Kapitel 2


Sie jagten ihre Pferde unbarmherzig, ohne Rast, und achteten nicht darauf in welche Richtung sie ritten.


Aber das sie mussten sie auch gar nicht tun. Sie wussten, egal wohin sie ritten, heute würden sie zu Hause ankommen. Dreizehn Sonnenläufe waren sie fort gewesen. Länger hatte ihre Reise nie gedauert. Es war die maximale Zeit, die man reiten konnte ohne wieder an dem Ort zu landen, von wo man aufgebrochen war. Nach dreizehn Sonnenläufen kam man unweigerlich wieder an seinem Ausgangspunkt an, egal in welche Richtung man ging oder wo man seine Reise begonnen hatte. Es war eine verrückte Eigenrat dieses Landes, oder sollte man besser sagen, ein Fluch?


Seraphin war sich sicher, dass diese Eigenart ein Zauber der Elben war, um ihre alten Feinde, ihr Volk, an seinem Verbannungsort zu halten und ihm klar zu machen, dass sie nicht mehr dahin gehen konnten, wohin sie wollten. Ein äußerst raffinierter und wirkungsvoller Zauber, das musste Seraphin zugeben. Allerdings auch einer, der einen halb wahnsinnig machen konnte.


Oder hoffnungslos.

Seraphin verglich die Hoffnungslosigkeit oft mit einem giftigen, unsichtbaren Nebel, den jeder hier unweigerlich einatmete ohne es zu merken. Alle, die hier lebten, litten an ihr. Es war wie eine Krankheit. Aber man gewöhnte sich daran. Man gewöhnte sich an vieles. Seraphin kannte es auch gar nicht anders; sie war hier geboren.


Dass irgendwann einmal alles anders gewesen war und dass die Engel wo anders gelebt hatten, das wusste sie nur aus den alten Erzählungen. Es war nicht mehr als eine Erinnerung an die vergangene Zeit, denn auch die anderen ihres Volkes lebten hier seit ihrer Geburt. Die, die noch in der alten Welt gelebt hatten, bevor sie hierher kamen, waren schon seit langer Zeit tot. Seit sehr langer Zeit. Man erinnerte sich nicht mehr an sie. Nur das, was ihnen damals widerfuhr, lebte weiter in den alten Geschichten. In den alten Geschichten von einer besseren Zeit und einer besseren Welt, in die sie nie mehr zurückkehren würden können. Vielleicht kam daher diese alles umgebende Hoffnungslosigkeit.


Aber Hoffnungslosigkeit hin oder her, wenigstens lebten sie, auch wenn dieses Land das einem nicht gerade einfach machte.


Es war eben kein Land zum Leben, sondern nur zum Überleben.


Das musste reichen und das tat es auch. Es erfüllte Seraphin mit stiller Genugtuung, dass sie den Elben bis jetzt noch nicht den Gefallen getan hatten und ausgestorben waren. Ausgestorben. Das klang fast wie bei einer bedrohten Tierart. Aber genau so hatten die Elben sie auch behandelt, fand sie. Wie Tiere. Ausgesetzt, als sie Probleme machten und man sie nicht mehr brauchte.


Sie schüttelte den Gedanken an ihre alten Feinde ab. Was nützte es über jemanden nachzugrübeln, den man sowieso nie zu Gesicht bekommen würde? Die ganzen Gedanken über Elben, Verbannung, oder treffender, Vertreibung und Hoffnungslosigkeit trugen nicht gerade dazu bei ihre Stimmung zu heben. Außerdem war es ja auch nicht ganz so schlimm. Sie waren nicht unbedingt immer unglücklich. Übermorgen zum Beispiel würde es ein rauschendes Fest geben, wenn Jophiel zum Hüter ernannt werden würde und alle würden ausgelassen und fröhlich sein. Alle bis auf sie.


Und sie würden bald da sein. Die Berge, die sie schon seit einer geraumen Weile in der Ferne erblickt hatten, waren schon ein ganzes Stück näher gerückt. Dort war ihr Heim. Aber davor war noch der 'Wald der Klagebäume'. Seraphin erschauerte als sie daran dachte. Eigentlich hieß der Wald ja gar nicht so und im Grunde war es nicht einmal ein Wald. Es war nichts weiter als eine Ansammlung toter, verdorrter Bäume, tot wie alles andere hier, aber ihr Vater hatte ihr, als sie noch klein gewesen war, jedes Mal, wenn sie nicht gehorchte, angedroht, die Bäume würden kommen und sie holen. Und sie hatte jedes Mal panische Angst bekommen, obwohl sie natürlich wusste, dass laufende und vor allem Kinder verspeisende Bäume Unsinn waren.


Ihr Vater hatte ihr oft mit den Bäumen gedroht.


Und auch jetzt, wo sie älter war, konnte sie nicht anders ale leise Beklemmung zu spüren, wenn sie unter ihnen hindurch ritten. Das war heute nicht anders. Argwöhnisch blickte sie zu den schwarzen und kahlen Wipfeln der Bäume hoch. Es war wegen dieser Äste, dass sie sie Klagebäume nannte. Als hätte sie jemand, während sie den Himmel um Hilfe baten, flehten und klagten, erstarren lassen und wie um sich über sie lustig zu machen dann einfach da stehen lassen.


Manchmal fühlte sie sich genau wie die Bäume.


Sie war froh, als sie die Bäume hinter sich gelassen hatten und die Berge erreichten, auch wenn es jetzt nicht unbedingt leichter werden würde. Es gab keine Wege oder einen Pfad, der ihnen den Weg wies. Aber sie würden ihren Weg auch so finden. Es war ja nicht einmal besonders steil, aber überall lagen Steine und Geröll herum, trügerisch fest im Boden verankert. Ein falscher Schritt und man stürzte rettungslos, ohne jemals wieder auf dem steinigen Boden Halt finden zu können.


Seraphin hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie hinter sich das Rutschen von Hufen und das Poltern von rollenden Steinen zu hören. Als sie sich umdrehte, schrie sie entsetzt auf.



Jophiels Pferd war ausgerutscht und beim Versuch auf dem steinigen Boden wieder Halt zu finden hatte es mehrere Steine los getreten, die den Untergrund unter seinen Hufen in eine einzige rollende Steinlawine verwandelten und so jedwede Bemühungen seine Beine unter sich zu behalten einen lächerliche Versuch gleichmachten. Das Pferd kämpfte mit dem Boden um sein Gleichgewicht, aber es sah ganz und gar nicht so aus als könnte es diesen Kampf gewinnen.


schrie Seraphin gegen den polternden Lärm der Steine ihrem mit seinem Reittier langsam den Abhang hinabrutschenden Bruder zu, Jophiel, bei allen Göttern, spring ab, spring ab! Sie wusste, eher früher als später würde Jophiels Pferd zu Fall kommen und dabei seinen Reiter unter sich begraben, was tödlich enden könnte. Ein Absprung war zwar auch nicht ungefährlich, aber auf jeden Fall ungefährlicher als zu versuchen auf dem Rücken des Pferdes zu bleiben um gleich darauf unter ihm zu landen.


Jophiel schien Seraphin aber nicht gehört zu haben, denn er versuchte weiterhin im Sattel zu bleiben. Aber gerade als er merkte, dass sein Pferd gleich zu Boden stürzen würde, tat er das, was er schon einige Sekunden vorher hätte tun sollen. Er sprang ab, landete hart auf den Boden, rollte, sich mehrere Male überschlagend, noch ein Stück weiter und blieb dann reglos liegen.


Als wäre das ein Zeichen gewesen, kam die Steinflut langsam zum Stehen. Jophiels Pferd beendete ebenfalls, mit einem leicht verdutzen Gesichtsausdruck, seine Rutschpartie; ohne ein einziges Mal von seinen vier Beinen gerissen worden zu sein.


Seraphin wartete nicht bis auch das letzte Geröll nicht mehr rollte, sondern war so schnell, als könnte sie mit ihren Flügel fliegen, bei ihrem Bruder und kniete sich neben ihm nieder.


flüstere sie und berührte ihn bei der Schulter. Er reagierte nicht und langsam begann sich Angst in Seraphin auszubreiten. Äußerlich konnte sie zwar keine Verletzungen entdecken, aber Seraphin war keine Heilerin und es war gut möglich, dass sie sie einfach nicht sah und Jophiel schwer verwundet war.


Jophiel, sag doch bitte etwas! Irgend etwas! flehte sie.


Jophiels Gesicht verzog sich urplötzlich zu einem Grinsen.

Hast du etwas Angst um mich, Schwesterchen?

Er öffnete sein Augen und sein Grinsen gewann an Ausmaßen.

Keine Panik, Schwesterchen, so leicht bringt mich nichts um! Herr je, jetzt mach doch nicht so ein entsetztes Gesicht, Schwes...


Klatsch!


Seraphin zitterte am ganze Körper. Aus Wut, Empörung, vor allem aber aus Schock. Jophiel grinste nicht mehr.

Tu das nie wieder! fauchte sie wütend, Und vor allem: HÖR AUF MICH SCHWESTERCHEN ZU NENNEN! Ich bin deine Schwester und nicht dein Schwesterchen, obwohl ich im Moment selbst das bereue.

Jophiel hielt sich seine Wange und war ganz offensichtlich beleidigt. Ist ja gut, beruhige dich! maulte er und beeilte sich aufzustehen um aus ihrer Reichweite zu kommen; wobei er sie aber argwöhnisch im Auge behielt.

Warum regst du dich eigentlich so auf? Es ist doch gar nichts passiert.

Nichts passiert? Seraphins Stimme sprang einen Ton höher. Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt, das nennst du nichts passiert? Wenn dir etwas passiert wäre... Vater hätte mich umgebracht!

Jetzt übertreibe mal nicht.

Das tue ich nicht.


Sie schwiegen beide und starrten sich an.


In diesem Moment spürte Seraphin, dass sie schon nicht mehr wütend auf ihn war. Was aber kein Grund war, ihm das auch zu zeigen.

Gehen wir! sagte sie schroff und wandte sich mit einem Ruck ab um zu ihrem Pferd zu gehen.


Jophiel rührte sich nicht von der Stelle.


Seraphin drehte sich verärgert um. Was ist? Tut dir jetzt doch etwas weh?

Jophiel blickte zu Boden. Nein. Es ist nur... Er schaute auf und die Leere in seinem Blick erfüllte Seraphin mit einer plötzlichen Welle von Mitgefühl und Liebe.


Ich habe Angst, Seraphin.

Das war das absolut Allerletzte womit Seraphin gerechnet hatte. Du hast Angst? Angst? Du?

Das brachte Seraphins Weltbild doch ein wenig ins Wanken. Sie hatte noch nie erlebt, dass Jophiel vor etwas Angst gehabt hatte, geschweige denn, dass man es sogar in seinem Gesicht regelrecht lesen konnte. Sie hatte immer geglaubt, dass das Wort Angst gar nicht zu seinem Wortschatz gehörte.

Wovor hast du denn Angst? fragte sie ungläubig.

Davor, dass ich nicht das bin, was man von mir erwartet.


Seraphin schwieg betroffen. Sie verstand, was er meinte und doch überraschte es sie. Eigentlich war es ganz natürlich, dass Jophiel angesichts der bedeutenden Aufgabe, die er bald zu erfüllen hätte, Zweifel an seinen Fähigkeiten überkamen, aber Seraphin wäre nie auf die Idee gekommen, dass er solche hatte. Er hatte bis jetzt kein Wort darüber verloren, dass er an sich selbst zweifelte; nicht einmal Andeutungen hatte er gemacht.


Sie lächelte und schüttelte leicht den Kopf. Nein, Jophiel, du bist tatsächlich nicht, was man von dir erwartet. sagte sie und beobachtete leicht amüsiert, wie Entsetzen sich auf Jophiels Gesicht ausbreitete. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und blickte ihm fest in die Augen.

Du bist viel mehr als das. Viel mehr. Jophiel entspannte sich sichtlich.

sagte er nur, mehr brachte er nicht heraus und es genügte auch vollkommen.

Seraphin nickte. Komm jetzt. Wir haben noch ein Stück vor uns.


Sie wollte wieder zu ihrem wartenden Pferd gehen, aber Jophiels Ruf hielt sie auf.


Seraphin drehte sich, leicht genervt wieder zu Jophiel um, der sich immer noch kein Zentimeter von Fleck bewegt hatte. Er hatte wieder diesen besorgten und ernsten Blick, der ihn so schrecklich erwachsen aussehen ließ.


Se aduerte eine Weile bis er sprach.

Auch du bist mehr. sagte er endlich , Mehr als das, was du denkst du seiest und auch mehr als das was Vater und die Anderen denken. Vergiss das nie, hörst du? Versprich mir das!

Seraphin hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber im Moment hätte sie ihm wohl alles versprochen.

Ich verspreche es. sagte sie fest und Jophiels ernste Miene wich einem undefinierbaren Lächeln.


Er ging zu ihr und streckte die Hand aus. Dann können wir ja gehen, Schwesterchen!

Seraphin stöhnte leise, überhörte aber schließlich doch großzügig, dass er sie wieder Schwesterchen genannt hatte und ergriff sein Hand. Ja, mein Brüderchen. erwiderte sie gespielt höflich und musste lachen als Jophiel das Gesicht verzog.


Ich glaube, ich sollte wirklich damit aufhören. meinte er.