Kapitel 16

Wenn schreckliche Dinge geschehen, dann verändert sich die Bedeutung der Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ändern plötzlich ihren Fluss und gewinnen eine ganz andere Bedeutung. Das ist immer abhängig von dem, was einem widerfahren ist und wer man ist. Das Vergangene scheint umso wichtiger zu werden desto größer der Schock ist. Man fragt sich, was man hätte tun können um dieses Schreckliche zu verhindern und erinnert sich voller Wehmut daran, wie schön und gut alles war, bevor all das Schlimme geschah.

Wenn Dinge geschehen, die schrecklich sind, aber nicht so schrecklich als dass man sich ein Leben danach nicht mehr vorstellen kann, ist es vor allem die Zukunft, an die man denkt. Man sitzt die Situation aus und hofft, dass der Schock so bald wie möglich nachlässt, damit man weiterleben kann, wenn auch mit einer kleinen Narbe mehr auf der Seele.

Am schlimmsten sind aber jene Dinge, bei denen die Gegenwart sowohl Vergangenheit als auch Zukunft verdrängt. Dann wird man zum Gefangenen des Moments und was war oder was sein wird, spielt keine Rolle mehr. Alles, was bleibt, ist ein unsäglicher Schmerz, der Schmerz eines Augenblicks, der alles andere auslöscht und ewig anzudauern scheint.

Für Seraphin gab es weder Vergangenheit und Zukunft. Sie hatte alles vergessen. Wie lange sie schon in der Dunkelheit saß und still vor sich hinweinte wusste sie nicht mehr. Der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf kreiste, war der, dass sie versagt hatte, und das einzige, was sie empfinden konnte, war ein Gefühl von grenzenlosem Selbsthass. Sie hasste sich dafür, dass sie alle, die ihr wichtig waren, dem Tod überlassen hatte und dafür, dass sie hier weinend wie ein kleines Mädchen im Kerker saß und nichts dagegen tat. Ihr war die Chance gegeben worden, die Geschichte zu ändern und sie hatte sie einfach verspielt. Alles, was sie erlebt hatte, alles, wofür sie gekämpft hatte, war umsonst gewesen und am Ende hatte sie alles sogar noch schlimmer gemacht. Nicht nur ihr Volk musste nun sterben, auch die Menschen, die sie erst so kurze Zeit kannte und die sie eigentlich hätte beschützen sollen, mussten durch ihre Schuld sterben. Vielleicht waren sie sogar schon tot. Sollte sie die Letzte, von ihnen sein, die sterben sollte?

Sie musste irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte sie hoch und blickte in blendend, grelles Licht. Sie blinzelte und wartete bis sich ihre Augen an diese ungewohnte Helligkeit gewöhnten, aber noch bevor es soweit war, wurde das Licht schon wieder von der sie umgebenden Dunkelheit verschluckt. Es dauerte einen Moment bis Seraphin begriff, dass jemand die Tür geöffnet hatte und sie gleich darauf wieder geschlossen hatte. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wuchs in ihr das Gefühl nicht mehr allein zu sein. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie den Blick des Besuchers auf sich spürte und sie schämte sich für den erbärmlichen Anblick, den sie, geschlagen und in Ketten, bieten musste. Doch wenn jemand gekommen war um sie nun zu töten, so wollte sie wenigstens in größtmöglicher Würde sterben und nicht um ihr Leben betteln.

„Wenn Ihr den Auftrag habt, mich zu richten, dann tut es und hört auf mich anzustarren." sagte sie so fest wie möglich in die Dunkelheit hinein, aber der Klang ihrer Stimme vermittelte nicht die Standhaftigkeit, die sie sich eingeredet hatte. Sie zitterte vor Müdigkeit und war so leise, dass sie sie selbst nicht wiedererkannte. Die Stimme, die ihr antwortete, erkannte sie dagegen sofort.

„Ich bin nicht hier um Euch zu töten. Um ehrlich zu sein, weiß ich selber nicht, warum ich gekommen bin." Legolas zögerte kurz und Seraphin konnte spüren, dass er sie noch immer anstarrte. „Vielleicht wollte ich mich nur überzeugen, dass es wahr ist."

Wahrheit. Seraphin ließ das Wort einen Moment lang auf sich wirken, aber für sie hatte es seine Bedeutung verloren. Was war schon Wahrheit. „Dass was wahr ist?" fragte sie.

„Das, was mir Galdog erzählt hat. Über Euch und Euer Volk." Es knisterte kurz und gleich darauf flammte wieder Licht auf, diesmal jedoch von einer Kerze, die Legolas angezündet hatte. Er kniete vor ihr und betrachtete sie ungläubig. „Ich habe ihm zuerst nicht geglaubt, aber jetzt, da ich es mit eigenen Augen sehe..." Zögerlich streckte er die Hand nach ihr aus bis er ihre Flügel berührte. Beinahe erschrocken zog er sie gleich darauf aber wieder zurück und starrte sie ungläubig an, so als hätte er sich an etwas Kaltem die Finger verbrannt. Seraphin begriff, dass er ihr Flügel nicht nur fühlen, sondern auch sehen konnte. Man hatte ihr die Kette mit dem Splitter weggenommen.

Er wusste nun, wer sie war und was sie gewollt hatte. Das war die Wahrheit, nach der er gefragt hatte, die er aber schon kannte. Warum aber fragte er sie? Eine leise, unsinnige Hoffnung regte sich ihr, und obwohl sie sich des Gedankens schalt, klammerte sie sich an ihn wie eine Ertrinkende. Ängstlich blickte sie in das Gesicht des fast abwesend wirkenden Elben.

„Was wird jetzt geschehen?" fragte sie ihn leise. „Auf welcher Seite steht Ihr?"

Legolas schaute sie an als würde er aus einem Traum erwachen. „Auf welcher Seite stehe ich?" wiederholte er ihre Frage, so als hätte er sie sich selber gestellt. „Galdog fragte mich dasselbe. Zuerst wusste auch ich nicht, was ich ihm antworten sollte. Dann aber sagte ich ihm, dass ich auf der Seite meines Volkes stehe."

Die Worte trafen Seraphin. Auch das letzte bisschen Hoffnung zerschellte an ihnen, aber dennoch konnte sie keine Wut oder gar Hass empfinden, so wie sie es früher einmal hatte. Allein eine unsägliche Trauer breitete sich in ihr aus. Es war vorbei. Endgültig.

Aber Legolas hatte noch nicht zu Ende gesprochen. „Das gehört Euch, nicht wahr?" Seraphin zuckte unwillkürlich zusammen als Metall aufblitzte, doch dann erkannte sie, was Legolas hervorgezogen hatte. Ihr Schwert!

Legolas ließ seine Finger über die Schriftzeichen gleiten. „Eure Schrift ist der unseren sehr ähnlich. Es hat mich zwar einige Mühe gekostet, aber schließlich war ich in der Lage zu verstehen, was dieses Waffe mir zu erzählen hat. Es ist dieselbe Geschichte, die Galdog mir erzählt hatte. Nur diesmal von euch erzählt. Eine Geschichte, zwei Sichtweisen. Das macht es nicht einfacher. Ich verstehe jetzt, was damals geschah und warum jede Seite so handeln musste, wie sie es getan hat, aber welche Seite auch die Meine ist, weiß ich immer noch nicht." Er wurde wieder ernst. „Eines aber weiß ich jetzt. Die Seiten von damals gibt es nicht mehr. Ihr seid sehr lange fort gewesen. Die Welt hat sich verändert. Die Elben, die Menschen... Habt Ihr es nicht bemerkt?"

Seraphin wusste im ersten Moment nicht, was er meinte. Doch dann verstand sie. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als ihr klar wurde, dass alles noch viel komplizierter war als es den Anschein hatte. Sie konnte nicht mehr einfach für die Menschen und gegen die Elben kämpfen. Dennoch, es ging nicht mehr alleine darum. „Es ist nicht wegen der Menschen." sagte sie fest und Legolas überraschter Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass er damit nicht gerechnet hatte. „Es ist wegen uns."

Abwartende Stille breitete sich zwischen ihnen aus, als Seraphin nach den passenden Worten suchte. Sie hatte das Gefühl, dass alles viel zu groß war als dass sie es in Worte kleiden konnte. „Wir... die anderen..." sie stockte und versuchte verzweifelt den Kloß herunterzuschlucken, der ihre Kehle abschnürte.

„Wir sterben." sagte sie schließlich hilflos, doch danach war es plötzlich ganz leicht. „Mein Volk stirbt." fuhr sie fort. „Es stirbt an einer Krankheit. An einer Seuche. Wisst Ihr, was ich meine?"

Legolas nickte langsam. „Ihr seid sterblich." stellte er sachlich fest.

„Ja." bestätigte Seraphin. „Sterblich wie die Menschen. Und genauso verletzlich."

Der Elb schüttelte den Kopf. „So verletzlich sind die Menschen gar nicht." widersprach er. „Sie sind stärker als Ihr vielleicht denkt."

Trotz allem musste Seraphin leise lachen als sie an die völlig betrunkenen Männer an Galdogs Tafel dachte. „Ja, ich weiß." sagte sie. „Ich muss zugeben, ich war sehr beeindruckt als ich die Mauern von Minas Tirith das erste Mal sah. Die Menschen haben einen starken Willen."

„Ja." bestätigte Legolas. „So wie Ihr." Seraphin sah den Elben überrascht an. „Unsterblichkeit ist kein Zeichen von Macht und Stärke. Es ist ein Geschenk, ein Zustand, doch es kann nichts am Lauf der Zeit und der Geschichte ändern. Unsere Zeit ist vorbei, die Zukunft gehört den Menschen."

Seraphin konnte kaum glauben, was sie aus dem Mund eines Elben hörte. „Aber was ist mit uns? Wo wird unser Platz sein?" fragte sie.

„Das müsst ihr selber entscheiden." meinte Legolas. „Ich habe mich bereits entschieden." Seraphin schluckte schwer. „Und wo ist euer Platz?"

Es dauerte lange bis Legolas antwortete. „Bei meinem Gewissen." antwortete er endlich. Mit diesen Worten zog er einen Schlüssel hervor und in einer einzigen, schnellen Handbewegung war Seraphin frei. Beinahe entsetzt schaute sie ihn an. „Warum tut Ihr das?" fragte sie heiser. „Ihr habt keinen Grund..."

„Der Grund sind all die Menschen, die ich lieb gewonnen und zum Freund gewonnen habe." unterbrach Legolas sie. „Das ist mein Grund. Ich bin ihnen gegenüber so loyal wie ich es meinem Volk bin. Deshalb fragt nicht. Es ist vielleicht nur dieses eine Mal, dass wir ein gemeinsames Ziel haben und dass ich Euch helfe. Entscheiden die anderen Elben, dass wir nicht mehr auf derselben Seite stehen, warum auch immer, so werde ich nicht fragen und wir werden uns vielleicht als Feinde wiedersehen, was ich nicht hoffe. Ich wünsche nicht... versprecht..." Plötzlich geriet Legolas ins Stocken und die nächsten Worte fielen ihm sichtlich schwer. „Versprecht mir, dass ihr nicht nach Mittelerde zurückkehren werdet, auch wenn Ihr Euer Volk retten könnt. Versprecht es!" bat er beinahe flehentlich, doch Seraphin schüttelte den Kopf, auch wenn ihr der Anblick des regelrecht in sich zusammenfallenden Elben seltsam weh tat.

„Das kann ich nicht." sagte sie. „Es liegt nicht an mir diese Entscheidung zu fällen. So wie Ihr beuge auch ich mich dem Willen meines Volkes und sollte es entscheiden, dass es nach Mittelerde gehört, so werde ich notfalls um seine Rückkehr kämpfen."

Legolas schloss für einen Moment die Augen. „Dann soll es so sein." sagte er schließlich und seine Stimme klang schwer. „Aber lasst mich Euch versichern, dass ich nicht gerne Euer Gegner sein werde."

Seraphin lächelte. „Auch ich kann Euch versichern, dass Ihr keine Freude an mir als Gegnerin haben werdet. So wenig wie ich an Euch."

Sie blickten sich beide einen Moment stumm in die Augen, dann griff Legolas nach ihrer Hand und drückte sie kurz. „Es gab einmal ein Bündnis zwischen unseren Völkern. Lasst es uns für dieses eine Mal erneuern. Kommt."