Kapitel 3: Pelargir

Nach einem zweitägigen Marsch tauchte endlich die große Hafenstadt am Anduin vor den Waldläufern auf. Alle freuten sich und waren aufgekratzt – bis auf Avra. Sie starrte entsetzt auf die riesige steinerne Stadt, die von einer großen Mauer umgeben war. In Haradwaith kannte man solche Städte nicht. Dort gab es nur Dörfer und ihr Vater war der einzige Mann weit und breit, der einen Palast sein eigen nannte. Sie kamen nun auf eine große, breite Straße, die direkt in die Stadt führte. Pelargir war das wichtigste Handelszentrum von Gondor: hier legten Schiffe aus dem Norden und aus dem Süden an und brachten kostbare und seltene Waren auf den großen Markt. Auf den breiten Straßen der Stadt wimmelte es von geschäftigen Menschen. Es gab sehr viele Händler, die von Pelargir aus ihre Waren nach ganz Gondor transportieren ließen. Avra hatte noch nie so viele Pferdewagen und Karren auf einmal gesehen. Die großen, schönen Häuser waren alle weiß angestrichen und gaben der Stadt ein vornehmes Aussehen. Jetzt konnte Avra auch den Hafen sehen, wo es noch turbulenter zuging, als auf den Straßen. Ständig legten neue Schiffe an, die entladen werden wollten. Der Geruch von Fisch, Gewürzen und einigen Düften, die sie nicht kannte, drang Avra in die Nase als sie an den Markständen vorbeikamen. Faramir hatte sie jetzt fest am Arm gepackt, damit sie in dem Getümmel nicht etwa zu fliehen wagte. Doch Avra war viel zu beeindruckt, um jetzt an Flucht zu denken.

Endlich gelangten sie zu einem palastähnlichen Haus, das im Herzen der Stadt lag und von einer hohen Mauer umgeben war. Hier residierte Meneldur, der Stadtverwalter von Pelargir. Und hier wollte Faramir auch seinen Bruder treffen, der seit einiger Zeit mit seinen Truppen in die Hafenstadt abkommandiert war.

Als Faramir mit seinen Männern zur Wache am Tor des Palastes kam, verneigten sich diese tief vor ihm. Der junge Heermeister nickte den Wachen zu und betrat als Erster den Hof. Dort stand bereits Boromir mit verschränkten Armen und wartete auf seinen Bruder.

„Boromir!" rief Faramir freudig aus und lief ihm entgegen.

Dieser breitete seine Arme aus und begrüßte seinen kleinen Bruder herzlich.

„Du warst verdammt lang fort", sagte Boromir leise. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht."

„Es hat auch lange gedauert, bis wir diese Haradrim endlich aufgestöbert hatten", gab Faramir ernst zurück.

Jetzt fiel Boromirs Blick auf die Gestalt in der goldenen Rüstung und der scharlachroten Kleidung.

„Warum schleppst du diesen Kerl mit?" fragte der blonde Krieger erstaunt.

Auf dem zweiten Blick erkannte er dann, dass es ein Mädchen war. Jetzt grinste Boromir breit und schlug seinem Bruder auf die Schulter.

„Ah, ich verstehe, Kleiner. Guter Geschmack!"

„Ich wette, sie windet sich im Bett wie eine Katze", flüsterte er Faramir verschwörerisch zu.

Doch dieser blieb ernst.

„Das ist eine Kriegsgefangen, Bruder – und sie wird nicht berührt."

Boromir sah seinen Bruder fassungslos an. Er musste später unbedingt unter vier Augen mit ihm über diese Sache reden. Doch zunächst einmal wurden die Waldläufer in Unterkünfte gebracht. Avra wurde in den Kerker des Palastes geführt. Die beiden Brüder gingen in das große Gebäude hinein, wo Faramir Meneldur begrüßen sollte. Der Stadtverwalter saß gerade beim Essen. Als die beiden Truchseß-Söhne eintraten, erhob er sich und verneigte sich tief.

„Komm setz dich, Faramir, es gibt Essen", meinte Boromir grinsend und nahm neben Meneldur Platz.

Faramir verspürte jedoch keinen Hunger. Er wollte erst einmal ein Bad nehmen, sich umziehen und dann dafür sorgen, dass Avra angemessen untergebracht wurde. Der Kerker war kein Platz für ein Mädchen.

Meneldur rief zwei Diener herbei, die für den jungen Heermeister den Baderaum herrichten sollten.

§

Eine halbe Stunde später saß Faramir endlich im warmen Wasser des Zubers und säuberte sich mit Schwamm und Seife. Zum Schluß wusch er sich die langen, roten Locken. Er tauchte unter, um die Seife ganz aus seinen Haaren zu kriegen. Als er wieder auftauchte, stand plötzlich Boromir vor ihm mit düsterem Gesicht.

„Du hast mich ganz schön erschreckt!" beschwerte sich Faramir. „Du kommst wie ein Geist hier herein, während ich untergetaucht war."

„Wir müssen reden", sagte Boromir ernst.

Faramir blickte ihn erstaunt an: vorhin war sein Bruder noch so fröhlich gewesen und jetzt blickte er so finster drein, dass er unwirklich an ihren Vater denken musste. Der rothaarige Mann erhob sich aus dem Zuber und ergriff ein Handtuch.

„Was gibt es denn so Dringendes?" fragte Faramir etwas verwundert.

„Es geht um die Frau aus Harad", erklärte Boromir ungehalten. „Ich habe gerade mitbekommen, dass sie auf deine Veranlassung in die Kemenate des Hauses gebracht wurde."

„Der Kerker ist nichts für sie", erwiderte Faramir und wickelte das Tuch um seine Hüften. „Sie ist eine Fürstentochter und verdient es, würdiger untergebracht zu werden."

Boromir lachte jetzt ärgerlich auf, während sein Bruder seine langen Haare mit einem weiteren Handtuch trocknete.

„Weißt du eigentlich, was die Haradrim mit gefangenen Edelleuten aus Gondor machen? Sie beschneiden sie und verkaufen sie anschließend als Sklaven auf die Galeeren. Und wenn die Gefangenen nicht spuren, werden sie aufs Rad geflochten oder gekreuzigt."

„Dann müssen wir eben zeigen, dass wir von edlerer Gesinnung sind und unsere Gefangenen umso besser behandeln", meinte Faramir achselzuckend und zog sich die frische Kleidung an, die auf einem kleinen Tisch lag.

Boromir fuhr verzweifelt durch seine glatten, blonden Haare.

„Wie soll ich dir das nur klarmachen? Vater wird dich vierteilen, wenn er erfährt, dass du eine gefangene Haradrim so bevorzugt behandelst."

Faramir schwieg trotzig. Natürlich hatte er daran gedacht, wie sein Vater auf die Gefangene reagieren würde.

„Ich habe dich gewarnt, kleiner Bruder", sagte Boromir leise. „Mehr kann ich nicht tun. Ich gehe jetzt zum Essen."

§

Boromir ging zurück zum großen Saal des Hauses, wo Meneldur noch immer speiste.

„Mein Bruder wird gleich kommen", erklärte er dem Stadtverwalter. „Laßt ein weiteres Gedeck bringen."

„Am besten zwei!" rief Faramir von der Tür her. An seiner Seite schritt Avra.

Boromir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ungläubig starrte er abwechselnd auf seinen Bruder und auf Avra. Sie trug jetzt gondorianische Frauentracht. Das hellgrüne lange Kleid passte gut zu ihrem dunklen Teint und den prachtvollen Locken, die sie mit einer großen Spange gebändigt hatte. Ihr verletzter Arm ruhte in einer Schlinge aus Seide. Sie blickte Boromir etwas herausfordernd an.

Meneldur wirkte hilflos. Er war zwar der Hausherr, aber er hatte den beiden Truchseß-Söhnen aus Minas Tirith nichts zu sagen.

„Noch ein Gedeck!" knurrte Boromir unwillig und klatschte in die Hände.

Sofort liefen zwei Bedienstete los. Avra nahm sittsam an der Tafel Platz. Sie fühlte sich sehr unbehaglich unter diesen fremdländischen Menschen. Allerdings rechnete sie es Faramir hoch an, dass er sie nicht wie eine Gefangene behandelte, sondern wie einen Gast.

Das Essen der Gondorianer war ihr zu deftig und zu fett. Sie aß nur das Gemüse und das Obst, das zum Nachtisch gereicht wurde.

„Möchtet Ihr von dem Wein aus Dol Amroth probieren?" bot ihr Faramir freundlich an.

„Nein danke, ich nehme niemals Alkohol zu mir", erklärte Avra stolz.

„Das ist in Ordnung", nickte Faramir verständnisvoll und ließ seinen eigenen Weinkelch nachfüllen.

Avra atmete auf: Faramir war ganz anders als alle Männer, die sie bisher getroffen hatte. Noch nie hatte sie jemand so höflich und zuvorkommend behandelt. Sie musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass er eigentlich ein Feind ihres Volkes war.

Nach dem Mahl fragte Faramir sie, ob sie nicht mit ihm in die Gärten gehen wollte.

Sie lächelte jetzt zum ersten Mal.

„Gerne!" sagte sie erfreut.

Boromir packte seinen Bruder unsanft am Arm.

„Du bist vollkommen wahnsinnig geworden, du Narr!" sagte er auf Westron zu ihm.

Er hatte gemerkt, dass Avra Sindarin sprach und nahm an, dass sie daher kein Westron verstand. Boromir war überzeugt, dass es in Haradwaith kaum Menschen gab, die zwei Sprachen, geschweige denn noch mehr Sprachen verstanden.

Faramir reagierte auf Boromirs Warnung nicht. Er bot Avra seinen Arm an und die beiden verließen den Saal Richtung Gärten.

Meneldurs Gartenanlage war von einer hohen Mauer umgeben. Es gab aber ein kleines Tor, das auf die Straße hinausführte. Faramir merkte, dass Avra einen sehnsüchtigen Blick auf das Tor warf, welches für sie die Freiheit bedeuten konnte.

„Ich hoffe, Ihr enttäuscht mich nicht, Avra", sagte er leise.

„Könnt Ihr Gedanken lesen?" fragte sie etwas beschämt und senkte den Kopf.

„Ich verstehe in den Herzen der Menschen zu lesen", erwiderte Faramir ernst. „Und ich weiß, dass Ihr auch weiterhin fieberhaft an Flucht denkt."

„Ist das so verwunderlich?" fragte Avra bitter. „Ihr seid mein Feind, Faramir. Die Gondorianer haben meinem Volk viel Leid angetan. Ich brauche nur an meine Brüder zu denken."

„Glaubt Ihr wirklich, dass ich Euch hasse, Avra?" fragte Faramir und blickte tief in ihre Augen.

Verwirrt senkte die junge Frau den Blick. Sie nahm auf einer steinernen Bank, die vor einem kleinen Springbrunnen stand, Platz. Sie wusste, dass sie Faramir inzwischen mochte. Seine sanftmütige Art beeindruckte sie immer wieder aufs Neue.

Faramir nahm neben ihr Platz, doch in gebührendem Abstand.

„Wollt Ihr mir nicht erzählen, wer Ihr seid?"

Avra holte tief Luft und begann dann endlich über ihre Herkunft zu erzählen:

„Mein Vater heißt Amar und er ist der Fürst von Asram, einer großen Provinz in Nah-Harad. Ich bin seine einzige Tochter und sein jüngstes Kind. Ich hatte zwei Brüder – sie fielen jedoch im Kampf gegen Gondor, grausam abgeschlachtet. Seitdem befindet sich mein Vater in großer Trauer. Er interessiert sich für nichts mehr. Er vegetiert nur noch vor sich hin. Daher habe ich beschlossen, meine Brüder zu rächen und bin mit nach Harondor gezogen, um Ruhm zu ernten."

„Aber Ihr seid eine Frau", stellte Faramir sachlich fest. „Warum seid Ihr so auf Kriegsruhm aus?"

„Um meinem Vater die Söhne zu ersetzen", gab Avra traurig zurück.

In ihren Augen glitzerten jetzt Tränen. Faramir hob sanft ihr Kinn mit seiner Hand.

„Das ist sehr ehrenwert", sagte er leise. „Ich bewundere Euch zutiefst."

Faramir wusste, dass er längst mehr für Avra empfand als nur Bewunderung. Er liebte sie schon seit er sie das erste Mal auf dem Schlachtfeld erblickt hatte.

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Skara : Die Haarfarbe habe ich nur 2 Mal erwähnt, am Anfang und gegen Schluß des Kapitels. Ist das wirklich so auffällig? Ich hab's gar nicht so gemerkt beim Schreiben. Zur Unterwäsche: Faramir hat sich für die Unterkleidung interessiert, weil er anhand dessen erkennen wollte, ob Avra tatsächlich aus gutem Hause kommt.

Ann : Ich habe beim Schreiben immer eine Mittelerde-Landkarte neben mir liegen. Pelargir wird in den Büchern öfters erwähnt und ist eine wichtige Hafenstadt von Gondor. Gandalf ist zum Beispiel ein Istari. Eine Art niedere Gottheit, zu der die Zauberer Mittelerdes gehören.

Feael : Jaja, „der Widerspenstigen Zähmung". /grins/ Boromir wird jedoch ganz anders als sein sensibler Bruder auf Avra reagieren. Probleme sind vorprogrammiert.

Leonel: Waah, die Unterwäsche! Ich hätte vielleicht doch hinschreiben sollen, aus welchem Grund sich Faramir die besieht. Er ist doch kein Spitzenhöschen-Fetischist oder so was. /grins/