Feael: Schade, dass Faramir nicht mitbekommt, welche Sorgen sich sein Vater um ihn macht.

Khamul: Avra wird in den nächsten Kapiteln allmählich wieder eine größere Rolle spielen.

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Kapitel 12: Faramirs Schicksal

Avra lief ruhelos in ihrem großen Gemach auf und ab. Sie fühlte sich so entsetzlich hilflos. Faramir befand sich nun in den Händen ihres Volkes, und sie ahnte, dass es ihm bestimmt nicht so gut wie ihr ergehen würde. Die Haradrim hielten ihre Gefangenen am liebsten als Sklaven und ließen sie die niedrigsten Arbeiten verrichten. Sklaven, die nicht gehorchten oder schwächelten, wurden hingerichtet. Die junge Frau trat auf den kleinen Balkon und blickte auf die weiße Stadt hinab. Dort unten herrschte geschäftiges Treiben wie eh und je. Nahmen die Menschen von Minas Tirith überhaupt Notiz davon, dass der zweitgeborene Sohn ihres Herrschers von den Haradrim verschleppt worden war? Avra seufzte laut auf. Diese Ungewissheit um Faramirs Schicksal war mehr als quälend. Am liebsten wäre sie auf der Stelle aufgebrochen, um ihren Geliebten zu suchen. Doch sie konnte die Zitadelle nicht verlassen. Dazu brauchte sie Boromirs Hilfe. Nur er konnte sie ungesehen hinausschmuggeln. Aber momentan lag er schwer verwundet in den Häusern der Heilung. Avra blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis Boromir wieder zurück in der Zitadelle war.

Sie schrak zusammen, als es an ihrer Türe klopfte. Avra verließ den Balkon und ging wieder in das Zimmer hinein. Sie murmelte ein „herein". Der Truchseß persönlich erschien bei ihr im Gemach. Seine Miene wirkte sorgenvoll.

„Was werden sie mit Faramir machen?" fragte er Avra kurzangebunden.

„Ich weiß es nicht", erwiderte die junge Frau zögernd.

Sollte sie dem Truchseß tatsächlich von den grausamen Sitten ihres Volkes gegenüber Gefangenen erzählen?

Denethors Gesichtsausdruck zeigte jetzt Ungeduld und Verärgerung. Da er ebenso wie sein Sohn Faramir die Gabe besaß, in den Herzen der Menschen zu lesen, merkte er, dass ihm Avra etwas Furchtbares verschwieg.

„Ihr könnt mich nicht täuschen, Avra", sagte er mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Ihr wisst genau, was Euere Leute mit Faramir anstellen werden. Es wäre besser für Euch, wenn Ihr reden würdet. Eher werdet Ihr dieses Gemach nicht verlassen."

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und verriegelte von außen die Tür.

§

Faramirs Hunger wurde immer schlimmer, doch noch quälender war der Durst, der ihn plagte. Jahzîr hatte inzwischen das große Zelt wieder betraten und setzte sich, ohne Notiz von dem Gefangenen zu nehmen, an das Tischchen und ließ es sich geräuschvoll schmecken. Faramir hatte keine Ahnung, was der Haradrim zu sich nahm, doch es roch sehr appetitlich nach fremdländischen Gewürzen. Zwei Bedienstete schwirrten um Jahzîr herum und kümmerten sich darum, dass sein Weinkelch immer wieder gefüllt war und die Teller nicht leer wurden. Endlich war Jahzîr satt und er rülpste laut. Faramir verzog angeekelt das Gesicht: in Gondor gehörte solch ein Verhalten nicht gerade zu den guten Sitten. Der Haradrim hatte den Gesichtsausdruck des jungen Mannes bemerkt und grinste breit. Er klatschte in die Hände.

„Bomas, Cirgis, vasheve-te!" rief er laut.

Zwei große Hunde mit einem hellen, kurzen Fell kamen in das Zelt gestürmt. Jahzîr lachte kurz auf und streichelte die beiden schwanzwedelnden Tiere. Dann fütterte er sie zu Faramirs Entsetzen von den noch halbvollen Tellern. Insgeheim hatte der Gondorianer gehofft, Jahzîr würde ihm etwas von den Essensresten überlassen. Doch weit gefehlt! Als der Haradrim keine Lust mehr hatte, Bomas und Cirgis mit der Hand zu füttern, ließ er sie aus den Schüsseln fressen. Er selbst ließ sich von einem Bediensteten ein Gefäß mit Wasser bringen und wusch seine Hände darin. Plötzlich fiel sein Blick auf Faramir und er hielt inne.

„Du siehst aus, als hättest du ein wenig Durst, Mahar", meinte er spöttisch.

Er gab dem Bediensteten einen Wink und ließ die Wasserschüssel vor Faramir hinstellen. Der Gefangene hatte wirklich großen Durst, als er aber das verschmutzte Wasser sah, in welchem Fettaugen vom Essen herumschwammen, begann sein Magen zu rebellieren. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie er trinken sollte: schließlich war gefesselt.

„Na, hast du doch keinen Durst, Mahar?" spottete Jahzîr höhnisch.

Faramir versuchte sich jetzt zu dem Gefäß hinabzubeugen und er merkte, dass ihm seine Fesseln tatsächlich soviel Spielraum ließen. Wie ein Hund musste er das Wasser aus der Schüssel schlürfen, was ihn mehr als beschämte. Das Wasser schmeckte abscheulich, doch der Durst war größer. Es gelang Faramir, die Schüssel fast ganz leer zu trinken. Dannach fühlte er sich körperlich ein wenig erquickter, während er ansonsten Jahzîr am liebsten die Augen ausgekratzt hätte.

Hauptmann Masala trat nun in das Zelt und verbeugte sich tief vor Jahzîr. Faramir sah, dass er in seinen Händen das Horn Gondors hielt. Masala und sein Herr unterhielten sich leise. Immer wieder wanderten dabei ihre Blicke zu Faramir hin, der sie mit ausdrucksloser Miene beobachtete. Jahzîr wirkte plötzlich verunsichert und zog noch einen weiteren Mann zu Rate. Ein grauhaariger Krieger betrat nun das Zelt. Masala zeigte ihm das Horn und wies auf Faramir, während er in der Sprache Harads auf ihn einredete. Der Graukopf nickte und hob zur Bekräftigung die Hände. Jahzîr lächelte triumphierend, als er sich schließlich Faramir zuwandte.

„Ich wusste gar nicht, dass wir einen so wertvollen Gefangenen gemacht haben. Du musst Boromir Denethorion sein – der Erbe Gondors."

Faramir lächelte ebenso triumphierend zurück:

„Tut mir leid, ich bin Faramir Denethorion – der zweitgeborene Sohn des Truchsessen."

Jahzîrs Gesicht verzerrte sich vor Wut und er verpasste Faramir zwei kräftige Ohrfeigen, so dass seine Lippen aufplatzten.

„Das ist eine unverschämte Lüge!" schrie er empört. „Das Horn Gondors darf nur der Erbe des Truchsessen tragen."

„Ich musste meinen verwundeten Bruder vor Euch schützen", sagte Faramir stolz. „Und wie ich sehe, ist mir das auch gelungen. Mein Bruder befindet sich wahrscheinlich längst in Minas Tirith in der Obhut der Heiler."

Jahzîr ließ jetz tseine Wut an Masala aus und schrie diesen aus Leibeskräften an. Der Hauptmann senkte beschämt den Kopf, während sein Feldherr ihn an der Tunika packte und schüttelte. Schließlich schob Jahzîr Masala aus dem Zelt und verpasste ihn noch einen gehörigen Fußtritt. Fassungslos sah Faramir diesem Treiben zu. In Gondor war solch ein Verhalten zwischen zwei ranghohen Offizieren unvorstellbar.

Jetzt wandte sich Jahzîr Faramir zu. Seine Zöpfe standen wirr vom Kopf ab und seine dunklen Augen blitzten.

„Was soll ich jetzt mit dir machen, Mahar? Als zweitgeborener Sohn des Truchsessen bist du in meinen Augen wertlos."

„Ihr werdet schon merken, ob ich tatsächlich wertlos bin", erwiderte Faramir ruhig. „Mein Bruder wird nicht eher ruhen, bis er mich gefunden hat. Ihr solltet Euch vorsehen, Jahzîr."

„Für diese freche Bemerkung sollte ich dir eigentlich die Zunge abschneiden, Mahar", sagte Jahzîr mit bedrohlich leiser Stimme. „Doch ohne Zunge bekomme ich für dich auf dem Sklavenmarkt von Bar-Mikkath nur noch die Hälfte Gold."

Faramir schluckte, als er das hörte. Bar-Mikkath war eine große Hafenstadt an der Küste Umbars. Auf dem berühmt-berüchtigten Slavenmarkt waren schon viele gondorianische Gefangene als Sklaven auf die Galeeren verkauft worden.

Jahzîr lief im Zelt auf und ab, während er immer wieder Faramir betrachtete.

„Ich will mal sehen, ob du als Sklave für die Galeeren taugst", meinte er schließlich. „Eine dürre Bohnenstange ist dafür wohl kaum geeignet."

Er klatschte in die Hände und drei kräftige Soldaten mit dunkler Hautfarbe betraten das Zelt. Faramir vermutete, dass sie aus Fern-Harad stammten. Jahzîr gab ihnen einen kurzen Befehl und sie schnitten den jungen Mann von den Fesseln los und zerrten ihn auf die Beine. Faramir konnte kaum stehen: zu lange hatte er an den Pfahl gefesselt gesessen. Zu seinem Schrecken sah er, dass die Männer seine Kleider aufzuschnüren begannen. Er begann sich zu wehren.

„Halt still, Mahar, sonst verletzt dich vielleicht ein Messer", sagte Jahzîr amüsiert.

Die drei Männer begannen jetzt mit Hilfe von Messern Faramirs Kleidung regelrecht herunterzuschälen. Es dauerte nicht lange, und Faramir stand splitternackt vor Jahzîr. Der Haradrim grinste, während der junge Mann rot anlief vor Scham. Jahzîr begutachtete Faramir wohlwollend: der Gondorianer war schlank, aber athletisch gebaut. Seine Oberarme und die Brust waren sehr muskulös vom jahrelangen Bogenschießen und Schwertkampf. Faramir war es sehr unangenehm, als Jahzîr begann, seinen Körper abzutasten.

„Was soll das?" wagte er schließlich zu fragen. „Bin ich ein Stück Vieh?"

„Menschen aus Gondor sind das für uns", erwiderte Jahzîr und lachte schallend.

Die drei Männer aus Fern-Harad lachten ebenso mit. Faramir lief erneut rot an: doch diesmal vor Wut. Er hatte gute Lust, Jahzîr seine Faust spüren zu lassen. Sein „Besitzer" stand ganz günstig vor ihm. Doch er wusste auch, dass dies seinen sofortigen Tod bedeuten würde. Und Faramir wollte am Leben bleiben. Er gab die Hoffnung nicht auf, irgendwann seine Familie und Avra wiederzusehen. Avra! Beim Gedanken an sie, verdüsterte sich Faramirs Miene. Hoffentlich musste sie jetzt nicht dafür büßen, dass er Gefangener ihres Volkes war.