Kapitel 2: Hochwohlgeboren

Inwe ließ Faramir am nächsten Morgen benachrichtigen, dass die Gefangene aufgewacht war. Der junge Heermeister kroch noch ganz müde aus seinem Zelt. Er beschloß sich erst einmal kurz zu waschen, bevor er die Gefangene im Haus aufsuchte. In der Nähe des Dorfes gab es einen Bach, wo man sich erfrischen konnte. Faramir schlenderte dorthin und wusch sich Gesicht und Hände. Mit nassen Fingern fuhr er sich durch seine widerspenstigen, roten Locken. Seine Rüstung legte er jetzt nicht an. Nur mit Tunika, Hosen und Stiefeln bekleidet betrat er das Haus. Ein Diener der Heilerin führte Faramir zur Kammer, wo die Gefangene lag. Vorsichtig betrat der junge Heermeister die Kammer. Das Mädchen saß im Bett, mit einem langen Leinenhemd bekleidet. Ihr rechter Arm ruhte in einer Schlinge. Sie warf Faramir einen haßerfüllten Blick zu.

„Wie ist Euer Name?" fragte der junge Mann mit sanfter Stimme.

„Avra", stieß das Mädchen feindselig hervor.

Faramir lächelte jetzt und setzte sich auf die Bettkante. Avra rutschte sofort zurück bis in die hinterste Ecke des Bettes.

„Keine Angst, ich werde Euch nichts tun", erklärte Faramir vorsichtig. „Ich bin ein Ehrenmann, der Gefangene gut behandelt."

„Gondorianer sind keine Ehrenmänner", zischte Avar zornig. „Euer Volk hat meine zwei Brüder auf grausamste Art und Weise ermordet. Ihr haltet uns für eine primitive Kultur. Aber das sind wir nicht. Jeder Haradrim hat tausend Mal mehr Ehre im Leib als einer von Euch."

Die letzten Worte spuckte sie fast aus, so wütend war sie.

„Das ist Euere Ansicht, wir haben eine andere", sagte Faramir ganz ruhig und stand auf. „Haradwaith paktiert mit dem Dunklen Herrscher. Das sagt viel über Ehre und Gewissen Eueres Volkes aus."

Avra schwieg jetzt. Sie starrte an Faramir vorbei zur Tür.

„Wenn Ihr es wagt zu fliehen, werde ich Euch in Ketten legen lassen", drohte Faramir mit leiser Stimme.

„Könnt Ihr jetzt bitte gehen?" fragte Avra bissig.

Faramir nickte ihr zu mit einer angedeuteten Verbeugung und verließ die Kammer. Er ließ sich jetzt von Inwe die Rüstung und die Unterkleidung von Avra zeigen. Die Heilerin zeigte auch auf mehrere Goldketten, die das Mädchen um den Hals getragen hatte.

„Ich musste sie ihr heruntermachen, um die Wunde besser versorgen zu können", sagte Inwe dazu. „Sie scheint ein ziemlich reiches Mädchen zu sein."

„Aus vornehmen Haus würde ich sagen", meinte Faramir und kratzte sich nachdenklich am Bart.

§

Unterdessen erhob sich Avra vorsichtig aus dem Bett. Sie wollte so schnell wie möglich von hier fliehen. Ihr Hass auf die Gondorianer war einfach zu groß. Mühsam schleppte sie sich zum Fenster. Es war durch einen Holzladen verschlossen. Mit ihrer gesunden Hand begann sie möglichst geräuschlos daran zu rütteln. Sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach und plötzlich sackten ihr die Beine weg. Dann wurde alles schwarz um sie.

Faramir, der sich gerade im Nebenzimmer befand und dort Lagebesprechung mit Madril, Mablung und Damrod hielt, fuhr erschrocken hoch, als er das Gepolter hörte.

Rasch eilte er in die Kammer der Kranken hinüber und fand Avra am Boden liegend vor.

„Sie hat versucht, das Fenster zu öffnen", bemerkte Madril finster. „Womöglich war das ein Fluchtversuch."

Faramir hob Avra hoch und trug sie sanft zu Bett. Er hoffte, dass ihre Wunde nicht aufgebrochen war. Er schickte Madril und die anderen aus dem Raum und wartete geduldig, bis das Mädchen wieder erwachte. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder die Augen aufschlug. Sie stöhnte leise, weil ihre verwundete Schulter jetzt stark schmerzte.

„Warum seid Ihr auch aufgestanden!" schalt Faramir sie. „Euere Wunde hätte leicht wieder aufbrechen können."

„Ich brauche frische Luft", stieß Avra mühsam hervor. „In dieser düsteren Kammer erstickt man ja!"

Faramir ging hin zum Fenster und entriegelte den Holzladen. Würzige Waldluft drang in den Raum.

„Ist es so besser?" fragte er streng. „Warum kann ich nur den Gedanken nicht abschütteln, dass dies vorhin ein Fluchtversuch war?"

„Ihr könnt denken, was Ihr wollt", gab Avra patzig zurück.

Sie wickelte sich in ihr Laken und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Faramir stellte sich an das Fenster und blickte finster hinaus. Er würde verdammt gut auf diese raffinierte Gefangene aufpassen müssen, sonst würde sie tatsächlich fliehen.

In den nächsten Tagen tat Faramir praktisch nichts anderes, als auf Avra achtzugeben. Er bekam mit, dass seine Männer leise darüber murrten, weil ihr Heermeister einer Feindin so viel Aufmerksamkeit schenkte. Es war wohl Zeit, aufzubrechen.

Am Abend des dritten Tages in Gwanûr-Hauth rief Faramir wieder seine Unterhauptmänner zu sich.

„Wir werden morgen aufbrechen. Pelargir wird unser Ziel sein. Ich will dort meinen Bruder treffen und mich mit ihm beraten. Dannach werden wir zu Pferd nach Minas Tirith zurückreisen."

Faramir sah, wie die drei Männer sichtlich aufatmeten. Pelargir lag nicht allzu weit weg von diesem Ort.

§

Für Avra war es wirklich nicht leicht, mit den Waldläufern Schritt zu halten. Ihre Wunde pochte immer noch und sie trug jetzt wieder die schwere Rüstung ihres Volkes. Ihre Haare hatte Inwe zu einem Zopf gebunden. Faramir lief ganz in ihrer Nähe. Immer wieder blieb er stehen und überprüfte die leichten Handfesseln, die sie bekommen hatte. Sie musste zugeben, dass dieser rothaarige Gondorianer wirklich ein schlauer Kopf war. Ihn konnte man nicht so leicht übertölpeln. An Flucht war jetzt nicht mehr zu denken. Sie marschierten am Ufer des Poros entlang, der nördlich von Pelargir in den Anduin mündete. In der Nacht legte man Avra stärkere Fesseln an, auch an den Fußgelenken. Ein Mann musste sie sogar bewachen in der Nacht, doch Avra schlief wie eine Tote. Der lange Fußmarsch und die Nachwirkungen der Verletzung hatten sie erschöpft. Am nächsten Morgen, als sie aufwachte, bemerkte sie, dass nun Faramir selbst die Wache übernommen hatte. Seinen wachen, blauen Augen entging nichts. Er ließ Avra jetzt ein Frühstück bringen. Wasser und einen Getreidebrei, den man über dem Lagerfeuer gekocht hatte. Das Essen durfte Avra ungefesselt zu sich nehmen. Doch Faramir saß neben ihr und ließ sie nicht aus den Augen. Dannach ging es weiter. Schon bald konnten sie in der Ferne den Anduin sehen. Die Waldläufer wurden plötzlich fröhlicher, schließlich war der Große Strom ein Stück Heimat für sie. Avra jedoch wurde schwermütig: mit jeder Meile, die sie westwärts lief, entfernte sie sich ein Stück von ihrer Heimat. Faramir bemerkte, dass sie bedrückt war.

„Wollt Ihr mir nicht erzählen, woher Ihr stammt?" fragte er sie plötzlich mitleidig.

„Das geht Euch nichts an!" stieß das Mädchen zornig hervor.

Faramir schüttelte resignierend den Kopf. Avra war so stolz, wie sie stur war. Wahrscheinlich würde sie selbst auf der Folterbank nicht erzählen, woher sie stammte oder was man in Haradwaith für Pläne gegen Gondor schmiedete. Er fragte sich im Stillen, ob es eine gute Idee war, sie seinem Vater zu bringen. Denethor ging unerbittlich gegen Feinde vor. Er würde keinen Unterschied zwischen Mann und Frau machen. Er würde Avra foltern lassen, damit sie ihm verriet, was die Haradrim vorhatten.

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Mira : ich freue mich, dass du jetzt wieder hier bist und mitliest.

Skara : ich glaube, es gab hier noch keine FF, wo sich Faramir in eine Südländerfrau verliebt.

Ali : Danke für deine Unterstützung! Habt ihr auch noch so schönes herbstliches Wetter im Norden oben? Liebe Grüße aus dem Frankenland.

Feael : Auf Denethors Reaktion darf man gespannt sein. Aber erst mal wird Faramir seinen Bruder treffen.

Hippogreif : Danke! Es wird auch spannend weitergehen.

Leonel : Ja, Faramir wird in dieser Story sehr stark sein. Nicht nur als Heerführer. Boromir wird ab Kapitel 3 dazustoßen.

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