Kapitel 10

Sie brachen früher auf als Seraphin erwartet hatte. Noch bevor die Sonne im Mittag stand, hatten sich alle Krieger, die besten Gondors, zum Aufbruch zusammengefunden. 30 Männer waren es an der Zahl, Seraphin war die einzige Frau und kam sich zwischen all den gut gerüsteten Männern etwas fehl am Platze vor. Auch die Tatsache, dass Boromir und Legolas noch nicht eingetroffen waren, trug nicht gerade dazu bei ihr Gefühl des Verloren-Seines zu mindern. Als eine der Ersten hatte sie ihr Pferd gesattelt gehabt und stand nun untätig zwischen den umherlaufenden Männern und tänzelnden Pferden herum. Nervosität lag in der Luft, aber auch Argwohn. Der Grund für diesen Argwohn war sie. Sie wusste nicht, was man den Männern erzählt hatte, aber selbst wenn keinerlei Gerüchte über sie in Umlauf waren, war es nur allzu verständlich, dass die Krieger sich fragten, was sie hier bei ihnen zu suchen hatte.

Langsam fragte Seraphin sich das selber. Warum hatte sie sich nur entschieden mitzureiten? Sie wusste es selbst nicht mehr. Vielleicht sollte sie einfach gehen. Jetzt. Aber sie konnte es nicht. Ein unbestimmtes Gefühl hielt sie fest. Selbst der bohrende Blick des Mannes neben ihr konnte dieses Gefühl nicht verscheuchen. Seraphin konnte förmlich sehen, was er dachte. Sie war ein Hindernis. Eine Elbin auf einem kleinen Pferd, nur mit einem Schwert bewaffnet, das sie wahrscheinlich nicht einmal handhaben konnte. Aber da irrte er sich. Jophiel hatte sie viel gelehrt. Ob es ausreichen würde, wusste sie nicht, aber sie wusste, dass sie kämpfen würde, wenn es nötig war. Mit allen Mitteln. Entschlossen warf sie seinen Blick zurück und der junge Mann hielt diesem Blick nicht stand. Verwirrt senkte er den Blick. Seraphin schüttelte leicht den Kopf. „Ihr wisst doch gar nicht, wer ich bin."dachte sie. „Ihr habt gar kein Recht zu entscheiden, ob ich hier sein darf oder nicht. Und selbst wenn würde es mich nicht kümmern."

„Ihr seid bereit, wie ich sehe." Legolas war, ohne dass sie es bemerkt hatte, neben ihr aufgetaucht. Er ritt einen großen Schimmel und Seraphin wusste sofort, dass dies sein Pferd sein musste. Arod. Es war groß und Serpahin musste zu dem Elben hochschauen. Auch ihm entging der Größenunterschied von mindestens einer Elle nicht. „Seid Ihr sicher, dass Euer Pferd den langen Ritt durchhält?"

Seraphin kniff die Augen zusammen. „ Das wird sie. Und sie wird alle diese Pferde hinter sich lassen, wenn es nötig sein sollte."Ärger vibrierte deutlich in ihrer Stimme. Nicht genug, dass man sie hier vergessen hatte, man nahm sie nicht einmal ernst.

Legolas schien nicht wirklich überzeugt. Er bedachte Pferd und Reiter noch einmal mit einem zweifelnden Blick, dann ritt er nach vorne zu Boromir, der auf seinem Pferd, einem Fuchsschecken, darauf wartete, dass der Trupp bereit zum Aufbruch wurde.

Als es soweit war, drängte Seraphin sich ganz nach vorne um schon zu Anfang klar zu stellen, dass sie nicht die Langsamste sein würde. Doch hatte sie die Rechnung ohne die gepflasterten Straßen von Minas Tirith gemacht. Mehre Male rutschten Sujih die Beine auf der ihr völlig unbekannten Art von Boden weg und Seraphin erntete noch mehr zweifelnde und zum Teil sogar verärgerte Blicke. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, bis sie endlich alle Ringe der Stadt druchquert hatten und das große Tor erreichten.

Dort endlich konnte Seraphin aufatmen und als sich vor ihr die weiten Felder von Pelennor erstreckten, wurden die Pferde unruhig. Aber nicht nur die Pferde hatte diese Unruhe erfasst: Boromir an der Spitze drehte sich um und Seraphin konnte deutlich erkennen, wie es in seinen Augen blitzte. Aus den Augenwinkeln sah sie aber auch, wie Legolas unmerklich den Kopf schüttelte. Er schien genau zu wissen, was Boromir vorhatte und er schien damit nicht einverstanden zu sein. Aber gerade als er seinen Mund aufmachen wollte, um Boromir an dem, was immer er auch vorhatte, zu hindern, hob der junge Heermeister die Hand und rief: „Lasst die Pferde laufen!"

Seraphin begriff zuerst gar nicht, was überhaupt los war und als sie es endlich tat, hatten sich die anderen Pferde schon ein beachtliches Stück von ihr entfernt. „Verdammt!"

Sie wusste, wenn sie die anderen nicht so schnell wie möglich einholte, würde sie einen weiteren Beweis liefern, dass sie nichts als eine Last war. Fast schon wütend gab sie Sujih ganz die Zügel und es bedurfte keiner zweiten Aufforderung, dass diese mit einem gewaltigen Satz in den Galopp sprang. Erst als Seraphin das gleichmäßige, donnernde „Padadamm"der Hufe unter sich spürte, fiel die Angst und auch die Wut von ihr ab und verwandelte sich stattdessen in eine grimmige Entschlossenheit. In gerade diesen Moment passierte etwas Eigenartiges. Es war als würden Pferd und Reiter zu einem einzigen Lebewesen verschmelzen, das das Gleiche fühlte, dachte und vor allem wollte: Die Anderen einholen, ihnen beweisen, dass sie noch da waren, dass sie lebten und dass selbst die Zeit und die von ihr hervorgerufenen Veränderungen ihnen nichts hatten anhaben können.

Alles schien mit einem Mal leicht und so verwunderte es Seraphin nicht, als sie, scheinbar mühelos, in einem federnden Galopp sich an Gondors Krieger und ihre Pferde hefteten. Und es wunderte sie auch nicht, als sie langsam, aber trotzdem deutlich sichtbar, alle nacheinander überholten. Sie spürte die ungläubigen und fast erschrockenen Blicke, als sie nach und nach an all den anderen Pferden vorbeizogen und sie, selbst wenn deren Reiter jene zu Höchstleistungen antrieben, ohne erkennbare Anstrengung hinter sich ließen. Seraphin hätte am liebsten ausgelassen gelacht.

Erst als sie nur noch zwei Pferde vor sich hatte, merkte sie, dass es nun schwieriger werden würde. Es waren nur noch diese zwei Pferde, doch gerade sie waren Sujih ebenbürtige Gegner. Sie schaffte es noch mit Leichtigkeit jene einzuholen, tauchte fast wie ein Geist neben ihnen auf, aber dann schien sie an den beiden anderen Pferden zu kleben. Kopf an Kopf jagten sie in einer Dreierreihe über die Ebene, keiner wagte es den anderen anzusehen, waren doch alle zu sehr damit beschäftigt ihre Pferde zu lenken und es wollte auch keiner dem Anderen preisgeben, dass die Geschwindigkeit sie schon fast ängstigte. Wind und Staub trieben ihnen Tränen in die Augen, doch keiner der Reiter konnte es riskieren sie auch nur für eine Sekunde zu schließen, denn so dicht wie sie neben aneinander ritten und bei diesem gewaltigen Galoppsprüngen hätte dies leicht zu einem Sturz führen können.

Es schien wie eine Ewigkeit, die sie so über das Pelennorfeld hetzten, doch dann zeigte sich, dass ein Pferd, und war es noch so stark und schnell, den anderen Beiden nicht gewachsen war. Boromirs Schecke fiel, zunächst kaum merklich, Zentimeter für Zentimeter zurück. Und schließlich, als er schon eine Kopflänge hinter Sujih und Arod lag, verließen ihn die Kräfte allmählich völlig; musste er doch auch noch zusätzlich die schwere Rüstung Boromirs tragen, welche keine leichte Last war. Sujih und Arod dagegen trugen leichte Reiter, die kaum Waffen und nur leichte Kleidung an sich hatten, und so waren es nur diese zwei Pferde, die das Rennen zu Ende führten. Doch dieses Ende sollte noch auf sich warten lassen. Seraphin spürte zwar nach einer Weile, dass auch Sujih langsam, aber sicher, müde wurde, aber sie spürte auch, dass ihr Wille, so wie ihr eigener, noch lange nicht erloschen war. Auch Arod zeigte erste Ermüdungserscheinungen. Er fing an immer heftiger zu schnauben und Schweiß färbte seinen Hals und seine Schultern gelb, was auf seinem weißem Fell besonders deutlich zu sehen war.

In diesem Moment geschah es, dass beide, Seraphin und Legolas, nur für einen Sekundenbruchteil zum Anderen blickten. Es war in diesem Sekundebruchteil, dass jene eigenartige Verschmelzung von Sujih und Seraphin Legolas miteinbezog. Einen winzigen Atemzug lang konnte er all ihre Gefühle mitempfinden; all ihre Gedanken und ihre ganze Geschichte fielen in ihn ein, doch er konnte die Bilder nicht verstehen und kaum, dass sie vor seinem Auge aufgetaucht waren, waren sie auch schon wieder verschwunden. Aber ein Bild blieb: Er hatte einen jungen Mann gesehen, ein Ebenbild von Seraphin, nur ins Männliche übertragen. Er hatte auf einem weißen Pferd in derselben Art von Sujih gesessen und sie angeschaut. Seine Lippen bewegten sich und er konnte hören, wie sie die Worte: „ Ich habe Angst, Seraphin."sprachen. Und da war noch ein weiteres inneres Bild. Eine alte, sehr alte Frau im Dunkel irgendeines Raumes, möglicherweise einer Höhle. „Ich bin das, was einst war. Und was wieder sein wird."hörte er ihre Stimme in seinem Kopf hallen, dann war es vorbei. Seraphin hatte gemerkt, was passiert war und hatte fast panikartig all ihre Gedanken und Bilder wieder an sich gerissen. Aber Legolas war fähig gewesen jene zwei Bilder festzuhalten.

All das hatte sich in weniger als einer Sekunde abgespielt, doch sie war Legolas wie eine Ewigkeit vorgekommen. Und als diese Ewigkeit vorbei war, merkte er, dass er dieses Wettrennen verlieren würde. Das unerklärliche Ereignis, das Seraphin und Legolas eben miteinander geteilt hatten, schien Seraphins Willen den Elben weit hinter sich zu lassen, noch verstärkt zu haben und es war unübersehbar, dass Sujih diesen neu erstarkten Willen teilte. Wie durch eine Nebel hörte Legolas Seraphins Ruf: „Mehr, Sujih, mehr!"und er sah noch wie sich die graue Stute so angefeuert streckte, dann waren er und Arod plötzlich allein. Vor sich sah er noch den aufgewirbelten Staub, aber Sujih und Seraphin waren fort. „Bei den Valar!"murmelte er und zügelte sein Pferd. „Dieses Pferd könnte es beinahe mit Schattenfell aufnehmen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es ist eines aus dem Geschlecht der Mearas."

Er wendete sein Pferd und ließ Arod in einem leichten Trab zu den anderen zurückkehren, welche schon auf ihn warteten, als lautlos ein grauer Schatten neben ihm auftauchte. Legolas drehte verblüfft den Kopf, doch Seraphin schaute ihn nicht an. Schweigend kehrten sie zum Rest der Gruppe zurück. Keiner der Männer sagte etwas, hatten sie doch noch sehen können, wie das Rennen ausgegangen war, nur Boromir lachte und sprach aus, was alle dachten: „Es scheint doch einiges in diesem kleinen Pferdchen zu stecken; wer hätte das gedacht." Seine Niederlage schien ihm überhaupt nichts auszumachen; er hatte seine Spaß gehabt, aber es schien gerade dies zu sein, was Legolas verärgerte. Seraphin konnte seinen Gesichtsausdruck sehen und wusste, dass er Boromirs „Aktion"als gedankenlos beurteilte, was sie, das musste Seraphin zugeben, auch gewesen war. Er war zu leichtsinnig. Deshalb schwieg sie bei seinen Worten, doch kam sie nicht umhin eine stille Freude zu empfinden, denn sie wusste, dass sie nun etwas an Respekt bei diesen Menschen gewonnen hatte.

Respekt war der erste Schritt. Vielleicht würde sie noch einige Schritte mehr machen können. Sie sah in die Gesichter der Krieger und sie sah Entschlossenheit, Wille und auch noch etwas, was weit hinter den Augen lag. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus als sie erkannte, was ihre Vorfahren auch schon erkannt hatten. Die Menschen hatten nichts als ihren Willen und ihren Mut. Sie waren nicht, wie die Elben und Zwerge, unsterblich, aber trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, hatten sie es geschafft sich etwas aufzubauen, jemand zu sein und sie waren bereit, alles für das zu geben. Bevor Seraphin nach Mittelerde gekommen war, hatte sie sich gefragt, wer die Menschen waren, und nun, innerhalb einer Minute hatte sie es begriffen und sie verstand endlich, warum die Engel früher für sie gekämpft hatten.

Aber sie wusste auch, dass sie nicht nur den Menschen nahe stand. Auch sie hatte Legolas fühlen können, nur für einen Augenblick. Und da war nichts von dem gewesen, von dem sie geglaubt hatte, das es da sein müsste. Keine Arroganz, keine Dunkelheit, nichts Schlechtes. Im Gegenteil, sie hatte Licht gesehen.

Erst als sie schon ein paar Stunden geritten waren, traute sie sich neben den Elben zu reiten. „Ihr habt ein tapferes Pferd."sagte sie und zum ersten Mal traute sie sich, in seiner Gegenwart zu lächeln. Legolas sah sie erstaunt an, doch er sagte nichts. „Boromir sagte mir, dass Ihr viel über diese Lande hier wisst."nahm deswegen Seraphin das Gespräch auf. „Und ich würde gerne mehr erfahren."Nun lächelte auch Legolas und er begann zu erzählen. Er erzählt vom Düsterwald, von Lorien, von Gondor und selbst vom Auenland. Er erzählt von den Menschen, die er getroffen hatte, vom Einen Ring und von dem, was noch vor seiner Zeit gewesen war. Und Seraphin hörte ihm zu, staunte und fühlte sich innerlich immer mehr verwirrt. War das, was sie jemals über die Elben gedacht hatte und gelernt hatte, eine Lüge gewesen? Waren die Geschichten nicht mehr als eine Legende gewesen? Oder war da noch mehr, was sie nie erfahren hatten?

Und was war, wenn sie am Ende nicht das war, was sie geglaubt hatte zu sein?