Kapitel 7

Seraphin hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Sie hatte gehofft, Leben zu finden; Menschen Elben, irgend jemanden. Hier aber lebte niemand mehr. Das Dorf war vollkommen zerstört. Das Einizige, was von ihm geblieben war, waren rauchende, schwarze Ruinen, aus denen noch vereinzelt Flammen schlugen. Der Regen hatte das Feuer gelöscht.

Verbrannte Erde.

Es musste schnell gegangen sein. Hier und da lagen einige zerbrochene Pfeile, Schwerter und anderer Waffen, aber nicht viele. Die Bewohner des Dorfes hatten keine Zeit mehr gehabt um sich zu verteidigen. Seraphin schluckte, als sie an einem toten, halb verkohlten Hund vorbeiritt. Diejenigen, die hier gelebt hatten, hatte wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt.

Sie stoppte, als sie im Schatten einiger Ruinen eine Schatten sah. Als sie näher ritt, wurde sie den Konturen einer reglosen Gestalt gewahr, die zusammengekrümmt auf dem Boden lag und etwas fest in den Armen hielt. Es war ein Mensch. Ein Vater mit seine Kind. Beide waren tot.

Fassungslos starrte Seraphin auf diese Bild und sie spürte, wie etwas in ihr aufstieg, das sie noch nie zuvor verspürt hatte. Zorn, aber nicht der Zorn, den sie schon kannte. Er war mehr. Es war ein Zorn, der in ihr ein Gefühl der Traurigkeit hinterließ und den Wunsch, irgend jemanden dafür zu bestrafen. Aber am schlimmsten war das Gefühl, versagt zu haben.

Es musste dasselbe Gefühl sein, das ihre Vorfahren verspürt haben musste, als ihnen klar wurde, dass ihre Mission gescheitert war und dass Menschen und Engel dafür gestorben waren. Menschen, die sie eigentlich hätten beschützen sollen. Ja, der Verlust auch nur eines einzigen Menschenleben wog schwerer als die ganze Strafe, die Seraphins Volk erhalten hatte.

Seraphin wandte sich abrupt von der Szenen ab und strich sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare. Sie musste weiter. Gerade, als sie ihr Pferd wendete vernahm sie plötzlich Hufgetrappel und das Klirren von Waffen und Rüstungen. „Sie kommen zurück!" dachte sie entsetzt und blickte sich gehetzt nach einem Versteck um. Zum Flüchten war es zu spät.

Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihr Pferd zu sich in ein noch halbwegs stehendes Haus ziehen, bevor eine Gruppe von Reitern an ihr vorbei durch das zerstörte Dorf preschte. Seraphin zählte ungefähr zwanzig Mann.

Aus ihrem Versteck konnte sie beobachten, wie sie ihre Pferde anhielte und wie einer der Männer, es musste der Anführer sein, den anderen Befehle zurief, woraufhin diese ausschwärmten.

Seraphin drückte sich etwas enger an die Hauswand und fragte sich gerade, was sie noch hier suchten, als ihr plötzlich jemand die Hand auf den Mund legte und sie den kalten Stahl eines Messers an ihrer Kehle spürte.

„Hab' ich dich!"hörte sie eine Stimme an ihrem Ohr zischen. „Wie lange haben wir gewartet einen von euch zu erwischen. Du wirst deine gerechte Strafe bekommen, na warte."

Seraphin wollte etwas sagen, den Irrtum richtig stellen, aber sie bekam kaum Luft. Verzweifelt wehrte sie sich mit der ihr verbleibenden Kraft gegen den eisernen Griff des Mannes, aber dieser hielt sie unbarmherzig fest und zerrte sie ins Freie.

„Heermeister Boromir!"rief er. „Hier habe ich einen von denen. Was soll ich mit ihm machen?"

Seraphin keuchte. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Mann bald wohl nichts mehr mit ihr machen könnte, denn gleich würde sie ersticken. Wie durch einen Nebel konnte sie Schritte hören und sah verschwommen eine Gestalt vor sich erscheinen.

„Lass sie los, Tanit."

Der Mann, der offenbar Tanit hieß, stutze und Seraphin konnte regelrecht spüren, wie ihn diese Order verwirrte.

„Heermeister?"

„Lass sie los!"wiederholte die Stimme, nun etwas fordernder. „Sie ist eine Elbin. Ich glaube nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun hat."

Tanit löste seine Umklammerung nun endlich, allerdings so abrupt, dass Seraphin das Gleichgewicht verlor und rückwärts in den Matsch fiel. Tanit stand nun über ihr und blickte entsetzt auf sie herunter.

„Eine Elbin... Frau..."stammelte er. „Hatte ja keine Ahnung..."

Eine Hand streckte sich Seraphin entgegen, aber es war nicht die Tanits. Als sie danach griff, blickte sie in ein paar seltsame, graue Augen.

„Seit ihr verletzt?"

Seraphin schüttelte stumm den Kopf und konnte nicht anders, als den Mann vor sich unverhohlen anzustarren. Er war sehr jung, wahrscheinlich so am Anfang seiner zwanzigten Lebensjahre, groß und schlank, seine Haare hell. Das Auffallendste an ihm waren aber seine Augen. Sie schienen zu funkeln.

„Wer...wer seit ihr?"

Der Mann deutete eine Verbeugung an. „Mein Name ist Boromir, Sohn von Faramir und Heermeister von Gondor."er beugte sich ein Stück weiter zu Seraphin vor, so dass sie genau sehen konnte, wie es in seine Augen aufblitzte. Sie schienen zu lachen.

„Und wer seit Ihr, Mylday?"

„Ich bin Seraphin, Tochter von Gabriel und..."Seraphin stockte und ärgerte sich. Beinahe hätte sie diesem Mann, den sie überhaupt nicht kannte, alles erzählt. Sie durfte nicht zu viel preis geben. Wer wusste schon, wie diese Menschen reagieren würden, wenn sie ihnen sagte, dass sie ein Engel war? Wussten die Menschen überhaupt noch, wer oder was Engel waren?

„... und ich bin auf Reisen,"beendete sie ihren Satz.

Bormir hob eine Braue. „So, eine Reisende seit Ihr? Und was tut ihr gerade hier?"Er deute mit einer Geste auf die Überreste des Dorfes.

„Ich.. ich habe den Rauch gesehen."antwortete Seraphin. „Sagt mir, was ist hier geschehen? Wer hat das getan?"

Boromisr Miene verdunkelte sich sofort und er senkte den Blick. „Wir... wissen es nicht."er ballte unwillkürlich die Fäuste. „Das einzige, was wir jedes Mal vorfinden ist das hier. Niemals gibt es Überlebende, alle werde ausnahmslos getötet. Frauen, Kinder, Greise.. unser Feind scheint keinen Unterschied zu machen."

Seraphin schaute ihn halb entsetzt, halb ungläubig an. „Es ist nicht das erste Mal, das so etwas geschieht?"

Boromir schüttelte langsam den Kopf. „Nein."Sein Blick wanderte wieder zu den Ruinen. „Auch hier sind wir wieder zu spät gekommen."sagte er leise und Seraphin konnte deutlich den Schmerz in seiner Stimme hören. Sie begriff. Er hatte dasselbe Gefühl wie sie: Versagt zu haben.

Er wandte sich wieder Seraphin zu und schüttelte einmal heftig den Kopf, so als wolle er all diese Gedanken abschüttel um seine Aufmerksamekeit ganz der Frau vor ihm widmen zu können. „Aber nun sagt mir, wo kommt ihr her? Eine Elbin Eurer Art sah ich noch nie."

Seraphin spürte, wie es tief in ihr zu brodeln begann. Wieso hielt er sie für eine Elbin? Wieso gerade für eine Angehörige jenes Volkes, das dem Ihrigen so verhasst war?

„Ich bin nicht..."begann sie, aber dann schaltete sich ihre Vernunft ein. Nein, sie durfte ihm nicht die Wahrheit sagen. Das Beste wäre es wahrscheinlich, sie würde ihn in dem Glauben lassen, eine Elbin vor sich zu haben.

„Ich komme von weit her."erwiderte sie. „Wenn ich Euch sagen würde, von wo, wüsster Ihr nicht, wo es ist."Es erstaunte Seraphin, wie leicht ihr dies Lüge über die Lippen kam, aber dann wurde ihr klar, dass es im Grunde gar keine Lüge gewesen war. Was sie gesagt hatte, entsprach ja durchaus der Wahrheit. Sie hatte nur nicht alles gesagt.

Boromir schien jedenfalls nichts gemerkt zu haben. Er lachte. „Das ist wohl wahr. Ich habe noch nie die Grenzen Gondors verlassen und ich weiß nicht viel von der Welt."Er machte eine kurze Pause. „Aber vielleicht wollt Ihr mich nach Minas Tirith begleiten? Ich kenne dort jemanden, der mehr weiß als ich. Vielleicht auch etwas über Euer Volk und Euer Land."

Seraphin horchte auf. Hier tat sich ein erste Möglichekit auf. „Tatsächlich?"fragte sie und bemühte sich nicht allzu interessiert zu klingen. „Wer ist dieser Mann?"

Boromir lächelte und sein Blick war in die Ferne gerichtet, als er sich an viele vergangene Dinge zu erinnern schien. „Er ist ein Freund unseres Königs."antwortete er und er fügte hinzu: „Auch ich darf mich glücklich schätzen ihn zu meine Freunden zählen zu dürfen."

Seraphin stieß eine inneren Seufzer aus. Diese Antwort hatte ihr nicht wirklich weitergeholfen. Aber trotzdem, vielleicht konnte Boromirs Freund ihr doch helfen.

„Ich würde gerne mit Euch nach Minas... Minas Turith gehen um Euren Freund kennen zu lernen."Ein Strahlen lief über Boromirs Gesicht. Er deutet wieder eine kleine Verbeugung an. „Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen Euch nach Mians Tirith zu begleiten und Euch die weiße Stadt zu zeigen."Seine Augen funkelten wieder dieses schalkhafte Funkeln.

Seraphin lächelte. Sie wusste nicht warum, aber dieser Mann erinnerte sie irgendwie fatal an Jophiel.

Ihr Lächeln gefror allerdings, als der Rest von Bormirs Männern zurückkehrte. Auf ihren Gesichtern spiegelt sich Trauer, Wut, und was wohl das Schlimmste war, Hilflosigkeit.

Es war wahr. Es war so, wie sie und Bormir befürchtet hatten. Niemand hatte das Massaker überlebt. Alle, die hier einmal gelebt hatten, waren tot.

Einer der M;änner trat zu Boromir. Es war Tanit. „Wie viele?" fragte sein Heermeister rau.

Tanit schluckte. „Ungefähr hundert fünfzig."antwortete er gepresst. „Aber die meisten sind verbrannt. Wir konnten nicht herausfinden, wie viele genau."

Bormir schloss für einen Moment die Augen.

„Begraben wir die Toten."sagte er dann matt und wandte sich ab um den Menschen dieses Dorfes den letzten Dienst zu erweisen, seine Männer folgten ihm. Auch Seraphin ging mit ihnen.

In diesem Moment begann es wieder zu regnen.