Kapitel 6

Wo beginnt das Leben, wo hört es auf?

Seraphin war irgendwo dazwischen. Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr Selbst in tausend kleine Teile zerissen, die um sie herumschwebte, ohne dass sie hoffen konnte sie zu erreichen. Sie hatte keinen Körper mehr, der fühlen konnte und auch der Rest von ihr war nicht mehr ganz da. Ihre Existenz schien sich aufzulösen. Die Zeit verann, Seraphin spürte es nicht. Zeit hatte keine Bedeutung mehr, ihr Fluss schien angehalten worden zu sein.

Doch irgendwann, sie wusste nicht wann, fühlte sie sie wieder. Sie fühlte sich. Es war kalt, der Wind strich ihr über das Gesicht und sie lag auf dem Bauch. Der Boden unter ihr war warm und weich. Etwas knirschte ihr zwischen den Zähnen.

Ruckartig riss sie die Augen auf. Weißer Sand. Nicht rot. Sie blinzelte, aber das Bild änderte sich nicht. War das ein Traum? Sie krallte ihre Hand in den Sand und spürte die einzelnen Sandkörner und Muschelschalen, die ihr in die Haut stachen. Kein Traum. Sie war angekommen, wo auch immer. Langsam und mit etwas wackligen Beinen stand sie auf.

Sie war an einem Strand. Das Meer hinter ihr war dunkelblau und der Himmel grau. In der Ferne sah sie etwas Grünes. Es war still, die einzigen Geräusche waren die des Meeres und das einiger weißer Vögel, die über ihren Kopf kreisten und dabei immer wieder ein nervtötendes Kreischen von sich gaben. Es schienen nicht gerade die intelligentesten Vögel zu sein.

Vogel, das Wort spukte ihr einen Weile im Lopf herum und sucht dort nach einer Verbindung. Dann fiel es ihr ein: Dermott! Er war nicht da. Sie suchte den Himmel ab, konnte aber zwischen den hellen Flecken der Vögel über ihr keinen dunklen entdecken. Sie seufzte. Warum musste dieser Vogel nur die Angewohnheit haben immer zu verschwinden? Hoffentlich war wenigstens ihr Pferd da.

Ein paar Meter von ihr entfernt sah sie eine graue Form liegen. Sie eilte zu der Stelle und kniete sich nieder.

"Steh auf!" flüsterte sie und sie hoffte, dass das Tier sie hören konnte. "Wir sind da." Die Ohren des Pferdes zuckten und schließlich rollte es sich mit einem Ächzen von der Seite auf den Bauch. Es schnaubte kurz, dann erhob es sich mit einem Ruck auf seine vier Beine. Der Sand rieselte in großen Wolken von ihm herunter, als es sich schüttelte. Seraphin strich ihm über den Hals.

"Braves Mädchen."

Ihr Pferd schien nicht verletzt zu sein, nur sein fragender Blick zeigte, dass es nicht so ganz begriffen hatte, was passiert war. Seraphin wünschte, sie hätte es ihm erklären können. Sie konnte ihm ja nicht einmal sagen, ob sie es tatsächlich geschafft hatten und Mittelerde erreicht hatten. Eins war aber auf jeden Fall sicher: Hier sah es anders aus. Einen andere Erklärung, als dass sie in den alten Landen angekommen war, fand sie nicht. Sie war in Mittelerde.

Der innere Begeisterungssturm blieb aus. Die ganze Zeit, schon ihr ganzes Leben lang, hatte sie sich vorgestellt, was für ein großartiges Gefühl es sein würde, in Mittelerde zu sein, zu sehen, was schon seit Tausenden von Jahren keiner ihres Volkes gesehen hatte, aber jetzt fühlte sie nichts. Gar nichts.

Vielleicht waren die Umstände schuld unter denen sie hierher gekommen war. Sie spürte einen leisen Stich, der sie an ihre Aufgabe erinnerte. Sie durfte keine Zeit verlieren. Nur, wohin sollte sie gehen? Dermott war nicht da um ihr den Weg zu zeigen. Sie rieb sich mit den Fingerspitzen die Nase und zuckte dann mit den Schultern. Dann eben so.

Sie schloss die Augen und begann sich mit ausgestrecktem Finger um sich selber zu drehen bis ihr schwindelig wurde. "Dahin." Sie schlug die Augen auf. Nach rechts.

Mit einem seltsamen Gefühl der Erleichterung schwang sie sich in den Sattel und hieß ihr Pferd mit einem leisen Zungenschnalzen in den Trab zu fallen. "Einfach der Nase nach." murmelte sie. "Einfach immer der Nase nach."

Sie war noch nicht lange geritten, als der Himmel über ihr grollte und sie eine Regentropfen auf der Nase spürte. Sie hob den Kopf und blickte zu den grauen, schweren Wolken hinauf. Es begann zu regnen. Zuerst in feinen Tropfen, bald aber in schweren Schleiern fiel der Regen auf den weichen Boden, wo er kleine runde Kuhlen hinterließ.

Seraphin schloss die Augen und ließ den Regen auf ihr Gesicht prasseln. Sie hatte das Gefühl als wolle der Himmel sie begrüßen, als wolle er das übernehmen, was der Rest von Mittelerde versäumt hatte. Es war sonst ja niemand da, der dies hätte tun können. Sie fror plötzlich und zog sich ihren Mantel aus der Satteltasche. Aber als sie ihn angezogen hatte, wärmte er sie nicht wirklich.

Früher hatte sie Mittelerde immer für einen äußerste belebten Ort gehalten, an dem man keine hundert Meter gehen konnte, ohne auf einen Elben, Zwergen oder Menschen zu treffen, aber jetzt sah sie, dass dem wohl nicht so war.

Die Gestalt, die sich ein paar Schritte von ihr an den Boden presste, sah sie nicht. Ein hämisches Lächeln huschte über Astois Gesicht. Der Meister hatte also recht gehabt, wie immer. Sie würden zurückkehren und es wieder zurückverlangen. Aber sie würden es nicht bekommen, dafür würde er schon sorgen. Er beobachtete, wie die junge Frau sich nun doch einen Mantel anzog, um sich vor dem Regen zu schützen. Er verdeckte ihre Flügel völlig und so war sie fast nicht von einem Elben zu unterscheiden. Und doch wusste Atsoi, dass der Unterschied zwischen den Völkern groß war. Er wusste das besser als jeder andere.

Jetzt schien sie den Rauch bemerkt zu haben. Selbst aus dieser Entfernung konnte er ihren verwunderte Gesichtsausdruck sehen. Sie wusste nicht, was er zu bedeuten hatte. Astoi wusste es. Es würde ihr nicht gefallen.