Kapitel 8
Der schwarze Vogel sah von seinem Ast argwöhnische auf die seltsame Gruppe herunter, die unter ihm vorbeizog. Er hatte in seinem selbst für eine Krähe recht langen Leben schon viele Menschen gesehen und fand sie insgesamt eigentlich recht langweilig, aber diesmal war etwas anders, eindeutig anders. Er wusste nur nicht, was.
Unschlüssig und leicht verwirrt rutschte der Vogel auf seinem Ast hin und her, aber als das Tier mit seinem, wenn auch im Vergleich zu anderen Vögeln nicht ganz so begrenzten Verstand, sich sein ungutes Gefühl nicht erklären konnte, erhob er sich mit einem heiseren Krächzen in den Himmel.
Seraphin zuckte bei dem ihr unbekannten Geräusch zusammen und schaute auf. Die Krähe flog immer höher, bis sie nur noch als schwarzer Fleck zwischen den grauen Wolken zu erkennen war. Wie festgenagelt schien sie dort über ihnen zu schweben, aber dann plötzlich ließ sie sich wie ein Stein fallen und stieß mit einem anderen Vogel zusammen. Ein kurzes Gerangel, dann ergriff der schwarze Vogel endgültig die Flucht. Der Sieger stieß einen triumphierenden Schrei aus, der Seraphin nur allzu bekannt war. Ein wohliges Gefühl der Erleichterung durchströmte sie. Dermott war wieder da.
Mit dem Kopf im Nacken blickte sie angestrengt nach oben zu ihrem gefiederten Freund, so als könnte sie ihn auf diese Weise daran hindern, wieder einfach zu verschwinden. Sie grübelte gerade darüber nach, wo Dermott die ganze Zeit gesteckt hatte und ob er sie absichtlich alleine gelassen hatte, als eine Stimme sie aus ihren Gedanke riss.
„Seht!"mit ausgestreckter Hand wies Boromir vor sich. „Es ist nicht mehr weit. Wir haben Minas Tirth fast erreicht."Leicht widerwillig löste Seraphin ihren Blick von Dermott über ihr und folgte Bormirs Geste. Ihr stockte der Atem. Was sie vor sich sah, war wohl das gewaltigste und schönste, das sie jemals in ihrem Leben hatte erblicken können, auch wenn die zugegebenermaßen nicht gerade viel war. Mit dem Kopf im Nacken blickte sie angestrengt nach oben zu ihrem gefiederten Freund, so als könnte sie ihn auf diese Weise daran hindern, wieder einfach zu verschwinden. Sie grübelte gerade darüber nach, wo Dermott die ganze Zeit gesteckt hatte und ob er sie absichtlich alleine gelassen hatte, als eine Stimme sie aus ihren Gedanke riss.
Die Stadt schien unermesslich groß zu sein und ihre weißen Gebäude strahlten im hellen Sonnenlicht, während auf den Zinnen die bunten Fahnen wild im Wind flatterten. Hatten dies Menschen geschaffen? Die selben Menschen, die einst den Schutz ihre Volkes gebraucht hatten? Verstohlen wanderte Seraphins Blick zu Boromir neben ihr. Seine Augen strahlten bei dem Anblick, der sich ihnen bot und Stolz schwang in seiner Stimme mit als er sie fragte, ob sie schon jemals etwas Schöneres gesehen habe?
Seraphin schluckte. „Nein." antwortete sie mit belegter Stimme und es war die Wahrheit, aber gleichzeitig erfüllte sie diese Schönheit mit einer unendlichen Traurigkeit. Sie zeigte ihr, dass die Zeit auch ohne ihr Volk weiter vergangen war und dass sie Menschen auch ohne sie gelernt hatten; viel gelernt hatten. Sie wurde das Gefühl nicht los, irgendwie zu spät gekommen zu sein. Zu spät um ihre alten Platz einzunehmen. Es hatte sich zu viel in Mittelerde verändert.
Im Trab überquerten sie die schwere Zugbrücke und plötzlich befand sich Seraphin in einer anderen Welt. Stimmengwirr umfing sie und die Luft vibrierte von dem Leben, das die Stadt beherrschte. Ein Drängen und Schieben von Leibern war um sie herum, schien sie fast mitreißen zu wollen, aber trotzdem achtete keiner auf sie. Die Menschen, so viele Menschen, hasteten geschäftig an ihr vorbei, jeder mit sich selbst beschäftigt. Staunend stand Seraphin inmitten des pulsierenden Lebens und merkte gar nicht, wie sie den Verkehr aufhielt. Erst als unwillige Rufe um sie herum laut wurden, bemerkte sie, dass sie ein Hindernis für den stetigen Menschenfluss darstellte und schaute sich suchend nach Boromir um, doch er war nirgends zu entdecken. Die Rufe und Schreie wurden immer lauter, einige Menschen begannen sie zu beschimpfen. Seraphin wollte ihr Pferd drehen, aber die Menschenmasse um sie herum war zu dicht. Panik erfasste sie, sie hatte das Gefühl als würde sich die Enge um sie wie ein Gürtel um die Brust ziehen, aber dann plötzlich spürte sie, wie sie jemand, ganz leicht schien es, aus dem Gedränge und in eine Seitenstraße zog.
Boromirs Gesicht war ganz rot. Sie hörte, wie er mit ihr sprach, laut sprach, aber seine Stimme klang wie durch einen Nebel zu ihr. Ihr war plötzlich ganz schlecht, ihre Beine zitterten und sie musste sich an die weiße Wand des Hauses hinter sich lehnen. Boromirs hatte aufgehört zu sprechen und auch sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Zwar waren noch immer einige rote Flecken in seinem Gesicht, aber sein Blick war nun nicht mehr zornig. Fast besorgt musterte er die Frau vor sich. „Ihr seit noch nie in einer Stadt gewesen." stellte er leicht verwundert fest.
Seraphin musste trotz allem schief lächeln. Sie hatte ihr Zuhause immer als eine Stadt bezeichnet, aber im Vergleich hier zu war es nicht mehr als eine Ansammlung von ein paar wenigen Gebäuden. Es war dort auch eng gewesen, zumindest hatte sie das immer gedacht, aber nie hatte sie das Gefühl gehabt, dass diese Enge ihr keinen Raum zum Atmen mehr ließ.
Sie holte einmal tief Luft. Die Übelkeit ließ langsam nach.
„Ist es hier immer so... so belebt?" fragte sie.
Boromir Augen funkelten belustigt. „Belebt? Oh, heute ist gar nicht so viel los."Er bemerkte Seraphins entsetzten Gesichtsausdruck und schien sich kurz darüber zu amüsieren, aber dann wechselte er schnell das Thema. „Kommt, ich bringe Euch jetzt in den Palast. Soweit ich mich erinnere, findet dort heute eine Ratsversammlung statt. Wenn Ihr wollt, können wir ihr beiwohnen."
Seraphin nickte mechanisch und folgte ihm durch die enge Gasse. Boromir schien ihr einen Gefallen tun zu wollen und mied nun die größeren, menschenerfüllten Straßen. Seraphin war ihm sehr dankbar dafür.
Der Saal war eindeutig überfüllt. Bis in die letzten Winkel drängten sich Menschen, Krieger, Bedienstete und auch einige, von denen Legolas nicht wusste, was sie hier zu suchen hatten. Er versuchte in der Menge Boromir auszumachen, aber selbst mit seinen Elbenaugen konnte er ihn nicht entdecken. Er war nicht da. Legolas schüttelte lächelnd den Kopf. Entweder Boromir würde zu spät kommen oder er würde gar nicht kommen. So war es bis jetzt immer gewesen. Warum sollte es heute anders sein?
In diesem Augenblick erhob Aragorn sich von seinem Platz und bat um Ruhe. Sofort verstummte das Summen der Gespräche, das den Raum erfüllt hatte „Du bist alt geworden, mein Freund."dachte Legolas, während er seinen Freund musterte. Jemand, der Aragorn nicht kannte, hätte die paar grauen Haare an seinen Schläfen und den leicht gebeugteren Gang nicht bemerkt, aber Legolas waren diese kleine Veränderung nicht entgangen.
Die wichtigsten Ratsmitglieder hatten mittlerweile einen Weg durch das Gedränge gefunden und nahmen nun an dem runden Tisch in der Mitte Platz. Trotzdem blieben noch einige Männer stehen und Legolas erinnerte sich, dass heute alle Mitglieder gerufen worden waren, was selten vorkam Deshalb war es heute so überfüllt. Stille erfüllte den Raum und alle Blicke waren gespannt auf Aragorn gerichtet, obwohl jeder hier wusste, was heute besprochen werden sollte. Es war nicht das erste Mal.
„Meine Freunde."begann Aragorn, „Wir haben uns heute hier eingefunden um über die Bedrohung zu sprechen, die die Menschen vor unseren Toren zerstört. Es sind nun schon mehr als dreißig Dörfer, die..."Legolas hörte schon nicht mehr richtig zu; er kannte den Rest und ließ seinen Blick über die anwesenden Männer gleiten, als seine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas anderem erregt wurde. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihm aus, nur ganz kurz, aber dafür um so intensiver. Es war wie ein flüchtiger Windzug, der sein Herz streifte und zu ihm flüsterte. Verwundert hob er den Kopf und blickte direkt in ein Paar strahlend blaue, weit aufgerissene Augen, die ihn anstarrten. Sie gehörten zu einer Frau, die ein paar Meter von ihm entfernt zwischen den Leuten stand, aber sie schien nicht zu ihnen gehören. Ihre sehr helle, fast weiße Haut, ihre hellbraunen Haare sowie vor allem die spitzen Ohren wiesen eindeutig auf eine elbische Herkunft hin. Aber Legolas konnte absolut nicht sagen, woher sie kam. So eine Elbin hatte er noch nie gesehen.
Mit einem Ruck wandte sich die Frau plötzlich ab und stürzte aus dem Raum. Legolas sprang auf und rannte ihr hinter her. Er wusste gar nicht, warum er das tat, aber er hatte das Gefühl, dass er es einfach tun musste. Es war wie ein Instinkt. Er achtete nicht darauf, dass alle ihn verwundert hinterhersahen, als er durch den Saal hechtete, durch die Tür sprang, fast aus dem blankgeputzten Boden ausrutschte, sich wieder fing und sich suchend umschaute. Da hinter der Ecke sah er gerade noch den Zipfel ihres dunkelblauen Mantels verschwinden.
Ohne weiter zu überlegen, nahm er die Verfolgung wieder auf, er konnte sie zwar nicht sehen, wohl aber hören. Sie war schnell, das musste er zugeben, aber im nächsten Augenblick hörte er einen Schrei, ein Schlittern, und dann einen Knall. Legolas schien nicht der einizge zu sein, der Probleme mit dem spiegelglatten Boden hatte. Im Gegensatz zu ihm war die seltsame Elbin ihn aber nicht gewohnt.
Als Legolas um die nächste Ecke bog, wäre er beinahe mit der Frau zusammengestoßen, die gerade versuchte, wieder aufzustehen. „Darf ich Euch helfen, Mylady?"fragte er höflich und streckte ihr seine Hand entgegen. Die Elbin funkelte ihn wütend an. „Auf Eure Hilfe kann ich verzichten."zischte sie, aber just in diesem Moment rutschte ihr ein Bein wieder weg und sie kämpfte mit dem Gleichgewicht. Legolas verzichtete nun darauf, ihr höflich seine Hilfe anzubieten und zog sie einfach auf die Beine.
Als sie wieder stand, machte sie sich mit einem Ruck los und schaute ihn noch wütender an. „Was fällt Euch ein..."
„Mein Name ist Legolas vom Düsterwald."fiel Legolas ihr ins Wort und dieser kurze Satz verfehlte seine Wirkung nicht. Eine kurze Stille breite sich zwischen ihnen aus.
„Seraphin."antwortete die Elbin knapp. Sie schaute ihn eine Weile an. „Ihr seid ein Elb."
Legolas nickte. „So wie Ihr."
Seraphin schnaubte. „Nicht so wie ihr."
Leogolas wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und er wollte sie gerade danach fragen, als Boromir erschien. Er war blass.
„Ist etwas passiert?"
„Nein."antworteten Seraphin und Legolas gleichzeitig.
„Zumindest nicht sehr viel."meinte Legolas.
„Bis auf ein paar blaue Flecke, nein."fügte Seraphin bissig hinzu.
Boromir schaute leicht verwirrt von einem zum anderen.
„Ich habe sie hierhergebracht." erklärte er Legolas schließlich, als er dessen fragenden Blick sah. „Ich traf sie bei dem Dorf."
„Die einzige Überlebende?"Es wäre das erste Mal, dass jemand einen der Überfälle überlebt hätte.
„Nein, ich war zufällig da." schaltete sich Seraphin nun ein. Sie schien nun nicht mehr ganz so verärgert, sondern irgendwie traurig. „Und ich wünschte ich wäre nicht dort gewesen."
Legolas seufzte. „Dann war es also so wie letztes Mal."schloss er.
Boromir nickte und Seraphin konnte sehen, wie er hinter seinem Rücken die Fäuste ballte. „Ja. Aber lass und das nachher besprechen."Er wandte sich Seraphin zu. „Kommt, ich werde Euch jetzt Euren Raum zeigen."Er warf Legolas noch einen eigenartigen Blick zu, dann ging er, Seraphin hinter sich herziehend, davon.
Legolas sah ihnen nachdenklich nach. Wer war diese Frau nur?
