Kapitel 15
Die Sonne stand hoch am Himmel während sie Astoi über die Grasebene folgten. Ruhig und scheinbar ohne Eile trotteten sie in einer Reihe dem Elben hinterher, aber innerlich war jeder von ihnen zum Zerreißen gespannt. Sie wussten nicht, was sie erwarten würde. Dieser eigenartige Elb und seine Herkunft waren ihnen ein einziges, undurchschaubares Rätsel. Er sprach die ganze Zeit über kein Wort mehr und obgleich seine Miene undurchdringlich, ohne jede Regung nach vorne gerichtet war, so vermeinte Seraphin in ihm doch noch immer einen gewissen Groll zu lesen.
Ob die anderen ebefalls spüren konnten, dass Astoi ihnen nicht mehr so wohl gesonnen war wie er es zu Anfang vielleicht gewesen war, bevor Dermott ihn attackiert hatte, wusste sie nicht, denn auch der Rest der Gruppe schwieg unter der warmen Sonne. Es musste Frühling in Mittelerde sein.
Als die Sonne langsam unterging, hatten sie ihr Ziel, was auch immer und wo auch immer es sein mochte, immer noch nicht erreicht. Seraphin fragte sich mittlerweile ernsthaft, ob Astoi sie absichtlich einfach nur herumführte. Ein rascher Seitenblick zu Legolas bestätigte ihr, dass er ihre Sorgen teilte. Doch gerade als sie ihre Befürchtungen in Worte fassen wollte, brachte Astoi sein Pferd zum Stehen.
"Wir haben den Lichtberg nun fast erreicht." Lichtberg, dachte Seraphin. er führt uns zum Lichtberg. Was immer das auch ist.
Wenn wir das Haus meines Herren erreicht haben, werdet ihr es nicht ohne meine oder die Hilfe eines anderen Elbens meines Volkes verlassen können. Ohne jemanden, der den Weg kennt, werdet ihr euch hoffnungslos in diesem Wald verirren und nie wieder herausfinden."
Seraphin richtete erstaunt ihren Blick nach vorne und erst jetzt bemerkte sie, dass die dunkeln, unbeweglichen Schatten vor und neben ihr keine Felsen, sondern wieder Bäume waren. Doch diese waren stumm, kein Wind ließ ihre knorrigen Äste flüstern. Trotzdem beschlich Seraphin ein mehr als mulmiges Gefühl und nur zögerlich folgte sie den anderen und Astoi in den Wald.
"Wir liefern uns ihm völlig aus." dachte sie unbehaglich. "Sollte er es sich anders überlegen und plötzlich verschwinden, haben wir keinerlei Chance von hier zu entkommen." Doch ein Blick auf den noch immer bewusstlosen und fiebrigen Boromir erinnerte sie wieder daran, dass ihnen gar keine andere Wahl blieb. Wollten sie diesen Menschen retten, mussten sie Astoi ins Ungewisse folgen, ob es ihr nun behagte oder nicht. Trotzdem, mit jedem Schritt tiefer in den düsteren, schweigenden Wald wurde sie unruhiger und am liebsten hätte sie einfach kehrt gemacht.
Es erschien ihr wie Stunden, die sie scheinbar ohne Plan und Ziel durch den Wald irrten und die verschlungenen Pfade schienen kein Ende zu nehmen. Doch plötzlich, in einem Augenblick, in dem sie am wenigsten damit rechnete, wuchs vor ihnen ein Berg in die Höhe. Er war sehr hoch und eigentlich hätte man ihn schon von weitem sehen müssen, aber Seraphin war sich sicher, dass er bis vor ein paar Minuten noch nicht da gewesen war, wo er ihnen nun den Weg versperrte. Ihr kam es vor als wären sie durch eine unsichtbare Wand getreten, hinter der er vor fremden Blicken geschützt war.
Astoi führte sie halb um den Berg herum- und war mit einem Mal verschwunden. Seraphin brachte Sujih zum Stehen. Wohin war er verschwunden? War das ein Hinterhalt? Gehetzt blickte sie sich um, aber alles war ruhig. Nur unter den Männern breitet sich Unruhe aus und einige begannen gedämpft miteinander zu flüstern. "Er hat uns einfach hier zurückgelassen." dachte Seraphin nun fast schon panisch und ihr fielen wieder seine Worte ein.
"Ohne jemanden, der den Weg kennt, werdet ihr euch hoffnungslos in diesem Wald verirren und nie wieder herausfinden."
Verdammt.
"Mein Herr wartet nicht gerne." Astois Stimme klang gereizt. Wie aus dem Nichts war er plötzlich wieder aufgetaucht und obwohl die Dunkelheit seine Gesichtskonturen fast vollständig verhüllte, vermeinte Seraphin deutlich sein ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen erkennen zu können.
Er bedeutete mit einer Handbewegung ihm zu folgen und als Seraphin sich ihm näherte, konnte sie einen Weg hinter ihm erkennen. Er war so gut hinter einem großen, eckig gezackten Felsen versteckt, dass man ihn leicht übersehen konnte, zumal es nun schon so dunkel war, dass selbst Seraphin und Legolas Schwierigkeiten hatten noch etwas sehen zu können. Nur Astoi dirigierte sein Pferd noch immer so bestimmt und sicher als wäre es taghell.
Zögerlich trotte der ganze Zug über den dunklen Pfad. Keiner wagte es zu sprechen, nur vereinzelt wurde geflucht, wenn eines der Pferde über einen Stein stolperte. Obwohl Seraphin mittlerweile kaum noch ihre Hand vor Augen erkennen konnte, war sie sich ziemlich sicher, dass der Weg den Berg hinaufführte. Aber ansonsten hatte sie jedwede Orientierung verloren.
Die Stille und die Dunkelheit wurden ihr von Minute zu Minute unerträglicher und sie fühlte sich völlig hilflos. Noch schlimmer war ihr allerdings das Gefühl keinerlei Kontrolle über die Situaion mehr zu haben. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Eine Unruhe, die irgendwo in ihr brodelte und alle ihre Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzte.
Licht. Endlich Licht.
Es leuchtet nur sehr schwach und schien in weiter Ferne zu sein, aber doch ganz deutlich sah sie einen hellen Schein vor sich, der stärker wurde je mehr sie sich ihm näherten. Seraphin blinzelte die Tränen weg, die ihr ob der veränderten Lichtverhältnisse aus den Augen traten und stellte verundert fest, das es von Fackeln stammte. Fackeln, die den Weg vor ihnen säumten.
"Jemand muss tatsächlich gewusst haben, dass wir kommen." dachte Seraphin, als sie langsam an den im Wind zitternden Lichtern vorbeiritten. Die Vorstellung, dass man sie vielleicht schon lange beobachtet hatte und es möglicherweise schon die ganze Zeit über getan hatte, behagte ihr überhaupt nicht. Auch das Licht, das die Dunkelheit nun vertrieben hatte und Wärem spendete, ließ sie sich nicht wohler fühlen, im Gegenteil. Es erschein ihr geradezu bedrohlich und die Dunkelheit von vorhin kam ihr im Vergleich dazu viel freundlicher vor. Sie fühlte sich irgendwie... nackt.
Als sie um die nächste Ecke bogen, wurden die Fackeln sogar noch zahlreicher und die ganze Umgebung war so sehr beleuchtet, dass es beinahe taghell war. Ein großes, in eine vor ihnen aufragende Felswand gehauenes Gebäude erhob sich vor ihnen. Elbische Anmut wohnte ihm inne, dennoch unterschied es sich deutlich von jedem Baustil, den Legolas jemals gesehen hatte. Etwas Trotziges und Abweisendes ging von ihm aus und obwohl viele Fackeln und Laternen es erhellten, verbreitete es keinerlei Wärme. Sie malten nur zuckende Schatten auf die verzierten Wände und auf den Elben, der auf den wenigen Stufen stand, die zum Eingang des Gebäudes führten. Er schien auf sie zu warten.
Astoi sprang behende vom Pferd und eilte auf ihn zu. Vor ihm sank er auf die Knie. "Mein Herr," sagte er, "ich bringe euch..." er zögerte kurz und schien keine passenden Worte zu finden, "...Gäste."
Der andere Elb hob erstaunt die schwarzen Augenbrauen. "Gäste?" wiederholte er beinahe ungläubig und löste seinen Blick von Astoi um die Gruppe, die sich vor ihm versammelt hatte, zu betrachten. Seine Augen waren wie die von Astoi dunkel und als er seinen Blick prüfend über die Ankömmlinge schweifen ließ, verengten sie sich für einen kurzen Moment. Doch dann entspannte sich sein Gesicht wieder, nur in dem Schwarz seiner Pupillen schienen weiter Schatten zu tanzen.
"Gäste." murmelte er noch einmal wie als wenn er sich an die Bedeutung dieses Wortes zu erinnern versuchte. "So seit Ihr also meine Gäste." Seine Stimme klang unwillig, doch er breitete seine Arme in einer Willkommens-Geste aus. Legolas konnte spüren wie Seraphin hinter ihm zurückwich. "Seit mir willkommen." sagte er. "Ich bin Galdg, Herr dieses Hauses. Es ist lange her, dass jemand den Weg zu mir gefunden hat." Ein fast spöttische Lächeln flackert kurz auf seinem Gesicht auf. "Noch länger ist es allerdings her, dass Menschen den Weg zu mir gefunden haben. Und heute finden sie zusammen den Weg zurück zu mir." Er schüttelte den Kopf und schien in Gedanken weit in der Vergangenheit zu sein.
Legolas fragte sich wie alt er wohl sein mochte.
Äußerlich war dies wie bei allen Elben schwer zu sagen. Er sah weder alt noch jung aus, aber die Weisheit, die aus den Augen von Galadriel, Celeborn oder Elrond sprach und von der langen Zeit zeugte, die sie schon in Mittelerde wandelten, war bei ihm nicht zu finden. Seine Augen waren wie zwei dunkle Spiegel, die keinen Blick hindurch ließen. Nur wenn er ganz deutlich hinsah, vermeinte er ein unruhiges, wildes Flackern in ihnen zu entdecken.
Dennoch war etwas an ihm, das Legolas sagte, dass Galdg einer der ältesten Elben war, denen er jemals begegnet war. Respektvoll neigte er den Kopf. "Ich bin Legolas aus dem Düsterwald und dies hier sind Menschen aus Gondor." stellte er sich vor und erklärte: "Wir fanden unseren Weg zu Euch, weil wir eurer Hilfe bedürfen. Das hier ist Boromir, Heerführer von Gondor, und..."
"Ich weiß, wer Ihr seit und was Ihr hier wollt." fuhr Galdg ihn unwillig an, so als hätte Legolas ihn beleidigt. "Und ich weiß auch, wer sie ist." Mit dem Kinn deutete er auf Seraphin, die versuchte sich ihm Hintergrund zu halten. Sie war bleich.
Legolas verstand nicht, aber er beachtete diese Bemerkung nicht weiter. Seine Gedanken kreisten nur darum Galdg dazu zu überreden Boromir zu helfen. Ganz instinktiv spürte er, dass jener es durchaus konnte. Nur war er sich nicht so sicher, ob er es wollte.
"Ich bitte Euch, heilt ihn von seinen Wunden." begann er, aber schon während er das sagte spürte er, dass er niemals in Worte fassen könnte, wie wichtig es ihm war, dass Boromir lebte.
"Er ist mein Freund." sagte er schließlich hilflos und beobachtete wie sich Galdgs Körper versteifte und seine Züge zu Stein erstarren schienen. Er schwieg und Legolas sah all seine Hoffnungen zusammen mit Boromirs Leben dahin schwinden.
"So sei es denn." sagte Galdg zu Legolas' Überraschung und Erleichterung schließlich und auf eine winzige Handbewegung hin huschten mehrere Elben aus dem Schatten des Gebäudes um sich Boromirs anzunehmen. Weder Legolas noch Seraphin oder gar einer der Krieger hatten sie vorher bemerkt.
Sie trugen den jungen Heerführer ins Innere von Galdgs Palast, doch bevor sie in seinem Schatten veschwanden, versuchte Tanit ihnen zu folgen, wurde aber von Astoi zurückgehalten. Der Mensch wehrte sich kurz gegen den Griff des Elben, aber auf ein Kopfschütteln von Legolas trat er widerwillig zurück.
Galdg hatte sie alle und ihre Reaktionen beobachtet ohne eine Regung zu zeigen. "Seit meine Gäste." lud er sie schließlich erneut ein und bedeutete ihnen ihm ins Dunkle des Palastes zu folgen. Legolas ließ die Anderen vor ihm eintreten und als Seraphin an ihm vorbeischlüpfte, schaute sie ihn kurz aus großen Augen an. Er konnte ihren Gesichtsausdruck zuerst nicht deuten. Erst als er den kalten Steinboden unter seinen Fußboden fühlte, verstand er ihren starren Blick.
Seraphin hatte noch nie zuvor Angst gezeigt.
