Kapitel 13
Je weiter sie in das Land vordrangen, umso schwächer fühlte sich Seraphin. Sie fühlte sich müde, unendlich müde, aber ihre Erschöpfung konnte ihren Ursprung nicht allein in den unruhigen Träumen haben, die sie des Nachts nun immer öfter heimsuchten. Es war etwas Eigenartiges in der Luft, das ihr den Atem nahm und ihre Kehle mit einem unbestimmten, nicht greifbaren Gefühl der Angst zuschnürte. Mit jedem Schritt, den Sujih machte, wurde es stärker und gleichzeitig dazu schwanden Seraphins Kräfte bis sie sich merkwürdig taub fühlte, taub im körperlichen wie auch im geistigen Sinne. Sie verschloss sich dem, was um sie herum geschah und nahm es nur noch in einer Weise wahr, als wäre sie eine Beobachterin und nicht Teil davon.
Nur in der Nacht, wenn sie trotz aller Vorsätze vom Schlaf übermannt worden war und wieder diese merkwürdigen Träume hatte, verschwand das taube Gefühl und machte der Verwirrung Platz. Denn jedes Mal, wenn sie schweißgebadet und keuchend hochschreckte, konnte sie sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war, das sie so in Panik versetzt hatte. Der Traum war einfach fort, wie aus ihrem Gedächtnis fortgeweht. Aber einschlafen konnte sie danach trotzdem nicht mehr, obwohl sie den Schlaf doch so dringend nötig hatte. Sie war einfach zu aufgewühlt. Verschiedene Gefühle, die der Traum ausgelöst haben musste, purzelten wild in ihr umher, ohne dass sie wusste, woher sie kamen und das machte sie schier wahnsinnig.
Vielleicht wurde sie tatsächlich wahnsinnig. Eine andere mögliche Erklärung konnte sie für ihre derzeitigen Zustand nicht finden. Es wunderte sie nur etwas, dass die Anderen noch nichts davon bemerkt zu haben schienen. Vielmehr hatte Seraphin das Gefühl, dass sie ähnlich wie sie empfanden. Sie waren noch schweigsamer geworden, es gab Tage, das sprach kein einziger ein Wort, und in den verschlossenen Gesichtern der Menschen war Müdigkeit zu lesen, auch wenn sie alle fast verzweifelt bemüht zu schienen, es zu verbergen.
Wenn es aber dunkelte, suchten sie einen Lagerplatz und dann rutschten sie alle erschöpft von ihren Pferden und keiner machte mehr einen Hehl daraus, dass er jetzt nur noch schlafen wollte. Mechanisch wurden die Pferde versorgt, dann legten sich viele, die selbst zum Essen schon zu müde waren, nieder und schliefen die ganze Nacht durch, soweit es jedenfalls die Wacheinteilung zuließ. Seraphin dagegen schlief nie mehr als drei Stunden. Dann ließen sie ihre Träume wieder hochfahren.
Auch in dieser Nacht erwachte sie zitternd und mit klopfendem Herzen. Sie schwitzte, ihre Kleidung und die Decke, in die sie sich eingewickelt hatte, klebten an ihrem Körper, aber gleichzeitig spürte sie auch, wie kalte Nachtluft über ihren Arm strich und dort eine Gänsehaut hinterließ. Trotzdem befreite sie sich mit einer schon fast wütenden Geste von der Decke, dann hielt sie, noch immer heftig atmend inne. Erst als sich ihr Herzschlag und Atem wieder einigermaßen beruhigt hatten, rührte sie sich wieder und schlang die Arme um die Knie. Um sie herum erschien alles wie immer; die dunkeln Silhouetten der Menschen lagen wie willkürlich ausgestreut um sie herum, ab und zu war das Schnauben eines Pferdes zu hören und die Sterne schienen klar und hell.
Seraphin war nicht mehr müde und so stand sie auf um zu dem Lagerfeuer zu gehen, in der Hoffnung, dass noch jemand anderes keinen Schlaf gefunden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte um sich ein wenig abzulenken. Doch sie fand es verlassen und bereits heruntergebrannt, nur die zaghaft leuchtende Glut spendete noch ein wenig Wärme. Seraphin wollte sich gerade setzen als sie im fahlen Mondlicht die schlanke Gestalt des Elben erkannte, die weit von ihr entfernt in die Nacht starrte. Er schien wie festgewachsen, nur sein langes Haar wehte sachte im Wind.
„Die Nacht ist friedlich."sagte er, als Seraphin zu ihm trat. Er schaute sie nicht an, sondern blickte weiterhin in das schwarze Dunkel. Seraphin folgte seinem Blick. Es war dunkel, so dunkel, dass selbst sie, die wie die Elben ein ausgesprochen gutes Sehvermögen hatte, kaum etwas erkennen konnte.
„Ja, es ist friedlich."pflichtete sie ihm zögernd bei, als sie plötzlich eine ungewöhnliche Bewegung im Dunkeln bemerkt zu haben glaubte. Eine schnelle, hastige Bewegung und dann das Aufblitzen von etwas hellem, das sofort wieder erlosch. Seraphin kniff sie Augen zusammen und versuchte angestrengt etwas in der Nacht zu sehen, aber alles war wieder ruhig. Hatte sie sich getäuscht?
Aber da war wieder diese Blitzen, ein Leuchten, nun ganz deutlich. Es schien weit weg zu sein und sich nicht zu rühren, dann aber plötzlich raste es auf sie zu.
„Legolas....", wollte sie den Elben warnen, doch in diesem Moment zischte der Pfeil direkt an ihrem Ohr vorbei und bohrte sich hinter ihr in die Erde, wo er das Gras um ihn herum versengte.
Ungläubig starrte sie auf den brennenden, nun aber langsam erlöschenden Pfeil und merkte gar nicht wie Legolas sie am Ärmel zerrte und sie mit aller Gewalt fortzog. Erst als sie zu Boden stürzte, gleich darauf aber wieder von einem Paar starker, energisch zupackender Arme hochgehoben wurde, wurde ihr bewusst, dass sie rannte. Legolas schleifte sie hinter sich her und schrie etwas gegen den aufkommenden Wind, woraufhin sich an dem Lagerplatz Gestalten zögernd erhoben und dann begannen hektisch umher zu rennen. Jetzt erst spürte sie, dass jemand hinter ihnen war, Reiter, die sich schnell fortbewegten, allmählich aber langsamer wurden. In diesem Moment erwachte Seraphin vollends aus ihrer Betäubung. Sie spürte eine Angst in sich aufsteigen, die nichts mehr mit Panik zu tun hatte.
Es war wie eine Angst, die gar nicht zu ihr zu gehören schien, fast schon ein Instinkt, der ihr sagte, dass sie so schnell und so weit wie möglich vor dem, was hinter ihr war, fortlaufen sollte, was immer es auch war. Als sie endlich das Lager erreichten, keuchend und völlig außer Atem, herrschte dort ein heilloses Durcheinander. Panik war ausgebrochen, die Männer wuselten umher, versuchten ihre Waffen zusammen zu klauben und ihre Pferde einzufangen, doch jene schlugen ängstlich um sich und wieherten schrill. Von der Disziplin und Erfahrung der Krieger Gondors war nichts mehr zu spüren, die unkontrollierte Angst, die Seraphin empfand schienen sie ebenfalls zu spüren. Nur Boromir versuchte verzweifelt und vergeblich Herr der Lage zu werden, indem er Befehle brüllte, die aber vom allgemeinen Lärm verschluckt wurden.
Wie es geschah, dass alle Männer bewaffnet und überhaupt vollständig angekleidet auf ihre Pferden kamen. kam einem Wunder gleich. Doch auch dann war an eine geordnete Schlachtreihe nicht zu denken, denn die Pferde stiegen und versuchten sich ihrer Reiter zu entledigen, während sich jene verzweifelt darum bemühten sie unter Kontrolle zu bekommen und gleichzeitig ihre eigene Angst zu beherrschen.
Von den Angreifern dagegen war kein Laut zu hören; sie kamen näher, langsam und scheinbar ohne Hast, ein paar dunkle Gestalten sie sich kaum von der Nacht abhoben. Doch dann wurde es mit einem Mal hell, so hell, dass Seraphin für einen Moment die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnen konnte, leuchteten ihr Fackeln entgegen. Eine Reihe aus Licht, die immer näher kam und sich schließlich als Rings um die kleine Gruppe von Menschen zog, welche es nicht wagten sich zu rühren, auch dann nicht als sich der Kreis aus Feuer immer dichter um sie zog, langsam und unerbittlich.
Immer dichter drängten sich die Pferde aneinander bis sie schließlich so standen, dass keiner mehr Luft zum Atmen zu haben schien. Mitten in diesem Gedränge war Seraphin und spürte nichts als Entsetzen. Wie gelähmt starrte sie den dunklen Reitern entgegen, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren, geschweige denn ihr Schwert zu ziehen. Die Angst war übermächtig und hielt sie fest in ihrem kalten, unbarmherzigen Griff. Doch dann plötzlich war es ihr, als erwachte etwas in ihr.
Nein. flüsterte etwas in ihr. Nein. Nein. Nein. Eine leise Stimme, die rasch lauter wurde und die die Angst verdrängte. Ein unbändiger Wille erfüllte sie ganz plötzlich, der Wille die, die sie und die Menschen hier offensichtlich töten wollten, zu bekämpfen, der Wille zu leben.
Entschlossen presste sie Sujih die Fersen in die Flanken, welche daraufhin erschrocken und mit einem gewaltigen Satz aus dem Knäuel aus Pferden und Menschen sprang. Nun stand Seraphin allein zwischen den Angreifern und den Menschen. Sujih tänzelte auf der Stelle, aber Seraphin wusste, dass das Tier wie sie selber nun keine Angst mehr hatte. Sie schaute einmal zu den schwarzen Gestalten, deren Gesichter sie trotz der Fackeln, die sie in den Händen hielten, nicht erkennen konnte, dann zu den Männern, die sie verblüfft anstarrten. Sie erkannten sie nicht wieder. Sie schien gewachsen, groß und furchteinflößend. In diesem Moment wurden die Pferde mit einem Mal ruhig und es schien als würden nun auch die Männer in gewisser Weise aufwachen.
Als Seraphin dann mit einer schnellen Bewegung ihr Schwert zog, antwortete ihr der entschlossene Kriegsschrei von Gondors Männern und ließ den Boden unter ihnen erzittern, dann riss Seraphin Sujih herum und jagte dem Ring aus Feuer entgegen, ihre Gefährten taten es ihr gleich. Der zusammengedrängte Haufen in der Mitte des Ringes löste sich, wurde weiter und drängte auf den Band auf Feuer zu, das sie gefangen hielt. Nur Legolas schaute einen Moment lang den Anderen verwundert hinterher. Noch nie hatte er die Menschen so entschlossen erlebt. Doch dann gab auch er Arod die Sporen und setzte den Anderen nach, die in einem unglaublichen Tempo den feindlichen Reitern entgegen stürmten, welche mittlerweile stehen geblieben waren. Mit einem so entschlossenen Gegenangriff hatten sie nicht gerechnet.
Seraphin war die erste, die sie erreichte, doch Legolas fragte sich, wie sie es sich vorstellte, die trotz ihrer offensichtlichen Verblüffung fest geschlossenen Reihen ihrer Gegner zu durchbrechen. Schwerter und Speere starrten ihnen entgegen und ein Überwinden dieses Hindernisses schien unmöglich.
„Das schafft sie nicht, das kann sie gar nicht schaffen.", dachte Legolas, „Sie wird sterben, sie wird sich umbringen."
Doch als kurz bevor Sujih tatsächlich in eines der blitzenden Schwerter und damit in den sicheren Tod hinein lief, wurde Legolas eines besseren belehrt. Plötzlich schien die Stute kürzer zu werden, sie sammelte sich und hob dann zu einem mächtigen Sprung ab. Ein Schild zersplitterte krachend, hinterließ dessen Besitzer schutzlos, was Seraphin sofort ausnutzte, indem sie ihn, noch im Flug über ihn, mit einem einzigen Schwerthieb aus dem Sattel schlug. In den gegnerischen Reihen entstand eine Lücke und auch die anderen Reiter wichen nun erschrocken zurück, was die Männer aus Gondor zusätzlich anstachelte. Mit wildem Gebrüll spülten sie wie eine Woge über ihre Feinde hinweg, ihre Fackeln fielen erlöschend zu Boden. Sie wurden regelrechte überrannt.
Auch im darauffolgenden, kurzen und heftigen Kampf, blieben die unbekannten Reiter chancenlos; sie wurden einfach und scheinbar mühelos nieder gemacht. Legolas wusste nicht, woher die Menschen, die sich eben noch verängstigt aneinander gedrängt hatten, plötzlich die Kraft und den Willen hernahmen so zu kämpfen. Er sah nur, dass sie ihre Schwerter doppelt so stark und schnell führten wie er es jemals bei Menschen gesehen hatte und mit einer Entschlossenheit kämpften, die selbst ihm fast Angst machte. Mitten unter ihnen war Seraphin, die ebenfalls wie eine Furie unter ihren Gegnern wütete, da und dort erschien und wie in einem Rausch wirkte, welcher erst endete als mit einem Mal keine Gegner mehr da waren.
Sie flüchteten und waren nur noch als rasch dunkler werdende Schatten zu erkennen, die allmählich von der Dunkelheit verschluckt wurden. Doch hinter ihnen erschien plötzlich ein weiterer, etwas hellerer Schatten, der sie schnell eingeholt hatte. Seraphin schien sie nicht so einfach entkommen lassen zu wollen. Als sie mit dem letzten der Flüchtenden auf gleicher Höhe war, ließ sie Zügel los und sprang auf das andere Pferd, welches von der Wucht des Aufpralls von den Beinen gerissen wurde. Was dann geschah konnte Legolas nicht mehr erkennen, denn eine Staubwolke hüllte die beiden miteinander Ringenden ein und verhinderte Blicke auf den Ausgang des Kampfes.
Legolas fluchte leise und trieb Arod mit einem energischen Druck seiner Schenkel zu der Stelle, an der die Beiden zu Boden gegangen waren, Boromir folgte ihm. Doch als er näher ritt, sah er, dass sie Hilfe nicht gebraucht wurde. Seraphin kniete halb auf einem am Boden liegenden, dunkel gekleideten Mann, von dessen Gesicht nur seine Augen zu erkennen waren, denn der Rest davon war von einem ebenfalls schwarzen Tuch verhüllt. Hasserfüllt bohrten sie sich in die junge Frau über ihn, die ihm ihr Schwert an die Kehle gelegt hatte. Leise, sehr leise sprach sie mit ihm, so dass Legolas trotz seines guten Gehörs den genauen Wortlaut nicht verstehen konnte, aber die Worte klangen so drohend, dass der Mann es zuerst gar nicht wagte aufzustehen, auch als Seraphin schon längst nicht mehr auf ihm kniete.
Langsam und sehr vorsichtig erhob er sich dann, während die Klinge von Seraphins Schwert noch immer an seinem Hals ruhte. Auch als er rückwärts von ihr zurückwich, blieb es dort, erst als sie ein paar Schritte gegangen waren, blieb Seraphin stehen, woraufhin der Mann schneller wurde und schließlich hastig davon stolperte.
Der Elb atmete erleichtert auf, doch gerade in diesem Moment schien der flüchtende Mann es sich anders zu überlegen. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung stoppte er, drehte sich um und griff hinter sich. Legolas begriff erst, was er vorhatte, als es zu spät war. Der Pfeil fand ein Ziel und hätte er gewusst welches, so hätte er nicht gezögert und sich ihm entgegen geworfen. Doch an seiner statt blickte Boromir ungläubig auf sein ehemals weißes Hemd mit dem Baum Gondors, dessen Äste von einem rasch größer werdenden roten Fleck überdeckt wurde.
Er hatte keine Zeit gehabt seine Rüstung anzulegen.
„Legolas..." konnte er noch flüstern, dann sackte er in sich zusammen.
