Es war warm – nicht heiß, aber warm in einer Straße namens Little Whinning, irgendwo Nahe Surrey. Der Abend war bereits eingetreten, doch außer der leichten Wärme, die sich durch die Straße zog, hatte sich auch ein leichter Schleier um die Häuser gelegt. Nebel – Nebel, der schon seit einigen Tagen die Einwohner des Ligusterwegs laut hat aufstöhnen lassen, sobald sie eben diesen erblickten. Nebel, der jeden Abend und jeden Morgen des Sommers kalt und trostlos wirken lies. Fast hatten sich die Menschen an den Nebel gewöhnt – war es nicht genauso schon letztes Jahr gewesen, und waren sie der Meinung, dass alles was im Fernsehen gesagt wurde, schließlich auch stimmen musste. Auch wenn sie es sich nur einbildeten, um eine plausible Erklärung für die merkwürdigen Umstände zu haben. Doch eine Person im Ligusterweg wusste den richtigen Grund für diesen dichten, grauen Nebel: ein, nunmehr, junger Mann von 17 Jahren namens Harry Potter, wohnhaft im Ligusterweg Nummer 4, stand mitten in seinem Zimmer, und fuhr sich durch sein nicht zu bändigendes, schwarzes Haar.
Er wusste, dass dieser Nebel von den freilaufenden Dementoren stammte, doch es kümmerte ihn nicht sonderlich. Es war nicht von Bedeutung, jedenfalls nicht für ihn. Es gab viel wichtigere Dinge, an die er dachte, und um die er sich Sorgen machte. Da war der Tod seines Mentors Dumbledore - Dumbledore, welcher ihn zu seiner zweitgrößten Sorge brachte - den Seelensplittern von Voldemort, die in irgendwelchen Gegenständen steckten, die er vernichten musste, um Voldemort besiegen zu können. Drei waren zerstört. Über drei weitere wusste er Bescheid, hatte aber bei zwei von ihnen aber keinen Schimmer, wo er die auftreiben sollte. Der sechste Horcrux war warscheinlich Voldemort's Schlange, oder etwas, von dessen Existenz er gar nicht wusste. Der letzte Teil war Voldemort selbst. Dann waren da seine besten Freunde - Ron und Hermine, die ihm in den letzten zwei Jahren immer fremder wurden. Und Ginny, mit der er im letzten Jahr zusammenkam, um kurze Zeit später Schluß zu machen. Aus Angst, Voldemort würde von ihr erfahren und sie nutzen, um Harry zu erpressen. Er wusste, dass er seine Freunde brauchte, um Voldemort zu besiegen, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, dass wieder jemand für ihn sterben musste. Verdammte Zwickmühle.
Zum hundertsten Mal ließ er seinen Blick durch sein Zimmer schweifen, ob er auch wirklich alles eingepackt hatte. Vor einer knappen Stunde wurde er 17. Die typische Geburtstagspost von Ron, Hermine und allen anderen war noch nicht eingetroffen, und Harry fragte sich, ob sie es jemals tun würde. Ihm konnte es egal sein, morgen würde ihn jemand abholen und zum Fuchsbau bringen. Ihn für immer aus dem Ligusterweg holen. Für immer weg von seinem Onkel, seiner Tante und seinem Cousin, für die er nur Abschaum war, der sich um die Hausarbeit kümmerte. Bis zu seinem elftem Geburtstag hatten sie ihm vorenthalten, dass er ein Zauberer war, dass seine Eltern umgebracht wurden und nicht bei einem Autounfall ums Leben kamen... Und sie hätten es ihm sein Leben lang vorenthalten, wenn Dumbledore persönlich sich nicht drum gekümmert hätte, dass er es erfährt und Hagrid damals losschickte, um Harry abzuholen. In Zeiten wie diesen wünschte er sich jedoch, Hagrid wäre nie gekommen und er hätte nie von der Zaubererwelt erfahren.
Eine weitere halbe Stunde saß er auf seinem Bett, starrte die Wand an und ging seinen Gedanken nach. An schlafen war nicht zu denken, er war mehr als wach. Um wenigstens irgendwas zu tun, schlich er sich runter in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er schaltete die Arbeitsplattenbeleuchtung ein, lehnte sich an den Kühlschrank und sah aus dem Fenster. Das Fenster, dass ihm so vertraut war wie die ganze peinlich saubere Küche und überhaupt das ganze Haus. Jetzt wurde ihm langsam bewusst, dass er den Ligusterweg wohl doch auf eine gewisse Art vermissen würde. Er nippte an seinem Glas und hielt plötzlich inne... Da waren Schritte auf der Treppe. Er griff reflexartig zu seinem Zauberstab, doch es war nur seine Tante Petunia, die Sekunden später in der Küche stand. 'Fuck, jetzt gibt's Ärger wegen diesem dämlichen Glas Wasser,' dachte er und wartete die Explosion seiner Tante ab. Doch diese sah ihn nur verschlafen an. Dann öffnete sie den Mund, und dieser bildete die Worte, die er jetzt am wenigsten erwartet hätte. "Alles Gute zum Geburtstag, Harry...," sagte sie leise, aber verständlich.
Ein Schlag ins Gesicht hätte ihn nicht weniger aus der Bahn geworfen. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und nickte. "Danke," murmelte er und sah wieder aus dem Fenster. Seine Tante sprach weiter. "Du bist in deiner Welt jetzt volljährig... Du wirst bald ausziehen, oder?" Harry wandte den Blick weiterhin von ihr ab. "Morgen, um genau zu sein," antwortete er. Dann sah er sie an. "Ist die Vorfreude etwa der Grund, dass du dich nach Jahren mal wieder an meinen Geburtstag erinnerst? Danke, ich kann auf deine Glückwünsche verzichten. Ich hab jahrelang gelernt, ohne eure Aufmerksamkeit auszukommen, und jetzt kann ichs dabei auch lassen. Also keine Angst, morgen werde ich abgeholt und wir sehen uns nie wieder..." Er klang überzeugend gleichgültig, und genau das wollte er auch. Sollte seine liebe Tante jetzt sentimental werden? "Was ist mit diesem Lord Volt... Volda... Voldemort? Er ist immernoch hinter dir her, oder?" Scheinbar waren seine Worte an ihr abgeprallt. Harry schnaubte. "Er war hinter mir her, aber das Blatt hat sich gewendet... Jetzt bin ich hinter ihm her." Er konnte sich jetzt tausend angenehmere Dinge vorstellen, als weiter darauf einzugehen und seiner Tante von den Horcruxes zu erzählen. Ihr von Cedric, Sirius und Dumbledore zu erzählen. Doch seine Zunge arbeitete weiter, und das nächste, was er aussprach, schien nicht von ihm, sondern von jemandem, der sich ihm bemächtigt hatte zu kommen. "Warum hasst ihr mich, Petunia?" Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen. Seine Tante schien überrumpelt und starrte ihn, wie es ihm vorkam, minutenlang an, bevor sie langsam antwortete. "Wir hassen... Ich hasse dich nicht, Harry. Aber hab ich eine Wahl? Ich habe den scheinbar anständigsten Mann der Welt geheiratet und teile mit ihm das anständigste Leben der Welt... Wer könnte mir das bieten, was er mir bieten kann? Ich musste mich fügen und dich genauso gleichgültig behandeln, wie er es tat..." Harry schnitt ihr das Wort ab. "Soso. Und damit dein anständiger Mann auch nicht das Weite sucht, bezeichnest du meine Mutter... Deine Schwester, die tot ist... Ermordert wurde, jahrelang als Abschaum, Missgeburt und abartig? Kann der anständige Vernon mit seinem Geld auch dein Gewissen von dir fernhalten?" Harry spürte sein Blut mit Lichtgeschwindigkeit durch seine Adern rauschen. Trotzdem hielt er seine Stimme ruhig, um niemanden zu wecken. Denn dieses Gespräch war auch durchaus interessant.
Wieder starrte Petunia ihn nur an, als würde er ihr ein Messer an die Kehle halten. Dann tat sie etwas, dass ihrem ganzen Verhalten die Krone aufsetzte - Sie hielt sich die Hand vor die Augen, und weinte. Harry konnte nur mit Mühe verstehen, was sie sich als nächstes zusammenstotterte. "N-Nein, kann er... nicht... Ich bin auch nur ein M-Mensch... Ich habe so oft um sie getrauert... Mir so oft gewünscht, ich könnte dich ohne Konsequenzen zu tragen wie ein eigenes Kind aufziehen... Aber weinen musste ich heimlich, und Vernon hat mir verboten, dich auch nur annähernd liebevoll zu behandeln... Weil er einer dieser gottverdammten Schw... Warte... Squibs ist!" PENG! Harry's Gedanken rasten wie ein verrückt gewordenes Karussel. Tante Petunia trauerte um seine Mutter und wünschte sich nichts mehr als ihm Mutterliebe entgegenzubringen, und Onkel Vernon war ein Squib. Das konnte alles nicht sein... Gleich würde er wach werden, zum Frühstück runtergehen, und die Dursleys würde alle drei am Tisch sitzen und weder ihn, noch die Tatsache, dass er Geburtstag hat, beachten. Plötzlich kam ihm ein Erinnerungsfetzen hoch, der Jahre alt war, doch jetzt schien es, als wäre es gestern gewesen... Als Hagrid ihn abholte und die Dursleys anschrie, stammelte Vernon etwas, dass wie "Mimblewimble" klang... Er hatte schon Minuten später nicht mehr dran gedacht, und hatte auch nicht dran gedacht, als er lernte, dass "Mimblewimble" ein Zauber ist, der kleinere Gegner von ihm fernhält... Doch jetzt schoß es ihm wie eine Gewehrkugel wieder in den Kopf und ergab Sinn. Zudem konnte Vernon nur ein Squib sein, wenn er glaubte, mit "Mimblewimble" Hagrid von sich fernhalten zu können, wenn er gar nicht zaubern konnte...
Es schien unmöglich, doch gleichzeitig erschreckend logisch. Plötzlich schien vieles einen Sinn zu haben.
„Das war also der Grund, weshalb ihr beide mich immer so schrecklich behandelt habt? Weil Vernon neidisch auf mich war, weil ich zaubern konnte, und er nicht?" fragte Harry. Mit jedem Wort, das ihm über die Lippen kam, war seine Stimme wütender geworden, jedoch immer noch darauf bedacht, nicht zu laut zu werden. Seine Tante blickte auf. Tränen liefen immer noch unaufhaltsam ihr Gesicht hinunter, doch sie sah Harry mit so einem Ernst in den Augen an, dass es einem fast Angst machen könnte.
„Ja..."
Stille.
Stille, in der Harrys Gedanken verrückt spielten, und sämtliche Ereignisse, an die sich Harry erinnern konnte, und die auch nur in entferntester Weise mit Magie oder Vernons Gewaltausbrüchen zu tun hatten, spielten sich noch einmal vor seinem innersten Auge ab.
Nach einer Ewigkeit, so wie es Harry schien, hatten sich seine Gedanken wieder gesammelt, und er sah seine Tante, die ihm nun merkwürdiger Weise ganz anders erschien, gerade heraus an.
„Ich hab Onkel Vernon schon immer verabscheut" fing Harry an, „aber jetzt, da ich weiß, wie alles wirklich ist, finde ich ihn noch abstoßender."
Scheinbar geschockt, sah Petunia ihn mit großen Augen an.
„Wie kann man nur so neidisch sein, dass es einem sogar egal ist, was das für Resultate für andere Menschen haben könnte? Nur weil ich zaubern konnte, und Vernon es nicht ertragen konnte, jemanden in seinem Haus zu haben, der sich mehr verteidigen kann als er selbst, musste er mich Jahre lang in den Wahnsinn treiben, und so unmöglich zu mir sein...wie kann man nur so sein..."
Nach ein Paar Sekunden, in denen seine Tante scheinbar versuchte, das von ihm gesagte zu verarbeiten, kam sie mit kleinen Schritten zögerlich auf Harry zu, und dann tat sie etwas, was ihm die Luft kurz zu dick zum atmen machte.
Seine Tante umarmte ihn.
„Ich weiß es nicht. Aber was hätte i-ich schwächliche F-Frau schon groß gegen ihn ausrichten können? Ich wünschte, ich hä-hätte etwas gemacht, doch i-ich traute mich nicht... Es tut Leid, es tut mir so L-Leid Harry!" brachte sie unter Tränen noch stotternd hervor. Zwei Minuten lang stand Harry einfach nur da, von seiner solange Jahre lang verhassten Tante umarmend.
Doch dann, er hätte selber nie damit gerechnet, tat er es ihr gleich, und tröstete sie. Plötzlich spürte Harry etwas, was er noch nie gespürt hatte, Sirius ausgenommen: Familienliebe.
Noch eine Weile standen sie so voreinander, bis sich Petunia einigermaßen wieder beruhigt hatte.
Harrys Blick wanderte zur Küchenuhr. Es war bereits Viertel nach Zwei Uhr Morgens.
Vorsichtig löste sich Harry von Tante Petunia, die sich kurz räusperte.
„Ich... denke, wir sollten uns wieder schlafen legen, bevor Onkel Vernon noch bemerkt, dass ich nicht mehr neben ihm liege..." sagte sie.
Harry nickte kurz, und folgte ihr danach nach oben, bedacht darauf, möglichst wenig Geräusche zu machen.
