauerte nicht lange und Charlie setzte sich mühsam auf. Harry hatte sich nur um die aller schwersten Wunden gekümmert. Wissend, dass sein Adoptivvater, sollte er von dem Vorfall erfahren, sofort hierher kommen würde, wollte er keine unnötige Zeit verlieren.
„ Charlie, du musst so schnell wie möglich nach Hogwarts zurückkehren. Schnell."
Er half Charlie auf, der ihn anblinzelte.
„ Harry?", brachte er mit heiserer Stimme hervor.
„ Bevor sie zurückkommen. Schnell, Charlie, geh."
Harry blickte ihn eindringlich an und sah in den hellbraunen Augen Charlies einen seltsamen Ausdruck, den er nicht deuten konnte. Doch zu seiner Erleichterung drehte dieser sich um und begann in Richtung Hogwarts zu taumeln.
Während er mehr oder weniger lief, drehte sich Charlie noch einmal um und für einen Augenblick verweilten seine Augen auf dem Mädchen, das nunmehr neben Harry stand und er erinnerte sich, wie er sie zum ersten Mal getroffen hatte und ihre dunklen Augen ihn angestarrt hatten und ihn gefangen genommen hatten. Wieder geradeaus sehend, beschäftigten sich seine Gedanken mit der Frage, warum Harry ihm das Leben gerettet hatte. Er konnte es nicht verstehen. Als er endlich Hogwarts erreichte, kam ihm seine Schwester entgegen. Sie blieb stehen und ihre Augen weiteten sich.
„ Du bist verletzt!" und wollte eine Hand nach seiner Wange ausstrecken, die ein blutiger Kratzer zierte.
„ Es ist nichts Schlimmes.", antwortete er hastig und wich ihr aus.
Ginny musterte ihn skeptisch und fragte:
„ Was ist passiert?"
„ Ich bin einigen Todessern in die Arme gelaufen. Ich dachte schon, dass wäre mein Ende. Aber, plötzlich, taucht Harry auf und befielt den Todessern mich frei zu lassen. Er hat mein Leben gerettet. Kannst du das glauben?"
„ Ich verstehe es einfach nicht, warum hat er das getan?", wunderte er sich kopfschüttelnd und ging neben Ginny her hoch zum Schloss. Ginny ergriff die Hand ihres Bruders und schickte in Gedanken ein Dankesgebet an Harry. Es war also doch gerechtfertigt gewesen, niemals zu glauben, dass Harry mit den Morden an Bill und Mr. Farle zu tun gehabt hatte. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres ältesten Bruders fühlte sie sich glücklich und seltsam beschwingt. Sie sah hoch zu einem der Türme und lächelnd fiel ihr ein, wie ihr Brief Harry auf alle Fälle erreichen würde. Kaum hatten sie das riesige Portal passiert, lief ihnen einZauberer, angetan mit der scharlachroten Robe, die jedes Mitglied des Phönixordens trug, entgegen und keuchte:
„Charlie, da bist du ja. Es gibt einen neuen Auftrag für uns. Wir sollen sofort zu Alastor kommen."
Charlie nickte.
„ Du musst in den Krankenflügel, Charlie. Du kannst dich doch jetzt nicht in einen weiteren Kampf stürzen!", protestierte Ginny entsetzt.
Ihr Bruder schüttelte den Kopf und ihr noch einen liebevollen Blick zuwerfend, folgte er seinem Kollegen. Ginny sah ihnen nach und betete, dass Charlie auch diesen neuen Auftrag einigermaßen überstehen würde. Sie wusste, sie würde es nicht ertragen, noch einmal jemanden zu verlieren, den sie liebte.
Als Harry aus der Bibliothek in das Zimmer trat, in dem es sich Caro und Draco, dem es dank des Zaubertrankes, den Caro ihm zubereitet hatte, wieder besser ging und der Caro versprechen hatte müssen bei so einem Wetter nie mehr schwimmen zu gehen, gemütlich gemacht hatten, sah er, dass Rainbow mittlerweile von ihrem Ausflug zurückgekommen war. Caro hielt ihm einen Brief entgegen.
„ Er ist von Ginny.", sagte sie mit gerunzelter Stirn.
Verwundert darüber, dass Rainbow ihm den Brief gebracht hatte, zerriss er den Briefumschlag und faltete das Pergament auseinander.
Harry,
Ich hoffe, dass dich dieser Brief erreicht. Ich musste dir unbedingt schreiben und ich weiß, dass die Schuleulen dich nicht erreichen würden. Deswegen habe ich so lange gewartet bis Rainbow Fawkes besucht hat. Ich wollte dir danken, danken, dass du Charlie das Leben gerettet hast. Harry, ich weiß nicht, was an dem Tag geschehen ist, an dem ihr geflohen seid, aber ich glaube nicht, dass du es warst. Ich glaube es nicht, ich weiß es. Ich habe nie vergessen, was du mir am See und in der Bibliothek erzählt hast. Bitte, Harry, komme zurück und kläre die Sache. Sirius ist so unglücklich seit eurer Flucht. Er wollte es anfangs nicht wahrhaben, aber als er das Dunkle Mal sah, brach er zusammen und seitdem glaubt er und all die anderen, dass du Bill und Mr Farle getötet hast. Harry, bitte, komm zurück. Wenn nicht, dann lass mich wenigstens wissen, dass es dir gut geht. Bitte!
Ginny
Harry starrte auf die schwarzen Buchstaben und versuchte zu verstehen, was dort stand. Ohne es richtig wahrzunehmen, setzte er sich in Bewegung und ging aus dem Zimmer. Sein Weg führte ihn hinaus, ans Meer. Zum Strand hinuntergehend, zog er seinen Umhang fester um sich. Es war kalt und der Wind peitschte ihm ins Gesicht und drohte ihm den Brief zu entreißen. Er setzte sich auf einen der Steine und begann den Brief ein zweites Mal zu lesen. Welches Dunkle Mal? Und Bill sollte tot sein? Wie konnte das sein? Er konzentrierte seine Gedanken auf den Tag, an dem sie aus Hogwarts geflohen waren.
Seine Erinnerung war undeutlich und verschwamm in einem Nebel. Als Bill hereingekommen war, hatte Caro ihm mit einem Zauber getroffen. Aber hätte Caro wirklich den Todesfluch verwendet? Das hätte sie niemals getan, oder? Harry versuchte sich krampfhaft an die Farbe ihres Fluchs zu erinnern. Er erinnerte sich, dass Caro Bill mit einem Vergessenszauber belegen hatte wollen, also konnte es nicht sein, dass sie Bill umgebracht hatte, dachte er erleichtert. Harry stopfte den Brief in seine Tasche und ging ein paar Schritte auf das Meer zu. Wer aber hatte es dann getan? Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schreckte ihn eine zaghafte Stimme auf.
„Harry?"
Harry drehte sich um und erblickte Peter, der gerade den Strand betrat. Harry ging ihm entgegen.
„ Was ist los?"
Peters Blick wich dem seinen aus, merkte Harry plötzlich und irgendetwas schien ihn zu beunruhigen.
„ Harry, ich muss dir etwas sagen. Ich…ich bin euch damals in das Archiv gefolgt und ich habe gesehen, was dort geschehen ist. Als ihr das Archiv verlassen habt, habe ich die beiden Zauberer getötet. Euer Angreifer war lediglich bewusstlos. Du hast ihn nicht getötet, Harry. Ich habe es getan und das Dunkle Mal in die Luft gezaubert.", stammelte er mit überschlagener Stimme.
Harry wollte schon verärgert erwidern, dass er diese Lüge nicht glauben würde, als er erstarrte.
„ Du hast das Dunkle Mal in die Luft gezaubert?", krächzte er.
Peter nickte kläglich.
In Harrys Kopf drehte sich alles, Gedanken stürmten auf ihn ein und an Ginnys Brief denkend, starrte er Peter an.
„ Du hast sie getötet? Aber….aber warum?", fügte er hinzu, als der kleine Mann nickte.
Harry bekam nur die erste Hälfte der mit zitternder Stimme und kaum zu verstehenden Erklärung mit, als er unwillkürlich aufsprang. Zorn kochte in ihm auf.
„ Du hast sie getötet, du hast Ginnys Bruder getötet, weil du Angst hattest entdeckt zu werden? Weil du verhindern wolltest, dass ich jemals wieder nach Hogwarts zurückkehre? Verschwinde, verschwinde von hier. Komm nie wieder unter meine Augen.", brach es aus Harry hervor
Peter taumelte mit vor Schreck geweiterten Augen zurück. Harry drehte sich brüsk um und lief den Pfad hinauf. Wie konnte er es wagen? Wie konnte Peter es wagen ihn derartig zu verraten?
Peter rappelte sich mühsam hoch und sein Blick richtete sich auf Harry, der immer noch von dieser goldenen unheimlichen Magie umgeben war und den Felsen hoch stürzte. Zu sehen wie das Vertrauen in den smaragdgrünen Augen schlagartig zerbröckelt war, hatte ihn schwer getroffen, aber er wusste, dass es so am besten war. Er war froh, dass er endlich genügend Mut aufgebracht hatte mit Harry zu sprechen. Auch wenn Harry ihn nun hassen würde. Das Wichtigste war jedoch, dass Harry ihm geglaubt hatte.
Seufzend starrte Peter auf das Meer hinaus. Die Wochen in Hogwarts waren eine Qual gewesen, die Furcht entdeckt zu worden, war von Tag zu Tag schlimmer geworden. Und eines Tages war er Remus in einem der Korridore begegnet. Remus war stehen geblieben und für einen Moment hatte Peter geglaubt, dass dieser ihn entdeckt hatte.
Er wusste, dass Remus und Sirius ihn umbringen würden, sollten sie ihn entdecken. Als er in seiner Animagus Form dann Zeuge der Ereignisse geworden war, die sich im Archiv abgespielt hatten, hatte er im Bruchteil einer Sekunde gehandelt, bevor die Tür aufgeflogen war, bevor er darüber nachdenken konnte, was für Konsequenzen sein Handeln haben würde und vor allem was es für Harry bedeuten würde. Er hatte gewusst, dass Sirius einen Unfall wohl verzeihen würde, aber niemals einen Mord. Auf die Knie sinkend, dachte er an seine Vergangenheit zurück und fragte sich, an welchem Punkt seines Lebens, alles begonnen hatte schief zulaufen. Auf das stürmische Meer sehend, leistete er einen Schwur und Peter wusste, dass er ihn eines Tages erfüllen würde, auch wenn es ihn sein Leben kosten würde. Irgendwann würde er seine Schuld bezahlen.
Harry stolperte den schmalen Pfad entlang und lief durch den Garten, zur anderen Seite des Schlosses, wo er wieder hinunter zum Strand lief. Wie lange er lief, wusste Harry nicht, doch irgendwann wurde es immer schwerer durch den nassen Sand zu laufen und schließlich fielt er nach Atem ringend auf die Knie. Sein Herz hämmerte und ihm war schwindelig. Immer wieder hörte er Peters Stimme:
‚Ich war es, der sie tötete.'
Während die Wellen sich am Strand brachen, setzte er sich plötzlich aufrecht hin. Ich habe ihn nicht getötet. Harry spürte, wie die schwere Bürde der Schuld von ihm abfiel und er fühlte wie ihn beinahe ein beschwingtes Gefühl erfasste, welches jedoch jäh verschwand, als er an Ginny und ihren Bruder Bill dachte. Harry zog seine Knie zu sich und umschlang sie mit seinen Armen, während er seine Augen auf die Wellen richtete.
Die Nacht war bereits angebrochen, als Harry sich mit klammen Gliedern erhob und zum Schloss zurückkehrte. Es war eisig geworden und zum silberhellen Mond, der gerade von vorbeiziehenden Wolken verdeckt wurde, hinaufsehend, beschleunigte er seine Schritte. Als er die große Bibliothek betrat und die wohlige Wärme ihn umfing, seufzte er. Bei seinem Erscheinen war Caro aufgesprungen.
„ Harry! Wir haben uns schon Sorgen….Was ist passiert?"
Manchmal, dachte Harry und ging zu einem der Sessel, wäre es gut, wenn sie sich nicht so gut kennen würden.
Draco, der fest in eine hellgrüne Decke gewickelt war, sah von seinem Buch auf und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Harry, zu müde um sich eine Lüge auszudenken, begann ihnen zu erzählen, was sich am Strand ereignet hatte.
Als er geendet hatte, sah er, dass Caro, die ziemlich merkwürdig dreinschaute, den Mund aufmachte, jedoch gleich darauf ihre Lippen zusammenpresste und seinem Blick auswich.
„Weshalb hast du ihn nur entkommen lassen?", wollte Draco wissen, der ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete.
„ Ich weiß es nicht. Ich habe gar nicht daran gedacht…"
Draco schüttelte verständnislos den Kopf.
Sich zurücklehnend, sah Harry zu Caro und wollte sie gerade fragen, warum sie so seltsam geschaut hatte, als Caro aufsprang.
„ Es ist schon spät. Ich werde mich ums Abendbrot kümmern.", sagte sie hastig und eilte aus der Bibliothek. Harry starrte ihr verwundert nach. Sich um das Abendbrot kümmern? Weshalb wollte sich Caro um das Abendbrot kümmern, wenn Nell und die anderen Hauselfen die diversen Mahlzeiten zubereiteten? Bevor Harry jedoch weiter darüber nachdenken konnte, schlug Draco vor eine Partie Schach zu spielen und über das spannende Spiel, vergaß Harry vorerst Caros unerklärliches Verhalten und Peters schockierende Offenbarungen.
Erst nachdem sie sich Gute Nacht gesagt hatten und Harry zu seinem Zimmer zurückkehrte und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel ihm ein, dass er Caro immer noch nicht gefragt hatte, was sie hatte sagen wollen, bevor sie es sich anders überlegt hatte. Einen Moment zögerte er noch, dann machte er sich auf den Weg zu Caros Räumen. Caro war überrascht, doch er ließ ihr keine Zeit. Übergangslos fragte er:
„ Du wolltest vorhin etwas sagen, als ich von Peter erzählt habe. Was war es?"
Caro schüttelte den Kopf.
„ Es war nichts, Harry."
Ihr Gesicht war ausdruckslos, doch Harry kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie irgendetwas verheimlichte. Und manchmal war es doch ganz gut, dass sie sich so gut kannten, dachte Harry belustigt. Caro jedoch schwieg und Harry hatte immer mehr das Gefühl, das er unbedingt wissen musste, was das war, dass Caro ihm nicht sagen wollte.
Sie am Arm fassend, starrte er in ihre dunkelgrauen Augen und versuchte ihre Gedanken zu sehen. Wütend riss sie sich los.
„ Das ist nicht fair, Harry."
Harry seufzte.
„ Tut mir leid, aber es hat etwas mit Peter zu tun, oder? Du hast gerade an ihn gedacht. Caro, wir haben uns nie angelogen und Geheimnisse voreinander gehabt."
Caro wandte sich zum Fenster, während Harry einen Schritt vortrat.
„Caro, bitte! Was ist es?"
Da drehte sich Caro wieder um und starrte ihn traurig an. Harry dachte an ihren Gesichtsausdruck zurück und fragte leise:
„ Du glaubst, dass er mich angelogen hat, nicht wahr?"
„Ja. Er war tot und Peter mag Ginnys Bruder getötet haben, aber unseren Angreifer nicht."
Einige Schritte auf sie zugehend, blieb Harry stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Verwirrt schaute er sie an.
„ Aber warum sollte er mir so etwas erzählen?"
„Oh, Harry. Hast du nicht gemerkt, welche Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Vielleicht hat auch Peter sich Sorgen um dich gemacht und wollte dir helfen. Zwar habe ich keine Ahnung was er sich dabei gedacht hat, Ginnys Bruder zu ermorden, aber da er dir davon erzählt hat und dich glauben machen wollte, dass er auch unseren Angreifer getötet hat, nehme ich an, dass er dich aus deinen Selbstvorwürfen herausholen wollte."
Caro legte ihre Arme um ihn.
„ Es war ein Unfall, Harry. Du darfst dir nicht die Schuld daran geben und hör endlich auf dir Vorwürfe zu machen. Dann müsste ich ja in Vorwürfen versinken, schließlich habe ich dich dazu gebracht ins Archiv zu gehen.", sagte Caro, schob ihn ein Stück von sich und sah ihn an.
Harry schüttelte den Kopf.
„Es war trotzdem meine Schuld. Hätte ich nicht die Kontrolle über meine Magie verloren…"
„ So, ein Unsinn, Harry! Er hätte uns glatt umgebracht. Was es deine Schuld, dass das Bücherregal dort stand? Und außerdem, wenn es deine Schuld war, dann war es auch meine. Ich habe dich überredet mit ins Archiv zu kommen. Und Nell, Harry ich habe von Anfang an geplant meinen Vater zu rächen und deswegen habe ich Nell die Freiheit geschenkt. Damit du mir helfen würdest. Ich dachte, dann könntest du nicht nein sagen.", sprudelte es aus Caro hinaus.
Harry starrte sie einen Augenblick an. Er hatte völlig vergessen, wonach sie damals gesucht hatten.
„ Und du hast noch nicht einmal etwas herausbekommen.", sagte er leise.
Caro warf ihm einen unsicheren Blick zu.
„Du bist nicht böse? Ich meine, wegen Nell…"
„Nein, ich weiß, dass du es auch getan hättest, wenn ich dich darum gebeten hätte. Und du hast Nell nicht in Arreton zurückgelassen, das werde ich dir nie vergessen.", sagte Harry und einen Augenblick später fragte er zögernd:
„ Wenn du herausgefunden hättest, wer es gewesen war, hättest du ihn dann wirklich umgebracht?"
„Harry, ich glaube, ich muss dir etwas sagen."
Caro holte tief Luft und fing an zu erzählen, was sie in dem Archiv gefunden hatte. Sie sprach schnell, sodass sie es sich nicht mehr anders überlegen konnte. Als sie geendet hatte, herrschte für eine Weile eine gespenstische Stille. Harrys Gesicht wirkte im matten Licht der magischen Kerzen, ausdruckslos.
„Es könnte Sirius gewesen sein.", murmelte er.
„ Ja."
Für eine Weile schwiegen sie und Caro fragte sich, ob sie Harry ihre Entdeckung nicht doch lieber hätte verschweigen sollen. Dann sagte Harry übergangslos:
„Ich hätte merken müssen, dass Peter Angst hatte entdeckt zu werden, dann…"
„Nein, Harry, nein, du wirst dir jetzt keine Schuld geben, dass er Ginnys Bruder umgebracht hat. Außerdem hätte Peter doch etwas sagen können. Wenn er Hogwarts hätte verlassen wollen, hätten wir ihn doch nicht aufgehalten."
Harry seufzte, zog Caro an sich und umarmte sie fest.
„Ach Caro, warum muss immer alles so kompliziert sein?"
Caro legte den Kopf an seine Schulter und murmelte:
„ Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, Harry.
Es war dunkel in der riesigen Bibliothek. Nur in einer der Ecken brannte ein schwaches Licht. Narcissa Malfoy lächelte, während sie den Brief ein zweites Mal las. Kurz darauf griff sie nach einer Feder und einem Blatt Pergament und fing schnell an zu schreiben. Sie vergaß jedoch nicht einen Augenblick zu lauschen, ob es immer noch still im Hause war. Auf keinen Fall durfte Lucius sie entdecken. Als sie fertig geschrieben hatte, stand sie auf und eilte zu einem der Fenster.
Dem schwarzen Phönix nachsehend, seufzte Narcissa. Sie vermisste Draco so sehr und hätte alles gegeben um ihn in diesem Augenblick in die Arme schließen zu können. Sie hatte solche Angst um Draco gehabt und weder Lucius noch Bella hatten sie beruhigen können, die beide maßlos wütend über das Verschwinden gewesen waren, wohingegen der Dunkle Lord überraschend gelassen gewesen war und es immer noch war. Sogar, als sie vor zwei Tagen erfahren hatten, dass Harry und Caro einem Gefangenen geholfen hatten.
Ihr Gebieter hatte die verantwortlichen Todesser noch nicht einmal bestraft, sicher, sie hatten nicht wissen können, dass die Kinder geflüchtet waren – auf Geheiß des Dunklen Lords war die Flucht der Kinder geheim gehalten worden – aber ob jemand Schuld hatte oder nicht, hatte ihren Gebieter noch nie interessiert. Fast war es so, dachte sie, dass er irgendetwas wusste, was allen anderen verborgen war. Er schien auf etwas zu warten und Narcissa wurde das unbehagliche Gefühl nicht los, dass es nichts Gutes war.
Erst Dracos Briefe hatten sie einigermaßen beruhigen können, Briefe, von denen sie keiner Menschenseele erzählt hatte. Es war ein Glück gewesen, dass es ihr bis jetzt gelungen war, alle Briefe vor Lucius geheim zu halten. Sie war unsagbar froh zu wissen, dass die Kinder in Terley glücklich waren und vor allem waren sie dort keinerlei Gefahr ausgesetzt, sogar der Dunkle Lord würde sie dort nicht finden können, dachte Narcissa, was auch immer er zu planen schien.
Sie war mehr als erleichtert gewesen, als sie erfahren hatte, dass die Kinder Hogwarts verlassen hatten. Aber nun war ja alles gut und solange Draco und Caro, die sie ebenfalls vermisste, glücklich waren, war sie es auch, obwohl sie immer noch nicht genau verstanden hatte, was der Grund für ihre Flucht gewesen war. Narcissa drehte sich herum und eilte zurück in ihr Schlafzimmer, während sie darüber nachdachte, ob es nicht vielleicht möglich wäre, die Kinder zu besuchen.
Harry warf sich zum wiederholten Male auf die andere Seite, aber sein Wunsch endlich Schlaf zu finden erfüllte sich nicht. Er fand einfach keine Ruhe. Entnervt warf er schließlich seine Bettdecke beiseite, ihm war so heiß und die Luft in seinem Zimmer schien zum Ersticken. Zum Fenster gehend, riss er es auf. Die Nachtluft war eisig und binnen Sekunden fröstelte er. Überrascht bemerkte er, dass Rainbow nirgends zu sehen war. Er schloss das Fenster und sich abwendend trat er zu seinem Sessel und sank hinein. Er zog seine Knie zu sich, umschlang sie mit seinen Armen und seufzte. Heute war einfach zu fiel passiert, dachte Harry.
Der Brief Ginnys, das Geständnis Peters, das Gefühl der Erleichterung, das ihn für so kurze Zeit überkommen hatte und schließlich das Gefühl der Resignation, als er mit Caro gesprochen hatte, wie auch die Schuldgefühle die sich seiner wider bemächtigt hatten. Nachdem sie ihm erzählt hatte, was sie im Archiv gefunden hatte, hatte sie ihm den Ordner gezeigt und Harrys Gedanken wanderten zu Sirius. Er könnte es gewesen sein. Und wieder fragte er sich, wo denn eigentlich der Unterschied war zwischen dem Orden und den Anhängern seines Adoptivvaters.
An Sirius und Charlotte denkend, verspürte er eine Mischung aus seltsamer Traurigkeit und Schuldgefühlen, doch auch Zorn, dass sie so mühelos an seine Schuld glaubten. Er wusste, er würde niemals erklären können, warum ihm an jenem Tag jegliche Kontrolle entglitten war und warum am Ende Ginnys Bruder und der andere Zauberer nicht mehr am Leben gewesen waren. Wer würde ihm auch glauben? Peter war wahrscheinlich über alle Berge verschwunden und Harry war sich ziemlich sicher, dass er in naher Zukunft auch nicht auftauchen würde. Doch er wollte jetzt nicht über Peter nachdenken.
Es gab allerdings jemanden, der nicht an seine Schuld glaubte, flüsterte ihm eine kleine Stimme in seinem Kopf zu. Wärme erfüllte ihn, als ein Bild von einem rothaarigen Mädchen in ihm aufstieg. Die dunkelbraunen Augen Ginnys in Erinnerung rufend, spürte er, wie er zu lächeln anfing. Sie glaubte an ihn. So seltsam und unerklärlich es für ihn auch war.
Einen Augenblick saß er völlig still, dann stieß er einen langen Seufzer aus. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er Ginny je wieder sehen würde. Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Sich aus dem Sessel erhebend, ging er zum Fenster zurück. Es war Rainbow, die von einem ihrer Ausflüge zurückgekehrt war. Überrascht bemerkte er, dass es angefangen hatte zu schneien. Dabei hatte der November noch nicht einmal angefangen und vor wenigen Tagen hatte Draco noch im Meer geschwommen. Den Schneeflocken zusehend, wie sie langsam auf der Fensterbank landeten, erinnerte er sich, das er doch etwas tun konnte, um Ginny wissen zu lassen, dass es ihm gut ging. Zögernd streckte er seine Hand nach den Schneeflocken aus. Er würde seinen Schwur brechen müssen, aber das war ihm im Augenblick völlig egal. Harry fühlte sich ausgelaugt. Hätte er Caro doch nie bedrängt.
Aber dann schüttelte Harry den Kopf. Wäre es besser gewesen mit der Lüge zu leben? Caro hatte Recht. Es war ein Unfall gewesen. Selbst wenn er seine Magie nie wieder benützen würde, würde er ihn auch nicht wieder lebendig machen, genauso wenig wie Ginnys Bruder. Außerdem hatte er zwei Tage zuvor, als er Charlie Weasley geholfen hatte, mit aller Deutlichkeit begriffen, dass er zaubern würde, sobald es notwendig war. Und es nützte keinem, wenn er in Selbstvorwürfen versank, sagte er sich trotzig. Des Weiteren gab es ohne Magie keine Möglichkeit Ginny die kleine Überraschung zu schicken, die ihm gerade eingefallen war. Kurze Zeit später streichelte er über Rainbows nasse Federn und schüttelte den Kopf.
„ Und du hast dich in Fawkes verliebt?", fragte er seinen Phönix. Das ihm dies gänzlich entgangen war, musste daran gelegen haben, dass er zu beschäftigt gewesen war, sich um andere Dinge Gedanken zu machen. Rainbow trällerte bestätigend und schmiegte ihr Köpfchen an seine Schulter. Harry lächelte und als Rainbow wieder hinausgeflogen war um Ginny ihr Geschenk zu bringen, blieb er noch eine Weile am Fenster stehen und starrte in die Dunkelheit.
