Kapitel 9
Seraphin lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Ihre Finger spielten mit der Kette um ihren Hals, wickelten sich um das silberne Kettchen und fuhren über den glatten, blauen Stein. Sie war unendlich müde und hätte nichts lieber getan als zu schlafen, aber zu viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Es war an diesem Tag so viel passiert, mehr als bisher in ihrem ganzen Leben.
Die Seuche, die alte Frau, Dermott, das Dorf, Boromir und dann dieser Elb. Ein Elb... Boromirs Freund, von dem er gesprochen hatte, war ein Elb. Sie konnte es kaum glauben. Also hatten Menschen und Elben Freundschaft geschlossen. Und sie? Wo stand sie?
Zu viele Fragen. Zu viele Fragen, die nicht beantwortet werden konnten. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber da war vor allem eine Frage, die sie beschäftigte. Es hatte sie erschreckt, wie wenig Unterschiede es rein äußerlich zwischen Elben und Engeln gab. Hätten dem Elben nicht die Flügel gefehlt, hätte man ihn durchaus für einen Angehörigen ihre Volkes halten können. Ihre Flügel... Es verwirrte sie, dass keiner sie bemerkt hatte. Sicher, sie hatte den Mantel getragen und er hatte wahrscheinlich ihre Flügel versteckt, aber sie konnte sich kaum vorstellen, dass er sie auch verdeckt hatte, als sie gestürzt war. Hatte der Elb sie vielleicht doch gesehen? Nein, das glaubte sie kaum. Er hätte sie anders angeschaut. In seinem Blick war kein Erschrecken gewesen, keine Frage, keine Ungläubigkeit, nur ein leichter Hauch von Verwirrung.
Es musste etwas anderes sein. Langsam hob sie den blau schimmernden Stein vor ihre Augen. Er war plötzlich ganz warm geworden. Eine Ahnung beschlich sie.
War es das? Hatte dieser kleine Splitter die Macht, das zu verstecken, von dem Seraphin nicht wollte, dass es jemand sah?
„Er wird dich beschützen." erinnerte sie sich an die Worte der Alten. Warum sollte er sie nicht auch auf diese Weise schützen? Aber wie diese Vermutung überprüfen ohne ein Risiko einzugehen? Nein, ohne Risiko war das wohl nicht möglich. „Tu' es einfach!"sagte sie sich. Entschlossen schwang sie die Beine über den Bettrand und lief zur Tür. Doch dort zögerte sie.
„Du kannst nicht ewig mit dem Mantel rumlaufen. Früher oder später würden sie es sowieso bemerken."sagte sie sich und drehte den Türknauf.
Auf dem Gang war niemand zu sehen. Sie ging einige Schritte an den großen Fenstern entlang, als sie spürte wie der Stein um ihren Hals wieder wärmer wurde. In diesem Moment sah sie eine Frau auf sich zukommen, die ein Tablett in der Hand hielt und es sehr eilig zu haben schien. Es musste eine der Mägde des Palastes sein. Seraphin hielt unwillkürlich die Luft an, als diese sich ihr näherte. Doch die Magd schien nichts zu bemerken. Sie sah Seraphin, lächelte kurz und lief dann einfach an ihr vorbei.
Erleichterung durchströmte die junge Frau. Sie hatte also Recht gehabt. Das machte die Dinge etwas einfacher, sehr viel einfacher. Beruhigt ging sie in ihr Zimmer zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Jetzt konnte sie schlafen. Müde ließ sie sich einfach auf das Bett fallen und fast sofort breitete sich eine angenehme Ruhe in ihrem Körper aus.
Die Kerze flackerte und malte unruhige Zeichen auf Legolas' Gesicht. Zusammen mit Boromir saß er an einem Tisch, vor sich einen Laib Brot, Obst und kaltes Fleisch. Doch keiner von beiden konnte etwas essen. Die Stimmung war gedrückt. Boromir hatte seinem Freund gerade von den Ereignissen beim Dorf erzählt und wirkte nun völlig erschöpft. Er würde es wohl niemals zugeben, aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn sehr mitgenommen. Am schlimmsten war für ihn das Gefühl versagt zu haben. In manchen Dingen ähnelte er doch mehr seinem Vater als seinem Onkel, obwohl er dessen Namen trug.
„Und du vertraust ihr?"fragte Legolas Borormir nun vorsichtig und beendete damit das Schweigen, das sich nach dessen Bericht zwischen den Beiden ausgebreitet hatte.
Boromir schaute ihn nicht an. Er wirkte verlegen. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich vertraue ihr völlig. Es kommt mir fast so vor als würde ich sie schon seit Jahrtausenden kennen."
Legolas nickte langsam. „Ja..."sagte er nachdenklich. „Ja, so kommt es mir auch vor. Das ist mehr als eigenartig. Eigentlich hätten wir allen Grund ihr zu misstrauen."
Boromir stimmte ihm zu. „Ja, genau: Sie sagt nicht, woher sie kommt, geschweige denn, was sie hier tut und außer ihrem Namen wissen wir eigentlich so gut wie gar nichts über sie."Er schwieg einen Moment. „Glaubst, dass sie gefährlich ist?"
„Gefährlich?" Legolas wirkte erstaunt. Auf diese Idee war er noch nicht gekommen. Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich glaube, dass sie mehr weiß, als sie uns sagt."
„Worüber?"
„Über die ganzen Vorfälle. Über die zerstörten Dörfer. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich ein Zufall war, dass sie bei dem Dorf war. Sie weiß etwas, da bin ich mir ziemlich sicher."Er stockte kurz, als er merkte, dass er sich nicht mehr ganz so überzeugt war von dem, was er gerade gesagt hatte. „Auf jeden Fall verheimlicht sie etwas Wichtiges."räumte er schließlich ein.
„Und warum sagt sie es uns nicht?"
Legolas lächelte. „Ich glaube, sie vertraut uns nicht."
Boromir grinste. „Du meinst wohl eher, sie vertraut dir nicht. Sie war nicht gerade begeistert davon, einen ihres Volkes hier vorzufinden."
Legolas rieb seine Handfläche unruhig auf dem Tisch. Das stimmte, aber er hatte keine Ahnung, warum dem so war. Warum sollte eine Elbin etwas gegen ihr eigenes Volk haben?
„Vielleicht hat es ja gar nichts mit den Elben an sich, sondern mit mir zu tun." meinte er dann.
„Du kennst sie?" fragte Boromir erstaunt, doch Legolas verneinte.
„Aber das bedeutet ja nicht, dass sie nicht weiß, wer ich bin."räumte er ein. Er seufzte. „Ich kann mir aber trotzdem nicht erklären, was eine Elbin gegen mich oder vielleicht auch gegen meinen Vater haben könnte."
Eine Weile sagte keiner von beiden etwas und als das Schweigen unterträglich wurde, stand Legolas auf.
„Es ist schon spät."sagte er und damit wollte er gehen, doch Boromir hielt ihn auf.
„Warte! Da ist noch etwas, was ich mit dir besprechen soll."
Legolas ließ sich missmutig wieder auf seinen Stuhl fallen. „Mit mir besprechen sollst?"fragte er. „Wer hat dir das denn aufgetragen?"
„Der König."
Legolas schwieg. Wenn das so war, dann musste es wichtig sein. Er war nur ein wenig enttäuscht, dass Aragorn nicht die Zeit gefunden hatte, es ihm persönlich zu sagen.
Boromir breitete eine Karte auf und Legolas beugte sich ein Stück vor um in dem schwachen Licht besser sehen zu können. Die Karte zeigte Gondor und seine Umgebung. Kleine rote Punkte schienen willkürlich auf ihr verteilt.
„Fällt dir etwas auf?"Boromir wartete gar keine Antwort ab, sondern fuhr fort: „Der erste Angriff erfolgte hier, der zweite dort, der nächste an dieser Stelle.."Legolas Augen folgten seinem Finger, der hastig über die Karte streifte. „Und der letzte Überfall..."er tippte mehrere Male auf die Stelle, „...war in diesem Dorf."
Legolas hatte bemerkt, worauf Boromir hinaus wollte, aber es gefiel ihm überhaupt nicht. „Die Angriffe haben eine Richtung."stellte er fest.
„Ja."stimmte der junge Heermeister ihm zu. „Und sie weisen auf Minas Tirith."
Legolas ballte die Fäuste. „Das ist..."
„ ...nicht gut." beendete sein Freund den Satz. Er rolle die Karte wieder zusammen.
„Und was nun?" fragte der Elb.
„Nun, da wir wissen, in welche Richtung die Überfälle gehen, wissen wir doch auch, von wo sie kommen."
Legolas verstand. „Aragorn glaubt, dass wir ihnen so auf die Spur kommen."
Boromir nickte. „Ja, und er hat mir aufgetragen, mit ein paar Männern dorthin zu reiten. Übrigens, du wirst mich begleiten."
„So?"
„König Elessar meinte, dass du auf jeden Fall mitkommen willst."
Legolas musste lächeln. Aragorn kannte ihn zu gut.
„Da ist noch etwas."Boromir fing an unruhig auf seinem Stuhl hin und herzurutschen. „Seraphin soll sich uns ebenfalls anschließen."
Der Elb runzelte die Stirn. Er hielt das für keine gute Idee.
„Ich weiß, das ist riskant,"beeilte der Heermeister sich zu sagen, als er Legolas' Gesichtsausdruck bemerkte, „Wir kennen sie nicht, aber Aragorn meint, dass wir gerade deswegen mitnehmen sollten. Wir können sie so am besten im Auge behalten. Wer weiß, wenn sie wirklich etwas weiß, dann ist sie uns dort vielleicht noch von Nutzen."
Legolas nickte. Er wusste, dass Aragorn Recht hatte, aber die Sache gefiel ihm trotzdem nicht.
„Gut, dann muss es wohl so sein."Er stand wieder auf. „Sagst du es ihr?"
Boromir schüttelte zögerlich den Kopf. „Ich kann nicht. Ich muss heute und morgen früh noch einige Vorbereitungen treffen."
Legolas stöhnte innerlich. Dann musste er es wohl tun. Begeistert war er nicht davon.
Leise betrat Legolas den Stall. Es war noch früher Morgen und die ersten Sonnenstrahlen fielen nur zaghaft durch die Fenster, doch ließen sie die feinen Staubpartikel in der Luft wie kleine Glühwürmchen aufleuchten. Stille erfüllte das Gebäude, unterbrochen wurde sie nur von dem gleichmäßigen Mahlen der Pferdezähne und dem gelegentlichen Stampfen von Hufen. Das geschäftige Treiben der Stallburschen war noch fern, aber dennoch konnte Legolas die leise Spannung in der Luft spüren, die davon zeugte, dass die Tiere genau wussten, dass nun bald ihr Frühstück und danach die tägliche Arbeit folgen würde. Aber da war noch etwas anderes, dass die Pferde in einen leichten Zustand von Unruhe versetzte. Jemand Fremdes war hier.
Legolas lächelte. Er hatte Recht gehabt. Sie konnte nur hier sein, bei dem Einzigen, was ihr in dieser fremdem Umgebung vertraut war. Langsam ging er an den verschiedenen Boxen vorbei, aus denen sich ihm neugierige Pferdeköpfe entgegen streckten. An einer der letzten Boxen am Ende der Stallgasse machte er Halt. Die Tür stand halb offen und als Legolas vorsichtig hineinspähte, konnte er die junge Frau sehen, die mit energischen Strichen das glänzende Fell ihres Pferdes striegelte. In einer Ecke lag das Sattelzeug und man konnte an der Art, wie es dorthin geworfen war deutlich erkennen, dass sie es eilig hatte.
„Ihr wollt uns verlassen?"
Seraphin unterbrach ihre Arbeit nicht und fuhr fort ihr Pferd zu bearbeiten „Ja." antwortete sie knapp. „Hier gibt es keine Antwort auf meine Fragen."
„Fragen?" Legolas hob erstaunt eine Braue. „Ihr habt uns niemals Fragen gestellt."
„Weil ich weiß, dass Ihr keine Antworten habt. Ihr nicht."Mit einer schnellen Bewegung hob sie den Sattel auf. „Gerade Ihr nicht."
Legolas trat in die Box und versperrte ihr den Weg. „Ihr könnt noch nicht gehen."
Seraphin starrte ihn an. Ihr Blick war kalt wie Eis. „Wollt Ihr mich aufhalten?"
„Nein."
„Gut."Mit einem einzigen schnellen Schritt schob sie sich an ihm vorbei.
„Aber vielleicht kann es König Aragorn."Seraphin hielt inne und Legolas beschloss diesen Augenblick auszunutzen. „Wir brauchen Eure Hilfe."
Seraphin drehte sich nicht um. „Wir?"fragte sie und ihre Stimme klang gefährlich gespannt.
„Ich, Boromir und Aragorn. Die Menschen Gondors."
Seraphin wirkte mit einem Mal erschreckt, doch flackerte es nur kurz in ihren Augen.
„Was wollt Ihr, dass ich tue?"
Legolas trat eine Schritt an Seraphin heran, welche aber sofort zurückwich. „Begleitet uns. Helft uns herauszufinden, was vor den Mauern von Minas Tirith vor sich geht."Er versuchte sie mit seinem Blick festzuhalten, aber sie wich ihm aus. Sie wandte den Kopf ab und schaute mit gerunzelter Stirn zur Seite. „Wie könnte ich Euch helfen?"fragte sie und in ihrer Stimme war plötzlich etwas unendlich Trauriges, so traurig, dass Legolas eine eigenartige Kälte in sich aufsteigen spürte. Was war es nur, das sie verbarg? Was war es nur, das sie mit sich trug?
Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Es ist nur eine Bitte. Eine Bitte des Königs."
Seraphin schwieg und Legolas konnte förmlich sehen, wie sie nachdachte. Nervös knetete sie ihre Unterlippe, dann drehte sie sich langsam um, um den Sattel vom Rücken ihres Pferdes zu heben. Legolas lächelte erleichtert. „Ich freue mich, dass Ihr Euch entschieden habt uns zu begleiten."sagte er und er meinte es ehrlich.
„Ich tue das nicht für Euch."bemerkte Seraphin und drückte ihm den Sattel mit solcher Wucht in die Hand, das der Elb ein Stück in sich zusammensackte. Wo nahm diese zarte Person nur solche Kraft her?
„Ich tue das für diese Menschen."Langsam und scheinbar in Gedanken versunken strich sie über das graue Fell ihre Pferdes. „Und für die anderen."fügte sie leise hinzu, doch Legolas hatte es gehört. Nur konnte er sich keine Reim auf diese Worte machen.
Behutsam setzte er den Sattel ab, nicht ohne einen kurzen Blick auf das ihm in völlig unbekannter Weise verarbeitete Leder zu werfen. Alles an dieser Frau war ihm fremd, und doch in so merkwürdiger Weise vertraut. Selbst ihr Pferd sah ganz anders aus als alle Pferde, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es war recht klein und feingliedrig, sein Kopf war edel, mit dunklen, wachen Augen.
„ Ein schönes Tier."bemerkte Legolas. „Wie ist sein Name?"
„Sein Name?" Seraphin wirkte überrascht. „Sie hat keinen Namen."
Nun war es an Legolas überrascht zu sein. „Euer Pferd trägt keinen Namen?"fragte er erstaunt und Seraphin schüttelte den Kopf. „Nein. Wir achten und hüten unsere Pferde, aber niemand hat jemals daran gedacht ihnen einen Namen zu geben."
Sie schien eine Moment nachzudenken. „Wie heißt Euer Pferd?"fragte sie schließlich und zum ersten Mal war in ihrem Blick keine Ablehnung und kein Widerwillen, nur ehrliche Neugier.
„Es heißt Arod."
Seraphin nickte kurz. „Vielleicht habt Ihr Recht."Sie bedachte ihr Pferd mit einem kurzen, liebevollen Blick. „Sie hätte einen Namen verdient. Nur wird es nicht leicht sein, einen zu finden, der ihr gerecht wird."
„Nennt sie Sujih."schlug Legolas vor.
Seraphin zog die Brauen zusammen. „Was bedeutet dieser Name?"fragte sie argwöhnisch. Legolas zuckte mir den Schultern. „Nichts. Aber es würde zu ihr passen."Seraphin schwieg. „Ich werde darüber nachdenken."sagte sie schließlich ausweichend, aber Legolas konnte spüren, dass ihr der Name gefiel. Sie wollte nur nicht zugeben, dass ihr etwas zusagte, was von ihm stammte. Was hatte sie nur gegen ihn? Mit einem Seufzen zog er sich zurück. „Ich werde Euch Beschied sagen, wann wir reiten. Haltet Euch bereit."Ohne eine Antwort abzuwarten wandte er sich ab, aber seine Gedanken schienen in seinem Kopf wild umher zu kreisen. Wieso wurde er das verdammte Gefühl nicht los, diese Elbin zu kennen?
