Sie träumte. Bilder zogen an ihr vorbei, verharrten kurz um dann andere folgen zu lassen. Ein Himmel. Sie kannte ihn nicht. Er war blau und weit. Schier unendlich. Das Bild blieb.

Und mit ihm ein Falke. Er schaute sie an. Flehentlich, fast bittend.

Lass mich frei! Ich will nicht sterben!

Sie konnte ihn sprechen hören. Aber es wunderte sie nicht. Es war nur ein Traum.

Wer bist du? fragte sie.

Ich bin du. hörte sie den Vogel antworten, aber seine Antwort verwirrte Seraphin.

Du bist ich? fragte sie.

Ja. Und alle anderen. Alle anderen, die so sind wie du. Der Falke hob den Kopf und blickte in den Himmel, den Seraphin vorhin noch so bewundert hatte.

Lass mich frei! wiederholte er, nun drängender, aber Seraphin verstand immer noch nicht, was er meinte. Ich soll dich frei lassen? Ich verstehe nicht. Wieso soll ich dich frei lassen?


Der Vogel schaute sie scharf aus seinen schwarzen, klugen Augen an. Bist du denn frei?


Sie wachte schweißgebadet auf.

Seraphin, Seraphin, Schwesterchen! hörte sie ein Stimme und als sie langsam die Augen öffnete konnte sie eine undeutliche Gestalt über sich erkennen, die sie mehr oder wenig sanft schüttelte.

Wolltest du nicht vor Sonnenuntergang zu Hause sein?


Die Gestalt gewann an Konturen und jetzt konnte Seraphin das schadenfrohe Grinsen im Gesicht ihres Zwillingsbruders erkennen. Sie hatte verschlafen. Das war ihr noch nie passiert.

Jophiel, lass mich doch noch ein wenig schlafen! protestierte sie, aber ihr Bruder schien nichts von dieser Idee zu halten.


Oh nein. Nichts da! sagte er und unterstrich seine Haltung mit einer wegwerfenden Handgeste und einem noch schadenfroheren Grinsen, als er sah, wie seine Schwester das Gesicht verzog.

Hast du schon vergessen, dass ich dir gestern das Versprechen abnahm dich heute frühzeitig zu wecken?


Nein, aber ich muss da wohl nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sein.

Jophiel verzichtete auf eine Antwort und beschränkte sich darauf einfach vor ihr sitzen zu bleiben, wohl wissend, dass es Seraphin unmöglich war sich mit solch einem tadelnden Blick vor Augen wieder hinlegen. Seufzend setzte sie sich auf.


Ich stehe ja schon auf! stöhnte sie und versuchte Jophiel mit wedelnden Händen zu verscheuchen, was ihr zu ihrer eigenen Überraschung auch gelang. Ihr Bruder war nämlich eigentlich die Hartnäckigkeit in Person, was auch einer der Gründe war, warum ihr Vater ihn als seinen Nachfolger so schätzte.


Ich habe schon das Frühstück vorbereitet. sage er im Weggehen und bei dem Gedanken an das, was Jophiels wieder einmal 'gezaubert' hatte, drehte sich ihr der Magen um. Seine Kochkünste waren etwas, was auch ihr Vater an Jophiel nicht sonderlich schätzte. Er war der Einzige, der das tat und sie hielt das schon seit dreizehn Sonnenläufen aus. So lange waren sie nämlich schon zusammen unterwegs.


Sie fing an ihre Decke zusammen zu rollen und auch ihr restliches Gepäck in den Satteltaschen zu verstauen bis Jophiels ungeduldiger Ruf: Kommst du jetzt bald? zu ihr herüber hallte und sie wusste, dass sie das Frühstück, oder was man eben als solches bezeichnen wollte, nicht länger vermeiden konnte. Sie ließ alles liegen und trottete über den felsigen Boden zu der Stelle, von der sich mittlerweile ein höchst eigenartiger Geruch ausgebreitet hatte. Jophiel saß in der Hocke an einem kleinen Lagerfeuer und rührte ganz vertieft mit einem Holzlöffel in einem Topf, der über dem Feuer aufgehängt war.


Was gibt es denn heute... Seraphin musste dreimal schlucken bevor sie das Wort aussprechen konnte,

Jophiel schaute auf und schmatzte genüßlich. sagte er und hielt ihr einen Löffel der gelbe Weizenmasse unter die Nase. Möchtest du mal probieren?

Seraphin trat angewidert einen Schritt zurück und schüttelte entschieden den Kopf. Gib mir einfach einen Löffel. sagte sie tonlos, hob eine der Schüsseln, die Jophiel schon neben sich bereit gelegt hatte, auf , und hielt sie ihrem Bruder hin. Mit einem fiesen 'Klatsch' ergoss sich der Brei in die Schüssel. Sie roch kurz an ihrem Frühstück, rümpfte die Nase und ließ sich auf dem Gras nieder. Jophiel hatte seine Portion schon beinahe aufgegessen.


Schmeckt gut, nicht? meinte er mit vollem Mund, ungeachtet der Tatsache, dass Seraphin noch keinen Bissen zu sich genommen hatte. Sie rührte noch eine Weile unentschlossen und mit sich selbst kämpfend in ihrem Essen herum bis sie sich überwand und einen Löffel probierte. Zu ihrer eigenen Überraschung schmeckte es gar nicht so schlecht, wie sie gedacht hatte. Viel mehr schmeckte es nach nichts, was im Vergleich zu dem, was sie bisher von Jophiels Gerichten gekostet hatte, mehr als gut war.


Sie aß langsam ihre Portion, während sie aus den Augenwinkeln verstohlen ihren Bruder betrachtete, wie er begeistert eine Schüssel nach der anderen verspeiste. So wie sie ihn jetzt hier sah, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er schon übermorgen den Platz ihres Vaters eingenommen haben würde und nur noch Hüter ihres Volkes genannt werden würde. Sie sah das über seine eigenen Kochkünste entzückte Leuchten in seinen blauen Augen, die so sehr den Ihren glichen, seine dunkelbraunen Locken , seine irgendwie immer zerfleddert wirkenden Flügel und seine Hände, die beinahe krampfhaft die Essschüssel umfassten, weil sie doch mit allem so ungeschickt waren. Mit Ausnahme des Schwertes.


Und plötzlich traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag: Es war das letzte Mal, dass sie so zusammen saßen. Und es war auch das letzte Mal, dass sie zusammen auf Reise gewesen waren. Sie hatte es die ganze Zeit über, seit sie sich von ihrem Vater und allen anderen verabschiedet hatten, gewusst, aber irgendwie hatte sie es da noch nicht begriffen. Nun aber erfasste sie die ganze Tragweite der Situation und mit einem Mal fühlte sie sich elend. Eine unendliche Traurigkeit überkam sie und das Essen, obwohl sie es vorhin noch für essbar befunden hatte, schmeckte plötzlich nicht mehr.


Sie stand auf, als sie spürte, wie Tränen ihr die Augen füllten. Sie wollte nicht, dass Jophiel es sah.

Du bist schon fertig? fragte dieser ungläubig und Seraphin nickte kaum merklich mit dem Kopf. Ich habe keinen großen Hunger. murmelte sie, schaute Jophiel dabei aber nicht an, und lief mit schnellen Schritten zurück zu ihrem Lager. Sie begann ihre restlichen Sachen zusammen zu packen, immer hastiger und wütender.


Ja, sie fühlte sich nun nicht mehr traurig. Statt dessen hatte sie ungeheure Wut überkommen. Es war ungerecht! Warum ausgerechnet Jophiel? Warum ausgerechnet Jophiel, mit dem sie schon seit sie klein war, immer wieder auf eine ihrer 'Reisen' ging, um die zuweilen beklemmende Enge ihres Heimes zu verlassen? Der ihr in ungezählten Stunden den Schwertkampf und das Reiten beigebracht hatte? Der immer für jeden Spaß zu haben gewesen war? Warum hatte Vater nicht ein anderes ihrer Geschwister erwählen können? Warum nicht Zadkiel oder Hamaliel? Oder seinen jüngeren Bruder, ihren Onkel, Ophaniel? Warum nicht er?


Aber während sie sich diese Fragen stellte wusste sie auch schon die Antwort: Weil Jophiel einfach am besten geeignet war. Sie hielt inne und ließ den Kopf hängen. Ja, so war es und sie konnte nichts daran ändern. Und so war es auch das Beste. Das Beste nicht für sie, aber für ihr Volk. Sie musste das akzeptieren. Es ging um ihr Volk. Ihre Leute, von denen es doch schon so wenige gab und die auch immer weniger wurden. Außerdem ging er ja nicht fort. Er würde nur sehr, sehr beschäftigt sein und einfach keine Zeit mehr haben, die sie zusammen verbringen konnten


Sie seufzte und richtet sich auf. Mir den Fingern versuchte sie vergebens etwas Ordnung in die hellbraunen, fast blonden Wellen ihres Haares zu bringen, gab das aber bald wieder auf. Sie hatte das bis jetzt noch nie geschafft. Aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig.


Wichtig war jetzt vor allem, dass sie es Jophiel nicht noch schwerer machte, als es für ihn schon ohnehin war. Er fühlte sich wahrscheinlich auch nicht besser als sie, auch wenn er sich bemühte es nach Außen hin nicht zu zeigen. Sie straffte sich, wischte sich einmal kurz über die Augen und warf sich die Satteltaschen über die Schulter.


Jophiel blickte auf, als er sie kommen sah. Sein Blick war sorgenvoll und verwischte den kindlichen Ausdruck, den er vorhin beim Essen noch gehabt hatte. Plötzlich erschien es Serpahin nicht mehr so unmöglich, ihn irgendwann Hüter zu nennen.


Du bist fertig? fragte er und Seraphin ließ ihr Gepäck vor seine Füße fallen.

antwortete sie und sie schaffte es sogar ein wenig zu lächeln. Vollkommen fertig. Lass uns gehen. Wir wollen Vater doch nicht unnötig warten lassen.


Jophiel lächelte etwas zurückhaltend zurück, hob ihre Tasche auf, und pfiff einmal. Die Luft hallte von dem Pfiff wider und sie brauchten nicht lange zu warten bis zuerst ein, dann ein weiteres Wiehern antwortete. Ein graues und ein weißes Pferd tauchten aus der Senke am Hügelkamm auf und galoppierten zu ihnen hinauf. Es waren ihre Pferde. Klein, feingliedrig, aber unempfindlich gegen Hitze und Kälte und wie geschaffen für die langen Ritte, die Seraphin und Jophiel zusammen unternahmen. Und heute war es ihr Letzter...


Seraphin seufzte. Vielleicht war es das Beste, wenn sie einfach nicht mehr daran dachte. Wenn sie zu Hause wären würde sie noch genügend Zeit haben, darüber nach zu grübeln, wie sie sich ihr weiteres Leben ohne ihren Zwillingsbruder vorstellte. Obwohl es ihr fast vorkam, als würde man ihr die Hälfte ihres Ichs rauben. Aber wahrscheinlich reagierte sie auch über. Das tat sie oft.


He, Schwesterchen! Jophiel saß schon auf seinem Pferd und schaute grinsend zu ihr herunter. Sein Grinsen wirkte aber irgendwie nicht echt. Ich erinnere dich noch einmal daran, dass du heute früh nach Hause kommen wolltest. Er betonte das Wort du und Seraphin verfluchte still, dass sie dies gestern gesagt hatte. Mittlerweile hatte sie eine ganz andere Meinung. Jede Stunde, in der sie und ihr Bruder noch bleiben konnten, was sie bis jetzt gewesen waren, erschien ihr plötzlich unglaublich kostbar. Aber gut, wenn es so sein sollte.


Sie sattelte in Rekordzeit ihr Pferd und saß schon wenige Minuten später neben Jophiel auf ihrem Pferd.


Jophiel schaute zu der hinter den Wolken schwach leuchtenden Sonne. Die Nebelschwaden, die vorher noch den Boden bedeckt hatten verzogen sich langsam.


Es wird heute ein guter Tag werden. sagte er, aber es klang eher wie eine Frage. Seraphin ließ ihren Blick ebenfalls über die karge, nur mit einigen Sträuchern und dürrem Gras bewachsene, Landschaft vor ihnen schweifen. Ein Land, das Hoffnung erstickte. Ihr aber nicht.


Mögen die Folgenden eben so werden. sagte sie.