Kapitel 11
Die ersten Sterne zeigten sich zaghaft am Himmel und der Mond schien schon blass, aber der Abend war noch lange nicht so weit fortgeschritten als dass man ihn bereits als Nacht hätte bezeichnen können. Doch es war kühler geworden und die ersten, unübersehbaren Anzeichen der kommenden Dunkelheit hatten dazu aufgefordert einen sicheren Ruhe- und Schlafplatz zu suchen, an dem sie die Nacht verbringen konnten. Der Platz, der dazu erwählt worden war, schien ideal: Umgeben auf der einen Seite von Bäumen und auf der anderen von hohen Felsen bot er Schutz, ließ aber gleichzeitig die Möglichkeit von diesen aus die Umgebung im Blick zu behalten. Ein perfektes Versteck.
Zwar wusste keiner, wovor sie sich hier verstecken sollten, denn an diesem Ort war man noch nie Gefahren von Seiten wilder Tiere oder Schlimmeren begegnet, aber die letzten Ereignisse in Gondor und Umgebung geboten zur Vorsicht. Deshalb blieben die Männer, trotz ihrer augenscheinlichen Müdigkeit, wachsam und hielten Augen und Ohren gleichermaßen offen. Erst als die Wachschichten verteilt waren, löste sich die Anspannung unter den Menschen allmählich. Seraphin war allerdings nicht mit dieser Pflicht belastet worden. Es schien, als hätte keiner auch nur den Gedanken gehegt, ihr jene Aufgabe, die eigentlich alle betreffen sollte, zuzuteilen.
Doch Seraphin war zu müde um sich darüber zu ärgern oder über die Gründe für diese Tatsache nachzugrübeln. Im Unterbewusstsein spürte sie, dass das bei ihr keine positiven Gefühle hervorgerufen hätte und deshalb ließ sie es lieber gleich sein. Aber die Scheu und die Unsicherheit bezüglich ihrer Person seitens der Menschen waren ihr nicht entgangen, was sie angesichts der Ereignisse dieses Tages aber auch nicht sonderlich verwunderte. Vielleicht aus diesem Grund oder vielleicht auch einfach zufällig stand sie etwas abseits zwischen den Bäumen und versorgte gerade ihr Pferd, als sie dicht neben sich Stimmen vernahm. Den Klang von diesen folgend konnte sie nach einer Weile im Grau der Abenddämmerung zwei Gestalten erkennen. Sie waren nicht weit entfernt und während sie sie bemerkt hatte, waren sich die anderen Beiden ihrer Gegenwart anscheinend nicht bewusst.
Deshalb konnte sie die Worte, die gesprochen wurden deutlich vernehmen und sie erkannte auch sogleich, dass die beiden Gestalten, die dort miteinander sprachen, Legolas und Boromir waren. Doch im nächsten Moment erkannte sie an der Art wie sie miteinander redeten auch, dass sie gar nicht miteinander sprachen, sondern stritten. Oder vielmehr stritt Legolas mit Boromir, welcher kein einziges Wort sagte, sei es, weil er Legolas aus Protest nichts entgegensetzte oder weil dieser Recht hatte und er das nicht zugeben wollte.
„... vergessen hast."waren die ersten Worte, die Seraphin verstehen konnte, doch waren es zugleich auch die letzten, denn damit endete Legolas und wartete darauf, dass Boromir nun etwas entgegnen würde, dieser jedoch schwieg weiterhin beharrlich. Die Stille zwischen den Beiden dehnte sich und wurde schier unerträglich, Bormomir gab aber dennoch keine Antwort.
Seraphin konnte deutlich den Ärger und Unmut von Legolas angesichts seines Verhaltens spüren, aber der Elb ließ sich nichts anmerken und fuhr schließlich ruhig fort: „Ich kenne dich Boromir, Faramirs Sohn. Deswegen bist du mein Freund und ich bin der Deine. Als dein Freund will ich dich nicht tadeln, aber ich muss es." Er machte eine Pause und seine nächsten Worte klangen schwer.
„Ich muss es, weil ich nicht will, dass unsere Freundschaft in meinen Leben nicht mehr als ein Atemzug ist. Ein Atemzug ist zu kurz für ein Leben."
Boromirs Schweigen dauerte an, aber auf eine unbestimmte Weise wirkte es nun nicht mehr so hartnäckig und trotzig, vielmehr schien es als wäre die Mauer, die er um sich errichtet hatte, unter der Ehrlichkeit des Elben so schnell zusammengebrochen, dass die frei gewordenen Worte vor Verwunderung ihren Weg nicht finden konnten. Legolas seinerseits hielt nun ebenfalls beinahe erschrocken inne und gleich darauf wandte er sich abrupt ab um Boromir mit dem Gesprochenen alleine zulassen. Jener stand noch einen Moment verwirrt und unbeweglich da, dann stürzte auch er davon.
Seraphin ließ ihren angehaltenen Atem vorsichtig wieder entweichen, so als könne sie selbst dieses Geräusch noch verraten, obwohl die unfreiwillig Belauschten schon längst außer Hörweite waren. Sie fühlte sich wie eine Verräterin. Was sie mitangehört hatte beschämte sie und ein Gefühl der Schuld ließ ihr Innerstes zusammenschrumpfen. Es erschien ihr einfach nicht richtig, dass sie an einem so persönlichen Gespräch, zwar unfreiwillig, aber das änderte nichts an der Tatsache, teilgenommen hatte
Sie wurde sich mit einem Mal der Kälte um sich herum bewusst, die die Nacht mir sich gebracht hatte und beschloss nun doch entgegen ihrem eigentlichen Vorhaben sich den Anderen an dem Feuer, das trotz der Gefahr der Entdeckung vor was auch immer entzündet worden war, anzuschließen. Doch hielt sie es für besser einen einen kleinen Bogen um das Lager zu schlagen um dann aus einer anderen Richtung zu den Männern zu stoßen, denn sie hielt selbst den Elben für nicht so dumm, als dass er nicht merken würde, dass sie von dort kam, wo er gerade mit Boromir gesprochen hatte. Eine peinliche Konfrontation mit ihm war das letzte, was sie sich im Moment wünschte.
Mit Sujih am Zügel schlängelte sie sich so lautlos wie es ihr irgend möglich war zwischen den Bäumen hindurch, wobei immer wieder der warme Schein des Feuers zwischen deren Stämmen hindurchfiel und die Blätter für einen kurzen Augenblick smaragdgrün vor ihren Augen aufleuchten ließ. Seraphin blieb stehen. Vorsichtig, so als könne das Blatt unter ihren Fingern zerfallen, streckte sie die Hand nach dem fremden Grün aus, welches ihr, nachdem sie dessen Oberfläche vorsichtig und zaghaft berührt hatte, eine angenehme Kühle offenbarte. Als sie das glatte Blatt unter ihrer Haut hinwegstreichen ließ, konnte sie die einzelnen Adern und sogar einige Unebenheiten tastend erkennen. Eine fast kindliche Freude und Staunen erfüllten sie wie eine unerwartete Welle und am liebsten hätte sie leise gekichert, aber das erlaubte sie sich nun doch nicht mehr. Es war einfach nur, dass sie bis jetzt noch keine Zeit gefunden hatte all das Neue, das Mittelerde ihr bot, zu betrachten und zu bewundern. Nun ganz plötzlich war es ihr, als würde diese Welt dies einfach von ihr einfordern und sei es, wenn sie ihre Bewunderung auch nur diesem kleinen Blatt schenkte; einem kleinen großen Wunder, das unerwartet aus dem Schatten getreten war um sie ganz in seinen Bann zu ziehen.
Es gab hier so viele von diesen Wundern, die für jene, die ihr Leben hier verbrachten wie Banalitäten erscheinen mussten. Doch für sie, die an einem ganz anderen Ort aufgewachsen war, an einem Ort, an dem die Natur nicht viel mehr bot als Sand, Steine und verdorrte Sträucher, waren diese Banalitäten, diese kleinen Dinge, etwas Besonderes.
Ein Ast knackte hinter ihr und riss sie abrupt aus jenem Zustand des Staunens. In einem Atemzug hatte sie ihr Schwert an ihrer Seite gezogen und dessen Spitze der Person hinter sich entgegengesetzt. Nur ein warnendes Gefühl ließ sie stocken und das bewahrte Tanit davor sein Leben mit einer durchschnittenen Kehle zu beenden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er dem schimmernden Metall entgegen und hob langsam die Hände. Doch schon während er das tat ließ Seraphin ihr Schwert in einer ähnliche Geste langsam sinken.
„Was schleicht Ihr mir hinterher?"fauchte sie ihm in einen wütenden Tonfall entgegen, der mehr in ihrem Schreck gründete als in echtem Ärger.
Tanit brachte trotz seiner dem Mond ähnlichen bleichen Gesichtsfarbe ein schiefes Lächeln zustande. „Glaubt mir, Mylady, hätte ich gewusst, dass Ihr es seid, die hier um uns herumschleicht, wäre ich Euch niemals so nahe gekommen."
Seraphin ließ ihr Schwert noch weiter sinken, bis es fast die feuchte Erde berührte. Ihre Anspannung hatte sich nach Tanits Worten vollends gelöst, was aber wohl auch dessen Absicht gewesen war. Angesichts seines Erfolges wagte Tanit es ihr seine Hand entgegen zu strecken, eine Geste, die Seraphin bei ihrem ersten Treffen mit ihm noch vermisst hatte und die Boromir an seiner statt übernommen hatte. "Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe. Ihr müsst verstehen, dass wir in diesen Tagen besonders wachsam und misstrauisch sind. Eine um uns schleichende Gestalt vermuten wir zunächst nicht als einen Freund."
Seraphin ergriff nur zu gern seine Hand, war es doch eine Geste, die die Männer untereinander austauschten und nicht eine, die ein Mann einer fremden Lady bot um sie um Verzeihung zu bitten. Angesichts der Tatsache, dass sie sich wirklich nicht als solche fühlte, war ihr Tanits Form der Entschuldigung sehr willkommen, zumal es auch ein Anzeichen dafür war, dass er sie allmählich akzeptierte.
„Nun, es scheint mir, dass dieser Vorfall mir vor allem sagen wollte, dass einige meiner Fähigkeiten noch nicht ausreichend sind. Ich sollte Euch deshalb dafür danken, dass Ihr mich darauf aufmerksam gemacht habt. Doch lasst Euch gesagt sein, noch einmal wird derartiges nicht vorkommen." meinte Serpahin und ihre blauen Augen blitzten in der Dunkelheit kurz auf als wolle sie lachen, aber plötzlich spürte sie die Kälte der Nacht wieder und ein kurzes Zittern durchlief ihren Körper. Mechanisch zog sie ihren Mantel enger an ihren Körper, aber das taube Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, konnte auch der Fetzen Stoff nicht vertreiben.
„Es ist kalt."bemerkte sie.
Tanit verstand die Bitte, die hinter ihren Worte stand und forderte sie auf ihn zum Feuer zu begleiten. „Kommt."sagte er mit einer ausholenden Handbewegung zu dem flackernden Licht der Flammen, das durch die Bäume hindurch zu ihnen durchschimmerte. „Das Feuer wir uns wärmen."
Ein kurzes Lächeln entschlüpfte ihr, als sie zusammen mit dem kleinen Mann aus dem Schatten der Bäume trat, die wie ein schützender Ring die Männer in dessen Inneren umspannten. Sie erinnerte sich an viele Abende mit Jophiel am Lagerfeuer, an denen sie mit ihm darüber nachgedacht hatte, ob es wohl irgendwo jemand anderen gab, der gerade zu diesem Zeitpunkt wie sie an einem Feuer saß und ebenfalls darüber nachdachte, ob jemand dasselbe tat. Sie hatten sich bei derlei Überlegungen dann immer in wilden Spekulationen über Mittelerde und seine Geschichte verloren bis diese so absurd wurden, dass sie vor Lachen kaum noch Luft bekamen.
Absurd. Das Ganze war absurd. Es war einfach absurd wie sie hier mit einer Handvoll Menschen-Männern und einem Elben zusammen an einem Feuer saß und vereinzelt gesungenen Liedern lauschte, während an irgend einem Ort, von dem die meisten hier nicht einmal wussten, dass er existierte, die Ihren einen qualvollen Tod starben. Sie sorgte sich um sie. Ja, die Sorge war ein ständiger Begleiter, sie nagte innerlich an ihr und mit jeder verlorenen Stunde hatte sie ein Stück von ihr aufgefressen, aber gleichzeitig schien ihr das alles in weiter Ferne und manchmal fragte sie sich, ob sie nicht träumte, wobei sie allerdings nicht wusste, welcher Teil des Erlebten nun ein Traum war. Der von ihrem Volk oder der von Mittelerde?
„Singt uns etwas!"Seraphin blickte aus ihren Gedanken gerissen auf. Alle Augen waren mit einem Mal auf Legolas gerichtet, der bis jetzt ebenso schweigsam wie Seraphin da gesessen hatte und seinen eigenen Gedanken nachgehangen war, welcher Art sie auch immer gewesen sein mochten. Nun aber schaute er überrascht, aber nicht ohne Freude, in die auffordernden und fragenden Gesichter der Männer.
„Ich singe gerne, wenn Ihr es wünscht."meinte er, aber dann wanderte sein Blick zu Seraphin und etwas formte sich in seine Augen und ließ sie hintergründig aufblitzen,
„Was für ein Lied wollt Ihr hören?"Die Frage war an sie gerichtet und Seraphin spürte wie eine Wärme, die nicht vom Feuer stammen konnte, ihre Ohren hinauflief, als sich alle Blick erwartungsvoll auf sie richteten. Neben dieser Wärme verspürte sie aber auch Aufflammen von Ärger. Warum fragte er gerade sie? Versuchte er etwas aus ihr herauszulocken? Oder wollte er einfach nur wissen, was sie über sein Volk wusste?
„Etwas Kurzes."antwortete sie hastig, denn eigentlich wollte sie gar nicht, dass der Elb etwas vorsang. Seine Geschichten hatten schon genug Zweifel in ihr bezüglich der Engel, Elben und ihrer Beziehung erweckt, ein Lied hätte wahrscheinlich noch mehr Überzeugungskraft und sie fürchtete sich vor noch mehr Zweifeln. Aber kaum, dass sie ihren Wunsch geäußert hatte und die sich plötzlich verschließenden Mienen der Menschen sah, keimte noch ein anderer Gedanke in ihr. „Singt etwas Altes. Singt uns von etwas, was lange vor unserer Zeit geschah!"
Es war nicht mehr als eine fixe Idee und eigentlich glaubte sie nicht, dass Legolas tatsächlich das vortragen würde, was sie sich erhoffte, zumal er und wohl auch der Rest der Elben sie und das, was vor langer Zeit passiert war, vergessen hatten. Aber da war eine kleine Hoffnung in ihr, die sich nach einem Hinweis sehnte, nach einer Spur von sich selber.
Legolas hatte ein paar Minuten nachgedacht, aber schließlich erhellten sich sein Züge als er etwas seiner Meinung nach Passendes gefunden zu haben schien. „Es ist nur ein Teil von einem Lied und deshalb kurz."erklärte er bevor er anfing. „Keiner weiß mehr den Titel des Liedes oder warum es geschrieben wurde. Nur diese paar Zeilen sind überliefert, der Rest ging irgendwann in der Zeit verloren und nur sehr wenige kennen es überhaupt noch. Aber es ist schön."Er schien sich kurz an den Text erinnern zu wollen, dann begann er:
„So gingen wir, Seite an Seite,
bis du sagtest, dass das Eine nicht mehr zum Anderen gehörte.
Und die Erde weinte und der Fluss versiegte,
als du von mir gingst
und mich hier alleine zurückließest, ..."
„...mit dem, was dir gehörte."
Die Köpfe drehte sich abrupt zu ihr um. Beinahe entsetzt fuhren ihre Finger zu ihren Lippen, die ohne ihr eigenes Zutun, so kam es ihr vor, den Text zu Ende geführt hatten.
„Ihr kennt das Lied."Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, die Legolas an sie stellte, doch Seraphin konnte ihm nicht antworten, weil sie keine Antwort wusste. Es war mehr ein Gefühl als Kenntnis gewesen, das sie zu den Worten bewegt hatte und sie begriff sie erst, als sie sie bereits gesagte hatte, aber nicht hatte sagen wollen.
„Ich... ich weiß nicht."stotterte sie verwirrt und blickte hilfesuchend zu dem Elb, in der Hoffnung er würde jetzt sagen, dass sie Unrecht hatte, dass das Lied anders endete, aber er tat nichts davon, im Gegenteil; sein Blick formulierte eindeutig die Frage, woher sie das Ende gewusste hatte. Er schaute sie lange an, auch als die anderen Männer ihre Gespräche wieder aufgenommen hatten, hielt er ihr Gesicht fest, so als könne er noch etwas von ihr erfahren, das sie ihm mit Worten nicht sagen konnte. Für einen Moment spannte sich das seltsame Band, das sie beide an diesem Tag schon einmal verbunden hatte, erneut, doch diesmal bemerkte Seraphin ihn nicht und so konnte er ihre Gefühle in einer Intensität mitempfinden, die ihm den Atem raubte. Sorge und Angst waren es, die in ihn einfielen, Sorge und Angst um jemanden, den sie liebte und Legolas fühlte sich damit hoffnungslos überfordert. Er wollte sich zurückziehen, aber es gelang ihm nicht, etwas hielt ihn fest. Er begegnete einem harten Blick aus blauen Augen und erkannte, dass er sich getäuscht hatte. Seraphin hatte ihn bemerkt und nun ließ sie sich über ihn hereinbrechen wie ein ein vom Sturm aufgewühltes Meer, in der Hoffnung er würde ertrinken.
Gerade in dem Moment da er glaubte zu ersticken, kam er frei. Entsetzt und und erschreckt sah er etwas verschwommen ihr Gesicht vor sich, das mit einem harten, triumphierenden Ausdruck zu ihm herübersah. Es war schneidender Hass, der ihm entgegensprang und ein plötzliches Gefühl von Kälte ließ ihn einen Schauer über den Rücken laufen.
