Kapitel 20

Seraphin presste sich an die kalte Steinwand und bemühte sich leise und flach zu atmen. Sie wusste, dass es Unsinn war, aber sie hatte das Gefühl, dass die Wände hier Ohren hatten und jedes laute Geräusch wahrnahmen um es dann zu dem Herren des Hauses weiterzutragen. Legolas schien nicht ganz so ängstlich zu sein wie sie, aber auch sein Blick sprangen hastig von einem Fleck zum anderen und er achtete darauf im Schatten zu bleiben.

Doch niemand war zu sehen. Es war grabesstill. „Wo werden sie gefangen gehalten?" fragte Seraphin flüsternd.

„Das weiß ich auch nicht genau." antwortete Legolas, während er vorsichtig um eine Ecke spähte. „Doch sie müssen hier irgendwo in der Nähe sein. Die Keller dort hinten habe ich schon untersucht, als ich nach Euch suchte. Sie sind leer." Sein Schatten zuckte kurz an der gegenüberliegenden Wand auf, als er sich um die Ecke drückte und Seraphin schließlich mit einer Handbewegung bedeutete ihm zu folgen. Seraphins Beine zitterten und sie musste sich zu jedem Schritt zwingen. Sie verspürte eine Angst, die durch ihren ganzen Körper zu pulsieren schien.

Legolas wirkte dagegen vollkommenen ruhig. „Hier entlang." flüsterte er. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich abrupt um. Serpahin hörte schnelle Schritte, drehte den Kopf und sah gerade noch eine Gestalt im Dunkel von einem der vielen Gänge verschwinden. „Jetzt wissen Sie, dass wir hier sind." fluchte Legolas und packte Seraphin am Arm. Sie hinter sich herziehend fing er an zu laufen. Es hatte nun keinen Sinn mehr leise zu sein und sich zu verstecken. Das einzige, was ihnen nun übrig blieb, war so schnell wie möglich ihre Kameraden zu finden und zu verschwinden.

Sie rannten die Gänge hinunter, an vielen schweren Türen vorbei, die alle gleich aussahen, so dass Seraphin bald jede Orientierung verloren hatte. Doch einem eigenartigen, drängenden Gefühl folgend blieb sie plötzlich stehen. „Was ist mit dieser Tür?" fragte sie und deutete auf eine weitere, hölzerne Tür, die sich nicht sonderlich von den anderen Kerkertüren unterschied, an denen sie bereits vorbei gelaufen waren. Legolas musterte sie kritisch. „Ich weiß nicht..." sagte er zögernd, aber viel Zeit zum Nachdenken blieb ihnen nicht. Rasch zog er den Schlüssel, mit dem er bereits Seraphin befreit hatte, hervor und steckte ihn ins Schloss. Es klickte einmal metallisch, dann konnte Legolas den Schlüssel mühelos umdrehen.

Seraphin schüttelte ungläubig den Kopf. Ein einziger Schlüssel für alle Kerker... Entweder war das schlichte Dummheit oder.. .

„Wo habt Ihr den Schlüssel her?" fragte sie.

„Von Galdog." antwortete Legolas kurz und noch bevor Seraphin ihn daran hindern konnte, drückte er die Tür beiseite. Dunkelheit und muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Legolas nahm eine der Fackeln neben der Tür und leuchtete vorsichtig in den Raum hinein. Das erste was Seraphin erblickte, war eine Ratte, die quiekend aus dem Lichtpegel huschte, dann fiel der Fackelschein auf einen Stiefel und schließlich auf das zugehörige Beinpaar.

„Legolas!" hustete eine Stimme krächzend. „Bist du es?" Seraphin erkannte die Stimme. Jede Vorsicht vergessend riss sie Legolas den Schlüssel und die Fackel aus den Händen und stürmte in den Kerker. Sie waren alle da. „Seit Ihr unversehrt?" fragte sie die Männer, während sie sich eilig neben den Menschen niederkniete, die zusammengesunken und, wie sie in Ketten, auf den Boden kauerten und sie ungläubig anstarrten. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen, dass ihr Flügel nun für jeden gut sichtbar waren.

Seraphin achtete nicht weiter darauf und wartete auch keine Antwort mehr ab. Sie machte sich daran, die Ketten zu lösen. Es verwunderte sie schon nicht mehr, dass der Schlüssel auch diesmal passte. Noch ehe sie selber überhaupt bemerkt hatte, was sie tat, waren die Männer frei. Legolas zog sie auf die Beine. Keiner von ihnen schien verletzt zu sein, doch ihre Waffen trugen sie nicht mehr. So waren nur er und Seraphin bewaffnet. Sie mussten so schnell wie möglich verschwinden. „Kommt!" rief er, was keiner zweiten Aufforderung bedurfte. Einer nach dem anderen stolperte aus dem Gefängnis in den erleuchteten Gang. Nur Seraphin rührte sich nicht.

Für einen Augenblick stand sie wie festgewachsen und starrte ins Leere. „Ich werde nicht mitkommen" sagte sie schließlich. „Ich muss noch etwas holen, was mir gehört."

„Aber Ihr..." wollte Legolas widersprechen, doch er kam nicht dazu.

„Ich muss noch etwas holen, was mir gehört." wiederholte Seraphin so bestimmt, dass Legolas begriff, das es sinnlos war, zu versuchen sie von ihrem Vorhaben abzubringen. „Werdet Ihr den Weg finden?" fragte er deshalb nur und Seraphin nickte. „Er ruft nach mir." Legolas verstand nicht, was sie meinte, aber es blieb ihnen nicht viel Zeit für Fragen.

„Wenn ihr mich nicht am Waldrand trefft, dann wartet nicht auf mich und kehrt auch nicht um." sagte sie nur noch, dann huschte sie auch schon davon. Legolas gönnte sich einen kurzen Moment um ihr hinterher zu schauen. Er wusste, dass es vielleicht das letzte Mal gewesen war, dass er sie gesehen hatte.

Es war zu einfach gewesen. Diese Erkenntnis war ihm nicht schlagartig gekommen, vielmehr hatte sich die Zweifel in ihm angehäuft bis es ihm allmählich klar wurde. Es war ein Leichtes gewesen, die Waffenkammer zu finden und dort fanden sie nicht nur Waffen, nein viel besser, sie fanden ihre Waffen. Das hatte noch ein Zufall sein können. Sie fanden auch die Ställe, wo, unbewacht, ihre Pferde auf sie warteten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie auch noch gesattelt gewesen wären. Sie ritten durch einen hell erleuchteten Hof, doch niemand hielt sie auf. Als sie den Pfad, auf dem sie schon zur Burg gelangt waren, hinunterritten, waren die Wachen, die zuvor den Weg gesäumt hatten, verschwunden. Hätte Legolas es nicht besser gewusste, dann hätte man meinen können, dass alles, was ihnen wiederfahren war, niemals geschehen war und dass sie einem geheimnisvollen Elben namens Galdog nie begegnet waren.

Doch Boromir war nicht mehr bei Ihnen. Und auch Seraphin kam nicht. Legolas hatte gehofft, dass sie schon auf sie warten würde, wenn sie den Waldrand erreichten, doch sie war nicht da. Je länger er, entgegen Seraphins Anweisung, auf sie wartete, desto mehr begriff er, dass sie auch nicht mehr kommen würde. Vielleicht war sie schon tot oder wieder eine Gefangene. Sie würde nicht mehr kommen. Bei dem Gedanken zog sich etwas in ihm unwillkürlich zusammen und er musste sich zusammenreißen um nicht vor Wut aufzuschreien. Warum war sie nur so dumm und stur gewesen und war umgekehrt. Warum nur? Was war es Wichtiges gewesen, dass sie sich selbst so leichtfertig aufs Spiel setzte?

Leise fluchte er und ballte seine Hände zu Fäusten. Es hatte keinen Sinn mehr noch länger zu warten, mehr noch, es war sogar gefährlich. Wer wusste, ob Galdog es sich nicht noch anders überlegen würde und doch noch die Verfolgung aufnehmen würde. Legolas verstand sowieso nicht, wieso er sie plötzlich so einfach hatte ziehen lassen. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Er würde mit einem alten Freund und einer neugewonnen Freundin weniger nach Minas Tirith zurückkehren. In einer einzigen schnellen Bewegung riss er sein Pferd herum und wollte das Zeichen zum Aufbruch geben, als einer der Männer auf die Waldgrenze deutete: „Seht doch!"

Zwei Schatten lösten sich aus dem Dunkel und bewegten sich langsam auf sie zu. Zwei Reiter, von denen einer leichte Mühe zu haben schien sich aufrecht im Sattel seines kleinen Pferdes zu halten. Legolas wusste, wer da auf sie zu ritt, noch bevor das Mondlicht die Gesichter der Beiden enthüllte. Unsäglich Erleichterung durchströmte ihn und er trieb Argos zu einem leichten Trab an um auf sie zu zureiten.

„Seraphin! Boromir!" Legolas hatte nicht mehr damit gerechnet, dass Seraphin gesund und wohlbehalten doch noch zu ihnen stoßen würde, aber noch weniger hatte er damit gerechnet, dass Seraphin und Boromir sie auf dem Rückritt begleiten würden. Doch zu der unendlichen Erleichterung gesellte sich fast augenblicklich Sorge. „Was ist passiert?"

Boromir, dem äußerlich nicht mehr anzusehen war, dass er vor wenigen Stunden noch mit dem Tod gekämpft hatte, knetete nervös die Zügel in seinen Händen. „Ich weiß es nicht." sagte er und es klang unwillig, so als hätte er dieselbe Frage auch schon gestellt und keine Antwort bekommen. Legolas schaute zu Seraphin um ihr zu bedeuten, dass die Frage nun ihr galt. Sie war bleich und wirkte unendlich müde. Als sie sprach, war ihre Stimme leise und sie schien Mühe zu haben zu sprechen. „Galdog..." begann sie, stockte dann aber als müsste sie überlegen, was und ob sie überhaupt erzählen sollte, was geschehen war. „Galdog hat uns gehen lassen. Er... er hat gesagt, dass es keinen Sinn hätte Flöhe einzeln nacheinander zu zerquetschen um sich von der Plage zu befreien, sondern dass man alle auf einmal töten müsste."

Legolas brauchte eine Sekunde um zu begreifen, was damit gemeint war. Er schluckte. „Er will Minas Tirith angreifen." stellte er fest. Seraphin nickte.

„Wann?"

„Wenn auch wir dort sein werden, so dass er uns ebenfalls vernichten kann."

Das hatte Legolas befürchtet. Er hatte schon geahnt, was es gewesen war, dass Seraphin dazu veranlasst hatte noch einmal umzukehren. „Ihr habt gefunden, was ihr gesucht habt."

Seraphin gab ihm keine Antwort, sondern griff nur wortlos in ihre Satteltasche. Als sie ihre Hand öffnete, funkelte darin ein faustgroßer, blauer Stein. „Der Kreis schließt sich." sagte sie und ließ Lebalin wieder in ihrer Tasche verschwinden. Legolas schaute ihr in die Augen. „Der Kreis schließt sich." wiederholte er. „Nur wer weiß, ob dies ein Anfang oder ein Ende ist."

Seraphin hielt seinem Blick stand. „Das wird sich zeigen." sagte sie und wirkte auf einmal nicht mehr so müde. „Doch das ist gar nicht wichtig. Es ist wichtig, dass zusammenkommt, was zusammengehört und dass geschieht, was geschehen soll. Ihr wisst, auf welcher Seite wir stehen werden."

Legolas nickte. „Nur ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es für uns überhaupt eine Seite gibt." Sie schwiegen beide und schauten sich an. Sie wussten, dass sie das Gleiche dachten.

„Wovon redet ihr die ganze Zeit überhaupt?" mischte sich nun Boromir in das Gespräch. Legolas lächelte, froh darüber seinen Freund lebendig und gesund vor sich zu sehen. „Ich werde dir alles erklären." versprach er. „Auf unserem Weg zurück nach Minas Tirith."