Kapitel 12

Es war der Schrei eines Vogels, der ihn am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen weckte. Er hatte sich wie immer, wenn er kein sicheres Dach über den Kopf hatte, nur einen leichten, oberflächlichen Schlaf erlaubt, was für einen Elben, der sowieso mit wenig Schlaf auskam, nicht schwerwiegend war. Aber heute fühlte er sich müde wie nie und seine Knochen schmerzten. Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern, was für Traumbilder ihn in der Nacht heimgesucht hatten, aber hegte den Verdacht, dass es etwas mit den gestrigen Ereignissen zu tun gehabt hatte.

Wieder erklang der Ruf des Vogels und noch immer auf den Rücken liegend suchten seine scharfen Elbenaugen den trüben Himmel nach dessen Gestalt ab. Doch alles, was er erblickte war die milchig weiße, runde Form der Sonne, die sich vergeblich einen Weg durch Wolken und Nebelschleier zu bahnen suchte. Legolas richtete sich auf. Es war noch sehr früh am Morgen und die meisten der Männer bis auf die Wachen, die die letzte Schicht erhalten hatten, schliefen noch und waren als geisterhafte Schemen unter den Felsen zu erkennen. Aber der Nebel verzog sich allmählich, denn ein starker Wind war aufgekommen und wirbelte ihn in Fetzen über den von Tau glänzenden Boden.

Ein drittes Mal erklang die Stimme des Vogels und nun, da der Nebel sich lichtete, konnte er ihn ganz dicht über einen der Felsen zu seiner Rechten schweben sehen. Es überraschte ihn nicht, als er ihn als einen Falken identifizierte; die Tatsache, dass er ganz nah bei Seraphin war, die auf eben jenem Felsen unter dem Tier stand, allerdings schon eher. Der Vogel schien keinerlei Angst oder Scheu vor ihr zu haben, wie es eigentlich in der Art dieser Vögel lag, im Gegenteil, langsam und Stück für Stück kämpfte er sich gegen den Wind nach unten zu ihr herunter. Seraphin hingegen schien ihn nicht zu bemerken. Die Arme fest um sich geschlungen, als wolle sie sich selber festhalten, damit der Wind sie nicht davontrug, stand sie unbeweglich da und starrte in die Ferne während der immer stärker werdende Wind an ihren Kleidern und Haaren zerrte.

Ein Fels im Sturm der Zeit.

Seraphin bewegte sich lange Zeit nicht, erst als der Falke so nah bei ihr war, dass sie die Hand nach ihm hätte ausstrecken können um ihn zu berühren, tat sie eben dies und der Vogel ließ sich sanft auf ihrem Arm nieder, wo er zufrieden zwitschernd begann an ihrem Ärmel zu zupfen. Jetzt endlich drehte Seraphin sich um und sprang scheinbar schwerelos die Steine hinunter. Als sie ihn sah, blieb sie stehen und schaute ihn aus ihren ihn so fremd anmutenden blauen Augen an. Diese Mal war keinerlei Hass in ihnen zu lesen, aber es sprach eine Trauer aus ihnen, die ihm fast noch unangenehmer war.

„Rauch." sagte sie nur und alles in Legolas verkrampfte sich, als er begriff was dies zu bedeuten hatte. „Rauch am Horizont."

Die Männer schwiegen als sie durch das Dorf ritten, aber das war bei dem Anblick, der sich ihnen bot nur zu verständlich. Für Seraphin war es ein Deja-vu Erlebnis, die Zerstörung hier glich der, der sie bei der ersten Siedlung begegnet war. Auch ihr Gefühl, das sie bei dem was ihre Augen sahen und das ihr Kopf nicht sehen wollte, war das Gleiche, eine Mischung aus Wut, Trauer, Fassungslosigkeit und Entsetzen. Sie sah dies nun erst zum zweiten Mal, aber sie fragte sich, zum wievielten Mal die Anderen derlei schon begegnet sein mussten und sie bewunderte sie für die Disziplin, die sie dabei immer noch an den Tag legten. Ohne dass Boromir einen Befehl geben musste, teilten sich die Männer in kleine Gruppen auf und suchten nach Überlebenden, die es, wieder einmal, nicht gab. Statt dessen fanden sie nur Tote, die sofort eilig, aber dennoch mit größtmöglicher Würde, begraben wurden. Seraphin tat, was sie konnte um zu helfen, aber ihre Gefühle hinderten sie daran, sehr viel zu tun.

Am liebsten hätte sie sich dort mitten auf den Platz gestellt und einfach nur geschrien, geschrien bis ihre Kehle heiser geworden wäre oder bis der, der das hier angerichtet hatte, zurückkam damit sie ihn dafür bestrafen konnte. Aber sie tat nichts dergleichen. Stumm und wie betäubt grub sie mit den Menschen Löcher, in die sie die Leichen oder das was von solchen übrig geblieben war, hineinlegten. Keiner sprach etwas, nicht nur sie schwieg, aber sie glaubte zu spüren, dass sie ebenso empfanden, nur waren ihre Gemüter solches schon fast gewohnt.

Die Arbeit nahm fast den ganzen Tag in Anspruch, aber auch als sie den Tod schon weit hinter sich gelassen hatten, konnte oder wollte keiner das Schweigen brechen. Stumm ritten sie durch blühende Landschaften, die zu dem, was sie gesehen hatten, blanker Hohn zu sein schienen. Jeder war in seinen eigenen Gefühlen gefangen, die es mit den Anderen zu teilen zu grausam gewesen wäre. Sie waren schon alleine schwer zu ertragen, die eines Anderen noch dazu sich aufzubürden, wäre eine nicht mehr tragbare Last gewesen.

Nur zwei von ihnen hatten nicht die Gnade, sich voreinander verschließen zu können, doch war es nicht mehr als eine Ahnung, eine leiser Hauch von Gefühl, den sie an sich vorbeistreifen spürten. Aber so wusste Seraphin, dass Legolas ihr Empfinden über das Geschehen teilte und das ließ sie wieder an dem, was sie über den Elben dachte, zweifeln. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Die Angst um die, die sie liebte oder die ständig an ihr nagende Frage, ob gerade sie sie betrogen hatten und dass nichts von dem, was sie ihr erzählt hatten, wahr war.

Doch diese Gedanken schob sie in den Hintergrund und überließ sich ganz der Trauer um die gestorbenen Menschen, die sie vorher begraben hatte. Noch nie war ihr der Tod in so vielgestaltiger Form so nahe gewesen, selbst als sie selber beinahe an der Krankheit gestorben wäre, hatte sie sich diesem schwarzen Gespenst nicht so nahe gefühlt und ihn auch nicht so gefürchtet wie jetzt. Es war schlimmer jemand anderen vom Tod berührt oder von ihm bedroht zu sehen als sich selbst.

Jedenfalls war wenigstens eines, was sie über die Vergangenheit gelernt hatte, wahr, denn sie spürte es am eigenen Leibe. Sie waren einst für die Menschen verantwortlich gewesen oder hatten sich wenigstens für sie verantwortlich gefühlt. Seraphin empfand dieses Gefühl im Angesicht der Menschen ebenfalls, auch wenn jene unübersehbar selbstständiger geworden waren und auch ohne sie einigermaßen zurecht kamen. Aber sie konnten dennoch ihre Hilfe gebrauchen, was die zerstörten Siedlungen bewiesen und allein deshalb schon musste sie dafür sorgen, dass ihr Volk wieder zurückkehrte, nicht nur, weil es auch ihre einzige Chance war zu überleben.

Ein leise Berührung in ihrem Innersten ließ sie zusammenzucken und ihre Gedanken verschließen. Legolas schien allmählich zu lernen wie er diese Verbindung, die Seraphin mittlerweile mehr als verfluchte, kontrollieren konnte. Aber Seraphin hatte ebenfalls ein wenig gelernt wie man mit ihr umgehen konnte und sie bildete sich auch ein, dass sie es besser konnte als dieser Elb. Gestern erst hatte sie ihm dies bewiesen, doch es schien ihn nicht abgeschreckt zu haben. Natürlich hätte sie etwas derartiges noch einmal tun können, aber es war zu gefährlich, hätte er doch auf diese Weise einiges über sie und die anderen Engel erfahren können und das galt es für sie um jeden Preis zu verhindern. Das Einzige, was sie tun konnte, war ihn abzuwehren. Zum Glück schien das Band schwächer zu werden, wenn sie wenig mit ihm sprach und den Kontakt mit ihm vermied und genau das würde sie tun.

Ihr war aber auch aufgefallen, dass Legolas und Boromir seit der letzten Nacht nicht mehr miteinander geredet hatten und so sehr sie sich eigentlich darüber freute, dass der Mensch und der Elb sich im Moment nicht gut zu verstehen schienen, so trauerte sie doch insgeheim um diese Freundschaft und fürchtete um sie, denn auch wenn sie versuchte sich einzureden, dass es nicht so war, so spürte sie, dass diese Freundschaft etwas Besonderes war, das es zu erhalten galt.

Sie seufzte als sie eine Entscheidung fällte, die ihr selbst gar nicht gefiel, aber sie wusste, dass sie richtig war. Sie würde heute Abend mit einem von Beiden reden, am besten wohl eher mit Boromir. Ihr Blick wanderte kurz zu ihm herüber. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet und sie konnte sehen wie er auf seiner Unterlippe kaute. Er schien ein paar Zentimeter geschrumpft zu sein und als sie ihn so sah, wurde ihr klar, dass das alles für ihn noch schwerer war als für jeden anderen. „Er glaubt, dass es seine Schuld ist. Er glaubt, dass wenn er früher da gewesen wäre, es hätte verhindern können."formte sich der Gedanke in ihrem Kopf. Und nun war Legolas, sein Freund, nicht da, der ihn hätte wieder aufrichten können.

Es wurde tatsächlich Zeit, dass sie etwas unternahm und sie würde nicht warten. Entschlossen trieb sie Sujih vorwärts bis sie auf gleicher Höhe mit Boromir war. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte und so überlegte sie nicht lange und fing einfach an: „Legolas ist Euer Freund."sagte sie und Boromir zuckte erschrocken zusammen. Er schien sie nicht bemerkt zu haben. Jetzt schaute er sie aus glasigen Augen an und Seraphin sah bekümmert, dass in ihnen nicht mehr diese lebendige Blitzen war, welches ihr schon bei ihrem ersten Treffen aufgefallen war.

„Was nutzt mir das?"fragte er mit schwerer, schleppender Stimme, die eine Hoffnungslosigkeit ausdrückte, die Seraphin innerlich frösteln ließ. Gleichzeitig stieg aber auch etwas Wut in ihr hoch, dass er, ein Anführer, sich überhaupt etwas derartiges erlaubte. Aber sie unterdrückte sie und so antwortete sie ruhig:

„Das nützt Euch sehr viel. Wenn alles andere unsicher erscheint, dann bleibt ein Freund das einzig Sichere. Und er ist Euer Freund, ich weiß es , weil... ich es weiß."Sie wollte ihm jetzt lieber nicht von dem Band erzählen, durch das sie diese Freundschaft gefühlt hatte, er hätte es ihr wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt.

In Boromirs Augen kehrte für einen kurzen Augenblick das Funkeln zurück. „Dafür, dass Ihr nicht leiden könnt, sprecht ihr sehr wohlwollend von ihm."meinte er, aber Seraphin wischte seine Worte mit einer Handbewegung weit von sich fort.

„Das hat nichts mit Wohlwollen zu tun."erklärte sie bestimmt. „Es ist eine Tatsache, mehr nicht."Boromir nickte als habe er verstanden, aber Seraphin konnte regelrecht sehen, wie er „Wenn Ihr meint..."dachte.

„Versprecht mir, dass Ihr Eure Freundschaft nicht aufs Spiel setzt. Ich hatte nur einen Freund und es ist sehr schnell geschehen, dass man ihn verliert."Seraphin erschrak. Hatte sie das gesagt? Es waren ihre Gedanken gewesen, Gedanken an Jophiel. Es erschreckte sie nicht, dass er für sie nicht nur Bruder, sondern auch dazu ein Freund war, nein, es war die Tatsache, dass sie so sprach als habe sie ihn bereits verloren.

„Er ist nicht tot."sagte sie sich bestimmt und versuchte diese Gedanken wegzudrängen um sich dem Hier und Jetzt zu widmen. „Versprecht es mir!"forderte sie Boromir noch einmal auf, welcher nichts bemerkt zu haben schien. Er überlegte nur eine Sekunde, dann versprach er es und Seraphin atmete auf.

Als sie aber sah, wie er am Abend sich neben Legolas setzte und sie sich beide nach einer Weile die Hand gaben, konnte sie keine Befriedigung empfinden. „Du bist ein Dummkopf."schalt sie sich selber, aber im Herzen wusste sie, dass es trotz allem doch richtig gewesen war, was sie getan hatte.

So, wieder zwei Kapitel geschafft. Wollte euch auch schon mal vorwarnen: Im nächsten Kapitel wird es viel mehr Action geben, also stellt euch schon mal darauf ein ;-)