Kapitel 31

Emily deckte den kleinen Jamie zu und fühlte, wie sie wieder der Drang überkam zu weinen. Jamie einen Kuss gebend, wandte sie sich langsam um und verließ sein Zimmer. Sie ging zu Sirius, der neben dem Fenster stand und hinausstarrte.

„ Sirius, Jamie braucht dich jetzt. Du musst…"

„ Nein, ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht, Emily." Er sah sie mit einem solchen Ausdruck in den Augen an, dass sie wusste, dass sie es nicht über das Herz bringen würde, zu versuchen ihn zu überreden.

„ Ich werde bei Jamie blieben.", sagte sie leise und kehrte zurück zu ihrem Neffen, der immer noch wie Espenlaub bebte und der immer noch nicht richtig begriffen hatte, dass er seine Mutter nie wieder sehen würde. Jamie in ihren Armen haltend, begann sie zu summen während ihr das Herz brach. Charlotte war mehr für sie gewesen, als eine Schwester. Sie war ihre andere Hälfte gewesen. Ihr ganzes Leben war Charlotte für sie da gewesen, hatte sie unterstützt, hatte ihr geholfen und war ihre Vertraute gewesen. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie sie getröstet und sie hatte sich an ihre ältere Schwester geklammert. Emily konnte nicht glauben, dass ihre Schwester einfach nicht mehr da sein sollte.

Wie sollten sie nun weiter leben? In die Dunkelheit starrend, erkannte sie, dass es ihr nichts bedeutete, dass Voldemort nach Azkaban gebracht worden war. Irgendwie konnte sie sich nicht dazu bringen zu fühlen, dass es etwas bedeutete. Der Krieg war vorbei, aber Charlotte war tot. Emily dachte zurück an die Ereignisse, die zu dieser Katastrophe geführt hatten. Wo war der Anfang gewesen? Hätte Dumbledore auf Severus und Alison gehört und hätte ihn nicht zurück zu Voldemort geschickt, wäre dann alles anders gekommen? Wenn Harry und seine Freunde nie in Hogwarts aufgetaucht wären, wäre es dann passiert?

Emily wusste, dass Charlotte nicht wirklich geglaubt hatte, dass Harry die Schuld an den Morden von Farle und Bill Weasley trug und sie wusste, dass Charlotte Harry niemals verantwortlich gemacht hätte für das Geschehene, aber im Augenblick konnte sie nicht anders, als in ihrem Kummer Harry die Schuld zu geben, wie auch Dumbledore dem Orden, Voldemort, Severus und selbst Jamie und Lizzie, nur um sich gleich darauf zu schämen. Wie konnte sie ernsthaft daran denken, dass Jamie Schuld hatte? Als Jamie endlich eingeschlafen war, erhob sich Emily leise und ging zu Hermiones Zimmer hinüber. Emily dachte daran, wie erschrocken sie alle gewesen waren, als die Kinder in der steinernen Halle aufgetaucht waren. Hermione lag im Bett. Ihre Augen waren geöffnet und schienen auf die gegenüberliegende Wand zu starren. Emily legte behutsam eine Hand auf Hermiones Schulter.

„Hermione?"

Hermione sah sie mit umschatteten Augen an.

„Warum? Emily, warum…", Hermiones Stimme brach und Emily nahm das Mädchen in die Arme.


Albus Dumbledore war einen der Türme hinaufgestiegen und lehnte sich nun gegen die Zinnen. Während er in den sternenübersäten Himmel sah, seufzte er leise. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass der Krieg jetzt tatsächlich vorbei war. Jetzt, da Voldemort in Askaban war und sein Hauptquartier zerstört worden war, würden diejenigen Anhänger, die noch nicht gefasst worden waren, den Krieg sicherlich nicht weiter führen. Jedenfalls hoffte er das, es sei denn, es gäbe einen Anführer, der Riddle ersetzten würde können. Es war ein Glück für sie gewesen, dass nur ein Teil der Dementoren abtrünnig geworden war und sich dem Dunklen Lord angeschlossen hatten, sodass Askaban in all den Jahren niemals in Tom Riddles Hände gefallen war. Albus' Gedanken wanderten zu Harry.

Er hatte den Jungen und seine Freunde nach Hogwarts mitnehmen wollen, doch Harry hatte sich geweigert und war mit seinen Freunden nach Terley zurückgekehrt. Es missfiel ihm, dass es ihm nicht gelungen war, Harry aufzuhalten, aber wenigstens hatte der Junge ihm gesagt, wo er sie erreichen konnte.

Terley, dachte Albus, die Antwort hatte ihn überrascht, genauso, wie das plötzliche Auftauchen von Peter Pettigrew und seine Rolle, die er in den Ereignissen in dem Archiv gespielt hatte. Als er nach dem Kampf erfahren hatte, dass Pettigrew einen für Remus bestimmten Fluch abgefangen, Remus somit das Leben gerettet und dabei sein eigenes gelassen, hatte er es nicht glauben wollen. Dabei hatte er vor so vielen Jahren Lily und James verraten, flüsterte eine hartnäckige Stimme. Doch Albus schauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, hätte Peter ihnen nicht den Weg ins Schloss gezeigt. Ohne Zweifel hätten sie die Kinder nicht retten können und hätten nicht nur Charlotte verloren, sondern auch Sirius, die Lupins und Alison. Albus blinzelte traurig. Er hatte Charlotte sehr gern gehabt. Sich umdrehend, ging er zu Treppe.

Die Stufen langsam heruntergehend, wanderten seine Gedanken zu Severus. Sie hatten ihn in einer der Kerker in Arreton Castle gefunden, bewusstlos und sie hatten ihn mitgenommen. Momentan lag er im Krankenflügel. Immer noch wusste keiner, was mit ihm geschehen war oder was in aller Welt ihn dazu gebracht hatte seine Tochter und Jamie zu entführen. Aber was auch immer passiert war, dachte Albus, irgendwie musste das Leben weitergehen, so schwer es auch war. Vielleicht würden sich auch irgendwann Antworten auf seine Fragen geben. Die Tür zu seinem Büro erreichend, beschloss er so bald wie möglich mit Harry zu sprechen. Harry musste wieder nach Hogwarts zurückkommen, nun, da sie wussten, wer für die Morde im Archiv verantwortlich war.


Nachdem Remus seine Kinder zu Bett gebracht hatte, begann er nach Sirius und seiner Frau zu suchen. Emily fand er bei Hermione, sacht schloss er die Tür und blickte sich seufzend um, doch Sirius war nirgends zu entdecken. Er machte sich Sorgen um seinen Freund und überlegte wo er hingegangen sein konnte. Zu Meggie und Ian zurückkehrend, runzelte er die Stirn. Wo bist du Sirius? Er spürte jedoch auch eine gewisse Erleichterung, dass er Sirius im Augenblick nicht gegenübertreten musste. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was Sirius jetzt empfand. Seine Trauer war nichts im Vergleich zu Sirius' Schmerz.

„ Papa. Wo ist Mama?"

Remus schreckte auf, als er seine fünfjährige Tochter vor sich stehen sah, die ihn verschlafen anblinzelte. Sie auf den Arm nehmend, strich er über ihre wirren Locken.

„ Du solltest doch schon längst schlafen, Meggie.", sagte er und Meggie kuschelte sich an ihn.

Remus Gedanken kreisten wieder um den Kampf. Wenigstes hatten sie die Kinder retten können, dachte er und drückte seine Tochter an sich. Er hätte jedoch nicht hier sitzen sollen, ging ihm durch den Kopf.

Als Jamie und Lizzie heute entführt worden waren, da hatte sich für ihn die Frage nicht gestellt, ob er zum Schloss des Dunklen Lords mitkommen würde. Trotz seiner eingeschränkten Kampffähigkeit und obwohl er gewusst hatte, dass sollte es zum Kampf kommen, er wegen seines verkrüppelten Beines, kaum eine Chance haben würde zu überleben, hatte er sich geweigert in Hogwarts zu bleiben. Als die Todesser ihn festgehalten hatten, hatte er schon geglaubt, dass alles verloren sei. Die unerwartete Ankunft des Ordens hatte jedoch dazu geführt, dass er sich befreien konnte.

Wenig später fand er sich plötzlich Peter gegenüber. Überrascht hatten sie sich einen Augenblick angesehen. Von irgendwoher war ein Fluch auf sie zugeschossen und Peter hatte ihn für den Bruchteil einer Sekunde mit einem merkwürdigen, verzweifelten Ausdruck in den Augen angesehen und sich vor ihn geworfen und ihm damit das Leben gerettet. Remus konnte es immer noch nicht glauben. Vor dreizehn Jahren hatte er geschworen, dass er Peter umbringen würde und sich rächen würde für den Verrat und jetzt hatte ausgerechnet Peter ihm das Leben gerettet. Remus schüttelte den Kopf. Seit so vielen Jahren hatte er seinen ehemaligen Freund gehasst und jetzt wusste er selbst nicht mehr, welche Gefühle er in Bezug auf Peter empfand. Doch er konnte nicht vergessen, wie Peter ihn angesehen hatte. Remus sah auf seine schlafende Tochter hinunter und unendliche Dankbarkeit überkam ihn, auch wenn er wohl nie verstehen würde, warum Peter das getan hatte.


Aus dem Fenster auf den dunklen See starrend, stand Ginny bewegungslos in ihrem Zimmer. An Schlaf war nicht zu denken, sie war viel zu aufgewühlt. Als sie ratlos vor der Wand aus Schutzzaubern gestanden hatten, hatte Ginny schon gedacht, dass sie es nicht schaffen würden, dass Schloss zu verlassen.

Unerwarteterweise war ihnen jedoch eines der Mitglieder des Ordens entgegengekommen und obwohl sie immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als ihn mit einem Schockzauber zu belegen und sein Armband zu stehlen, wie es wohl auch Harry, Caro und Draco damals getan hatten. Den Wald, der das Hauptquartier des Dunklen Lords umgab, hatten sie ohne Schwierigkeiten gefunden. Dort hatten sie wieder gewartet, da sie keinen Weg gefunden hatten, wie sie in das Schloss gelangen konnten. Ihre Überraschung war groß gewesen, als plötzlich beinahe der gesamte Orden aufgetaucht war. So dass sie letztendlich den Erwachsenen in die steinerne Halle gefolgt waren.

Sie hatte Harry nur einen Augenblick gesehen, dann hatte sie Charlie am Arm gepackt und sie und Ron hinausgeschleift, sein Freund hatte Hermione und Neville hinter sich hergezerrt. Erst später hatten sie erfahren was geschehen war. Ob sie zu Hermione gehen sollte? Zu erfahren, dass Voldemort Charlotte ermordet hatte, musste Hermione sehr getroffen haben, dachte Ginny. Schließlich wusste sie, wie sehr Hermione an Charlotte gehangen hatte. Sich daran erinnernd, wie es gewesen war, als sie um Bill getrauert hatte, verließ sie ihr Zimmer und huschte leise durch den Flur. Als sie die Gemächer der Blacks erreichte, zögerte sie noch kurz, öffnete dann jedoch die Tür, die überraschenderweise nicht abgeschlossen war.

Das Zimmer lag im völligen Dunkel. Zaghaft öffnete sie die Tür zu Hermiones Zimmer und blieb abrupt stehen. Emily war bei Hermione, sie hielten sich im Arm und Ginny wich zurück. Nachdem sie kurze Zeit später wieder in ihrem Bett war, zog sie ihre Bettdecke fest um sich und berührte Harrys Armband. Wie es ihm wohl ging? Sie wusste nicht genau was passiert war, aber dass Harry Voldemort besiegt hatte, kam ihr seltsam vor. Obwohl sie kaum etwas von ihm wusste, noch von seiner Kindheit, noch von seinen Gefühlen, liebte sie ihn und vermisste ihn so sehr. Es war verrückt, doch sie konnte es nicht ändern. Würde er jetzt nach Hogwarts zurückkehren?


Caro stand auf der Terrasse und sah auf Harry und Dumbledore, die zum Strand hinuntergingen. Zu einem der Liegestühle gehend, setzte sie sich langsam und richtete ihren Blick auf das Meer. Immer noch konnte sie die Ereignisse, die sich vor wenigen Tagen in Arreton Castle zugetragen hatten nicht fassen.

Wenn sie daran dachte, dann hatte sie immer noch das Gefühl, dass sie ihren Vater verraten hatte, aber Caro wusste, dass sie genauso wieder handeln würde, stünde sie wieder vor dieser Entscheidung. Nachdem sie die Kleinen nach Hogwarts gebracht hatten und nach Arreton Castle zurückgekehrt waren, war schon alles entschieden gewesen. Erst von Dumbledore hatten sie erfahren was passiert war, als sie Harry in dem Gewusel von scharlachroten Umhängen endlich entdeckt hatten. Weder Dracos Eltern noch ihre Mutter hatten sie noch gesehen.

Caro schüttelte den Kopf. Sie schauderte bei dem Gedanken ihre Mutter und Dracos Eltern in Askaban zu wissen. Draco war verzweifelt. Wie auch immer sie sich den Ausgang ihrer Hilfsaktion vorgestellt hatten – hatte sie es überhaupt getan, fragte sie sich oder waren ihre Gedanken nur auf Jamie und Lizzie gerichtet gewesen, Caro wusste es nicht mehr – so hatten sie sich bestimmt nicht vorstellen können, dass es so enden würde.

Die Dunkle Seite vernichtend geschlagen, jedenfalls in Großbritannien und der Dunkle Lord in Askaban. Warum, fragte sie sich, hatte er sich aber auch nicht verteidigt. Als sie nach dem Kampf nach Terley zurückgekehrt waren, hatte Harry sie mit seltsam leblosem Blick angesehen und immer wieder diese Frage vor sich hingemurmelt. Caro verstand es auch nicht. Er hätte schließlich Harrys Fluch ohne Schwierigkeiten abwehren können. Bedeutete ihm Harry doch mehr, als sie immer geglaubt hatte? Caro lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück. Sie machte sich Sorgen.

Harry war in einem schlimmeren Zustand als er es nach den Ereignissen im Archiv des Phönixordens gewesen war und Draco, der um seine Eltern fürchtete, wollte sie mit ihrer Hilfe befreien. Harrys Verhalten, der bisher ziemlich teilnahmslos auf Dracos verzweifelte Bemühungen einen Plan zu ersinnen, reagiert hatte, hatte gestern zu einem heftigen Streit zwischen den beiden geführt oder konkreter gesagt, Draco hatte geschrieen und Harry hatte mit starrem Gesicht geschwiegen. Wie sollte das jetzt nur weitergehen, dachte Caro traurig und ratlos. Harry sprach so gut wie überhaupt nicht mehr.

Caro setzte sich auf und spähte in die Ferne. Sie konnte Dumbledore und Harry noch als kleine Punkte erkennen. Hoffentlich stellte es sich nicht als Fehler heraus, dass sie Harry gesagt hatte, dass Dumbledore draußen vor den Schutzbannen gestanden und darauf bestanden hatte, Harry zu sprechen. Als er sich nicht von seinem Vorhaben hatte abbringen lassen, war sie schließlich Harry holen gegangen. Was wollte Dumbledore nur von Harry?


„ Harry, du hast getan, was getan werden musste. Du hast den Krieg beendet. Du kannst wirklich stolz auf dich sein. Besonders…"

Dumbledore sprach weiter, doch Harry hörte nicht mehr zu. Er bedauerte es, dass er, nachdem ihm Caro davon in Kenntnis gesetzt hatte, den alten Zauberer, der außerhalb von Terley gestanden hatte, durch die Schutzbanne gelassen hatte.

‚Stolz?', fragte er sich. Worauf denn? Sollte er stolz darauf sein, dass Charlotte tot war, dass Severus nicht ansprechbar war, niemanden mehr erkannte und offensichtlich den Verstand verloren hatte, dass Jamie und Lizzie unter Alpträumen litten und die Geschehnisse niemals vergessen würden, dass Alison und Sirius verzweifelt und von Kummer überwältigt waren, dass er seinen Adoptivvater verraten hatte und ihn nach Askaban gebracht hatte, wo er auf die Hinrichtung wartete, dass Draco nicht mehr mit ihm sprach, dass auch Dracos Eltern, wie auch Bella, auf eine Verurteilung warteten?

„….deine Ausbildung. Wenn das neue Schuljahr anfängt…"

Harry dachte an Hogwarts und allein die Vorstellung den Unterricht besuchen zu müssen, als sei nichts geschehen rief heftige Abneigung in ihm hervor. Abgesehen davon, würde er es ertragen, seinen Paten zu sehen, Alison, Jamie und Lizzie, Emily und Remus? Er würde ständig daran denken, was passiert war. Schaudernd schüttelte er seinen Kopf.

Nein, er würde bestimmt nicht nach Hogwarts zurückkehren. Da er aber keine Lust hatte sich auf eine Auseinandersetzung mit Dumbledore einzulassen, versicherte er dem alten Zauberer, er würde am Schulanfang nach Hogwarts kommen. Als Dumbledore ihn endlich alleine gelassen hatte, ging Harry zum Strand hinunter, setzte sich in den warmen Sand und starrte auf das Meer, das sich unendlich weit vor ihm erstreckte und lauschte dem Geräusch der Wellen.

Er war seltsam, aber alles schien ihn irgendwie nicht richtig zu berühren, es war, als ob er alles durch einen Nebel fühlen würde. Ginnys Brief hatte er nicht beantwortet und auch als Draco ihn angeschrieen hatte, dass sie etwas unternehmen müssten, hatte ihm das nicht wirklich ausgemacht. Er wollte nicht mehr daran denken, er wollte es vergessen, er wollte alles vergessen.