17.Kapitel: Verrat und Neuzugang
Seit einer Woche treffen die Todsünden und die Tugenden immer wieder aufeinander. Bis jetzt ist es noch zu keinen wirklich ernsthaften Auseinandersetzungen gekommen. Alle Kämpfe haben bis jetzt in einer ländlichen Gegend statt gefunden. Aber langsam begann sich alles zuzuspitzen.
Alles bewegte sich langsam auf dem letzten Kampf zu. Nur noch wenige Tage und es sollte Neumond sein.
An diesem Tag würde sich alles entscheiden.
Doch auch jetzt wurden schon die ersten Schritte dahin getan.
In dieser Nacht kam es zu einem Kampf zwischen Justitia und Fortitudo auf der einen und Ira und Gula auf der anderen Seite.
Justitia nutze den Regen so gut sie konnte um die Beiden zu schwächen und zu stoppen. Doch die Beiden hielten gut dagegen. Von Ira flogen ständig Bälle aus Blitzen auf Justitia zu und sie sah sich gezwungen ihnen auszuweichen und ihre Taktik zu ändern. Die Blitze, die sie verfehlten flogen auf den Boden zu und zerstörten alles, was in ihre Nähe kam.
Scharfe Gesteinsbrocken flogen auf Fortitudo zu, welche er mit einer Wand aus Wasser abblockte und daraufhin scharfe Wasserscheiben schuf, welche zum Dank auf Gula zuflogen.
Das Kampfgebiet verlagerte sich immer weiter Richtung Berge und Justitia sah keinen anderen Ausweg mehr, als in die Höhlen zu fliehen, da sie erschöpft und verwundet war. Dort versuchte sie sich zu verstecken.
Als sie dachte, dass sie sicher war, sank sie schwer Atmend zu Boden und versuchte bei Bewusstsein zu bleiben. Er hatte sie doch härter getroffen, als sie gedacht hatte.
Ira folgte ihr. Aber in den wirren Gängen verlor er sie bald aus den Augen. Dank der Leuchtkraft seiner Blitze konnte er zwar einiges sehen, doch half ihm das nicht weiter, während er sie suchte. Doch so genau wusste er nicht, warum er sie eigentlich töten wollte. Gegen sie hegte er keinen Groll.
Er begann sowieso bereits an sich zu zweifeln. Seit zwei Tagen sah er ständig seinen Bruder. Nicht nur in seinen Träumen oder Erinnerungen, sondern auch in der Realität. Aber sein Bruder war tot. Er musste es ja wissen, denn er hatte ihn auf seinen Wunsch hin getötet.
Ira kam in einen großen Raum, aber er wusste, dass sich Justitia hier niemals aufhalten würde. Das wäre zu leicht.
Deswegen streifte sein Blick nur kurz durch den Raum. Er bemerkte die Person zuerst nicht, doch dann sah er verdutzt wieder in den Raum und sah ihn. Da stand er, direkt vor ihm, die Person, die dort nicht stehen konnte: Sein Bruder!
„Was...äh?" fragte er verdutzt.
„Ich sehe, dass du im Gegenteil zu den anderen Glück gehabt hast."
„Bruder? Aber, wie kann das sein?"
„Ja, ich bin's. Aber ich bin mehr ein Schatten, als dass ich real bin."
„Was meinst du mit 'Glück gehabt'?"
„Nun, deine Persönlichkeit ist nicht so wie bei den Anderen vollkommen verändert worden. Das merkt man auch daran, dass du deinen Feinden nicht wirklich feindlich gesonnen bist und dass du dich an mich erinnern kannst. Und zwar an alles."
Fred ging langsam auf seinen Bruder zu.
„Aber wie kannst du jetzt hier sein? Ich habe dich doch getötet."
„Man könnte mich als Geist bezeichnen."
Plötzlich wackelte der Berg und ein lauter Knall war zu hören. Gesteinsbrocken fielen von der Decke und Ira fiel zu Boden. Einer dieser Brocken fiel direkt durch Fred hindurch. Dieser sagte lachend dazu: „Gula hat es wohl ein bisschen übertrieben." Er lachte.
Ira richtete sich schnell wieder auf.
„Warum bist du hier? Was willst du von mir?"
„Kannst du dir das nicht denken?"
„Nein. Sollte ich etwa?"
„Hahaha. Hast du etwa schon vergessen, was ich als letztes zu dir gesagt habe?"
„Die Hoffnung stirbt zuletzt." flüsterte er.
„Genau. Und ich bin Spes, die Tugend der Hoffnung."
„Was?" schrie Ira überrascht und erschrocken zugleich.
„Und wir sind Zwillinge. Und als solche solltest du eigentlich wissen, was jetzt kommen muss."
„Das meintest du also damit. Ira wird also nicht mehr sein."
„Ja, Bruder. Nein, ICH."
Justitia saß immer noch reglos am Boden. Sie hatte sich weitgehend erholt, fühlte sich aber noch schwach. Sie schloss für kurze Zeit die Augen.
Als sie sie öffnete stand Gula vor ihr.
„So hilflos und so allein." sagte dieser spöttisch. Ein hämisches Grinsen lag auf seinen Lippen.
Justitia wollte sich wehren, aber sie hatte keine Kraft. Nicht einmal für eine kleine Schneeflocke reichte ihre Kraft mehr.
So sah sie ihm mutig und wütend ins Gesicht. Sein Grinsen wurde nur noch breiter.
„Weglaufen bringt nichts." Bei diesen Worten hob er den Arm und schon begann das Gestein sich zu verändern. Doch bevor er angreifen konnte wurde er von einem Windstoß gefangen genommen.
„WAS?" fragte er entgeistert. Er versuchte sich zu befreien, doch vergebens. Es war zu spät. Der Wind hatte ihn gefangen genommen.
Der Wind wehte um seinen Körper und riss tiefe Wunden. Diese waren nicht tödlich, aber schmerzhaft. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. Aus den wunden floss Blut in strömen. Es tropfte zu Boden und es dauerte nicht lange, da stand er bereits in einer Blutlache.
Justitia wurde teilweise mit dem Blut bespritzt und sie versuchte sich so weit wie nur Möglich von Gula zu entfernen.
Plötzlich nahm die Schnittstärke des Windes zu und die Wunden wurden tiefer. Sein Gesicht wurde vollkommen zerschnitten und schon bald fiel er Tod zu Boden.
Dann ging der Wind auf sie über. Sie machte sich so klein wie möglich und schrie: „NEIN!"
Der Wind tat ihr aber nichts. Er richtete sie auf und stützte sie.
Verwundert und irritiert sah sie sich um. Sie konnte aber niemanden entdecken.
Neben ihr ging plötzlich ein Licht auf. Sie erschrak, konnte aber nicht zur Seite springen, da sie immer noch in dem Wind befand.
Dann sah sie näher hin. Das Licht ging nicht von einer Flamme aus, sondern von einem Blitz. Dann sah sie sich die Person an, die diesen Blitz in der Handfläche hielt. Sie erschrak nochmals als sie erkannt, dass es Ira war. Aber dennoch sah er nicht wie Ira aus.
„Glück gehabt." sagte er . „Wäre ich nur eine Sekunde später gekommen, würdest du jetzt wahrscheinlich dort liegen." Er deutete auf den toten Körper von Gula.
„Komm, ich helfe dir." Schon zog er sie an sich und hob sie hoch.
Justitia wusste gar nicht, wie ihr geschah. Er hob sie einfach so hoch, als wenn sie leicht wie eine Feder wäre. Sie konnte sich nicht dagegen wären.
„Wer...?" begann sie.
Allerdings wurde sie sofort von ihm unterbrochen: „Wer ich bin? Die kurze Version ist, ich bin sowohl Ira, der Zorn, und Spes, die Hoffnung."
Er trug sie auf seinen Armen durch die Höhlen. Nun sah sie ihn näher an. Seine Augen waren merkwürdig: Das rechte Auge war grün, das linke gelb. Seine Haare waren mittellang und schwarz, doch in dem Licht schimmerten sie manchmal rot. Sie konnte sich nicht helfen, aber er kam ihr bekannt vor.
„Justitia!" schrie ihr ein erschrockener Fortitudo entgegen, als sie aus den Höhlen kamen. Doch als er sah, dass sie von einem Unbekannten getragen wurde fragte er misstrauisch: „Wer bist du?"
„Das ist jetzt vollkommen unwichtig. Das erzähle ich später." sagte er nur gelassen darauf.
Fortitudo wollte ihn gerade wieder anschnauzen, als sein Blick auf das Windbündel hinter ihm fiel.
„NEIN!" schrie Fortitudo und rannte auf die Person darin zu. Er war am Boden zerstört. Sein bester Freund war tot, auch wenn er gewusst hatte, dass es passieren könnte. Doch wenn das hätte passieren sollen, so hätte er ihn gerne getötet, nicht irgendein Fremder.
Justitia hatte kaum Kraft, dennoch löste sie sich von dem Mann und ging zu Fortitudo hinüber. Sie beugte sich zu ihm runter, da er auf dem Boden kniete, und umarmte ihn tröstend. Dann sagte sie: „Es wird eine Zeit geben, in der wir ihn betrauern können. Aber lass uns jetzt erstmal zurück gehen und wir werden ihn gleich Morgen früh begraben."
„Ja. Das ist wohl das Beste."
„Oh, es hat sich etwas geändert, was ich nicht erwartet hätte." sagte Andariel, als sie nach Harry sah.
„Was meinst du?" fragte dieser.
„Ira gibt es nicht mehr."
„Echt? Ira ist aufgewacht?"
„Nicht ganz. Er und sein Bruder sind eins geworden. Er nennt sich jetzt wieder George. Und er ist wieder so, wie er einmal war. Geistig gesehen. Körperlich hat er sich ziemlich verändert. Seine Fähigkeiten sind auch gewachsen. Die Fähigkeiten von Spes und von Ira sind nun vereint. Und das macht ihn ziemlich Mächtig." erklärte sie ihm.
Doch das warf bei Harry eine Frage auf: „Die Seele ist doch wieder vereint und das Dunkle und das Licht sind wieder eins. Warum ist er dann nicht zu einem Silberling wie wir es sind geworden?"
„Das ist einfach geklärt: Die beiden Zwillinge waren zwar eine gespaltene Seele, aber sie waren auch ganz individuell. Spes und Ira waren auch sehr eigenständige Personen. Wenn man es genau betrachtet ist für sie eine Seele gespalten worden, aber noch eine Seele hat sich neben der Halben eingenistet. Deshalb ist auch Georges Persönlichkeit und alles andere an ihm nicht vollkommen verschwunden, als Ira erwachte. Daher kann er nicht zu einem Silberling werden. Und jetzt spreng bitte diesen Felsen da."
Harry richtete seinen Blick auf den Felsen. Er konzentrierte sich stark auf den Felsen. Seine Haare begannen sich silbern zu färben und mit einem lauten Knall war der Felsen Geschichte.
„Sehr gut. Du wirst immer besser. Bald ist es so weit. Deine Kräfte wachsen immer weiter. Der Tag der Tage ist nah."
„Ähm.. ich hätte da noch eine Frage: Warum ist Fred nicht in das Reich der Toten eingekehrt, nachdem er gestorben war?"
„Ich muss zugeben, dass ich auf diese Frage keine Antwort weiß. In all diesen Jahrtausenden ist so etwas noch nie geschehen. Aber vielleicht wollte er das Schicksal seines Bruders ändern. Möglich wäre es. Weder Inaer, noch Kamiras, noch ich haben das kommen sehen. Anscheinend sind nun die Karten neu gemischt worden. Vielleicht müssen auch nicht so viele sterben, wie es zu Beginn den Anschein hatte."
Plötzlich platzte bei Harry ein Knoten. Es fühlte sich so an, als ob reine Energie durch seinen Körper floss. Er schloss seine Augen und vor seinem geistigen Auge sah er das Gesicht einer wunderschönen Frau mit langen hellen, fast weißen, Haaren. Er konnte hören, wie sie etwas sagte: „Es tut mir Leid mein Junge. Aber ich muss dich hier lassen. Hoffentlich wirst du gefunden."
Er blinzelte und schon war sie verschwunden. Er sah sich um und er erkannte das Gebäude. Hier hatte er sich schon mit Inaer getroffen.
Dann saß ein kleines Mädchen neben ihm. Er erinnerte sich an dieses Mädchen. Sie hatte damals in dem einen Traum vor ihm gestanden und ihn einen Verräter genannt. Nur wusste er immer noch nicht warum.
Dann begann das Mädchen zu sprechen: „Du wirst hier nicht sterben. Jemand wird dich im Gegensatz zu uns hier abholen."
Wie aufs Wort erschienen noch mehr Kinder. Sie schienen Geister zu sein.
„Wir sind hier gefangen. Wir sind verflucht. Aber, würdest du bitte wiederkommen und uns befreien?" fragte sie.
Auch wenn Harry nicht sprechen konnte, so antwortete er doch im Herzen mit einem klaren 'JA' und er hatte sich geschworen, dass er sie nicht vergessen würde.
Dann kam ein Mann herein und nahm Harry auf. Sobald er seine zukünftigen Eltern sah, machte er sich ihnen ähnlich, damit sie ihn wirklich aufnehmen. Sein Überlebensinstinkt trieb ihn dazu.
Jetzt verstand er, warum ihn das Mädchen 'Verräter' genannt hatte. Er hatte sie vergessen.
Nun öffnete er seine Augen wieder.
„Du hast es geschafft. Du hast die Kräfte in dir geweckt."
„Soll das heißen, ich kann wieder aufwachen?"
„Ja. Jetzt ist es möglich."
„Die werden Augen machen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehe." sagte er erfreut dazu.
„Gut. Dann versuch den Fluch jetzt zu brechen. Ich werde so schnell wie möglich versuchen, dazu zu stoßen. Viel Glück." wünschte sie ihm und alles wurde schwarz. Der Traum mit ihr war beendet. Harry konzentrierte sich stark darauf den Fluch zu brechen.
Die Finsternis wurde von ihm selbst mit silbernen Licht erleuchtet und die Mohnblume an seinem Arm verschwand.
Bei der Konzentration hatte er die Augen fest geschlossen. Nun öffnete er sie und er sah, dass von ihm immer noch dieses Licht aus ging. Das Licht war wie Energie und die Decke, mit der er zugedeckt war, waberte in der Luft.
Er konnte nicht glauben was er sah. Das Krankenzimmer der Schule.
War er wirklich zurück? Oder ist das nur ein weiterer Teil dieses Fluchs?
