Darklayka: Im nächsten Kapitel stellt sich heraus, ob Neshem tatsächlich so grausam sein wird.

Khamul: Avra hat Boro und Co. doch unterwegs Sprachunterricht erteilt. Zum Glück hat Boro gut zugehört.

May20: Ist ein bisschen viel, was die Fari antun wollen. Das mit dem Bart ist schon hart genug.

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Kapitel 20: Das Geheimnis wird gelüftet

Boromir war froh, als er endlich in diesem vermaledeiten Haus war und die lästige Kopfbedeckung abnehmen konnte. Avra sah ihn finster an.

„Ich habe euch doch verboten zu sprechen", sagte sie ernst. „Beinahe hättest du alles kaputtgemacht, Boromir."

„Deine Lehrstunden waren nicht umsonst, Avra", grinste Boromir frech und kratzte sich am Kopf. „Ich bin ein gelehriger Schüler."

Avra wurde rot und winkte hastig ab. Die anderen Männer machten sich es auch bequem in dem großen halbdunklen Raum, der den größten Teil des Hauses ausmachte. Nur Avra blieb stehen.

„Ich möchte, dass alle Fensterläden und auch die Tür verschlossen bleiben", sagte sie streng. „Keiner darf nach außen gehen. Und ihr werdet auch niemanden hereinlassen, außer mich."

„Was hast du vor?" fragte Boromir erstaunt.

„Ich werde mich nach Faramir auf dem Sklavenmarkt erkundigen", erklärte Avra kühn.

„Ist das nicht zu gefährlich für dich alleine?" wollte er besorgt wissen.

„In deiner Begleitung wäre es tatsächlich gefährlich", lächelte Avra grimmig.

Boromir hasste es, tatenlos herumzusitzen und zu warten. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Erst am späten Abend kehrte Avra zurück. Sie hatte nicht nur etwas zu essen dabei, sondern auch interessante Neuigkeiten. Sofort machten sich die Männer hungrig über die Lebensmittel her, die aus Fisch, Obst und weißem Brot bestanden. Sogar einen großen Krug Wein hatte Avra besorgt. Nur Boromir hielt sich beim Essen zurück. Er wollte wissen,was die junge Frau in Erfahrung gebracht hatte.

„Faramir wurde an Fürst Neshem vor ungefähr fünf Tagen verkauft", verkündete sie.

Boromir sprang auf, als er das hörte.

„Er lebt!" jubelte er und warf die Arme in die Luft vor Freude.

Doch Avra lächelte nicht. Sie verschränkte die Arme und blickte nachdenklich vor sich hin.

„Warum sagst du nichts dazu?" fragte Boromir schließlich und wurde unsicher.

Auch Madril und die anderen Männer umringten jetzt Avra.

„Neshem ist mein Onkel", begann die junge Frau zögernd zu erzählen.

„Ist das nicht ein Vorteil?" wollte Boromir neugierig wissen.

„Es gibt da eine Geschichte, die ich euch erzählen muß", fuhr Avra bedrückt fort. „Man sagt sich, dass mein Onkel geisteskrank ist."

Ein erschrockenes Raunen ging durch die Reihen der Männer und Boromir wurde ganz blaß.

„Erzähl weiter!" forderte er Avra mit dumpfer Stimme auf.

Avra seufzte tief und setzte sich auf einen Stuhl in dem sonst spärlich möblierten Raum.

„Schuld daran ist Asaghal, sein adoptierter Sohn. Vor vielen Jahren fand Neshem auf einer seiner Reisen ein gestrandetes Korsarenschiff unten am Strand. Die Besatzung war tot, im Kampf gefallen beziehungsweise ertrunken. Doch im Wrack des Schiffes kroch ein kleiner, rothaariger Junge herum, der erbärmlich schrie. Er war damals gerade drei Jahre alt. Der Kleine hatte nichts am Leib außer ein zerrissenes Lendentuch und seine zarte, helle Haut war ganz verbrannt von der glühenden Sonne. Neshem nahm den Kleinen mit in sein Fürstenhaus und adoptierte ihn. Ihm selbst war ein Sohn versagt gebliebten. Seine Frau konnte nach der Geburt seiner Tochter, die wenige Monate zuvor geboren worden war, keine weiteren Kinder bekommen. Und so wurde der Junge Asaghal genannt, was soviel bedeutet wie ‚Sohn des Sonnenaufgangs' . Neshem liebte den Jungen abgöttisch, aber schon bald bekam mein Vater heraus, woher dieser Junge stammte. Die Korsaren hatten Asaghal aus Dol Amroth entführt, aus dem Schloß des Fürsten Adrahil. Dort war eine hohe Frau aus Minas Tirith zu Besuch mit ihren Söhnen gewesen. Den Erstgeborenen hatte die Fürstin vor den Korsaren retten können, aber der Jüngste fiel ihnen in die Hände."

„Artamir!" krächzte Boromir und fuhr sich mit der Hand an der Kehle. „Du sprichst von meinem Bruder Artamir, der zwei Jahre nach mir geboren wurde. Meine Mutter hat den Verlust Artamirs nie verwunden."

„Hat denn dein Vater nicht nach Artamir suchen lassen?" wollte Avra wissen.

„Natürlich hat er nach ihm suchen lassen und mein Großonkel, Fürst Adrahil, hat das Korsarenschiff auch mit seiner Flotte angegriffen. Doch leider ging das Schiff unter und man glaubte, dass Artamir ebenso dabei ertrunken war."

Boromir hielt traurig lächelnd inne, bevor er fortfuhr.

„Als meine Mutter Faramir zur Welt brachte, wurde er für meinen Vater eine Art Ersatz für Artamir. Doch Faramir war anders als Artamir ein schwächliches, kränkelndes Kind, und bald verlor mein Vater das Interesse an Faramir und vergrub sich wieder in seine Trauer um Artamir. Meine Mutter zerbrach schließlich an der Trauer und an Vaters Ablehnung von Faramir. Doch nun sprich du weiter, Avra."

„Aus Asaghal wurde ein junger, gutaussehender Mann", fuhr Avra fort. „Ich selbst hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Mein Vater, der meinen Onkel öfters besuchte, erzählte mir das alles. Meine Base Ancalime verliebte sich unsterblich in Asaghal. Doch nach der Sitte unserer Landes war es den Beiden verboten zu heiraten. Aber Asaghal liebte Ancalime ebenfalls. Er wusste, dass er seine Stiefschwester niemals bekommen würde. Daher meldete er sich freiwillig zum Heer. Er fiel in Harondor im Kampf gegen Gondor. Er wurde von seinen eigenen Landsleuten getötet. In der gleichen Schlacht fielen auch meine Brüder. Neshem wurde wahnsinnig, als er vom Tode seines geliebten Stiefsohnes hörte. Er schloß sich tagelang in sein Gemach zuhause ein. Dann zog er die Kleider von Asaghal an und färbte sich auch sein Haupthaar rot. Mein Vater wollte seitdem mit ihm nichts mehr zu tun haben. Wir trauerten auch um unsere Lieben, die gefallen waren, doch wir ertrugen den Schmerz still, während Neshem sich zum Gespött der Leute machte. Es ist gut möglich, dass er in Faramir einen Ersatz für Asaghal sucht. Ich habe große Angst, dass er Faramir zugrunderichtet."

„Wir müssen diesen Neshem unbedingt aufsuchen!" sagte Boromir aufgeregt. „Bitte Avra, du musst uns hinführen."

Avra sah den blonden Mann traurig an, doch dann nickte sie schließlich.

§

Ancalime ritt wie um ihr Leben. Hoffentlich kam sie nicht zu spät. Sie musste ihren Vater unbedingt davon überzeugen, dass es besser war Faramir nicht zu beschneiden – und freizulassen. In den letzten Stunden war ihr klargeworden, dass der junge Mann aus Gondor Asaghal niemals ersetzen konnte. Er war ein Sohn des Truchsessen von Gondor. Eines Tages würden Soldaten aus Gondor nach Harad kommen und versuchen, ihn zurückzuholen.

Neshem, der auf einer Bank vor dem Tempel saß und Wein trank, sah erstaunt , wie seine Tochter den Hügel hinaufgeritten kam. Sie winkte schon von weitem und wirkte ganz verzweifelt.

Schließlich stoppte sie ihr Pferd auf dem Vorplatz des Tempels und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung herunter.

„Bitte, Vater, du darfst das nicht tun!" rief sie bebend. „Du hast nicht das Recht, Faramir zu beschneiden."

Neshem sah seine Tochter, die ihm das Liebste auf der Welt war, erstaunt an.

„Was soll nun dieser Sinneswandel, Ancalime?"

„Vater, Faramir ist nicht Asaghal", erklärte Ancalime bedrückt. „Er ist ein ganz anderer Mensch. Er wird dich niemals als Vater anerkennen. Für ihn wirst du immer nur sein Besitzer sein, der ihm der Heimat beraubt hat. Faramir muß wieder nach Gondor zurück. Sicher vermisst ihn seine Familie dort. Bitte laß nicht zu, dass er beschnitten wird. Ich habe gehört, dass dies in Gondor nicht Brauch ist. Womöglich wird er von seinem eigenen Volk verachtet , wenn man ihm dies antut."

Neshem starrte seine Tochter sprachlos an. Noch nie hatte er sie so aufgeregt und verzweifelt gesehen. Selbst nach Asaghals Tod nicht. Sie hatte ihre Trauer immer stumm mit sich herumgetragen, während ihr Vater schier zerfressen wurde von dem Verlust.

Nach einer halben Ewigkeit nickte er endlich.

„Ich habe schon einmal dem Truchseß einen Sohn weggenommen. Das soll nicht wieder geschehen. Letztendlich ist auch Denethor ein Vater, der seine Söhne liebt. Warte hier", sagte er sanft und strich Ancalime über das seidige, schwarze Haar.

Neshem begab sich in den Tempel hinein. Der Baderaum war bereits leer. Er hörte aus dem großen Saal des Tempels einen leisen Singsang. Hoffentlich kam er nicht zu spät. Rasch lief er in den Hauptraum. Dort lag Faramir völlig nackt und besinnungslos auf einem großen, steinernen Tisch und ein Priester in einem schwarzen, ärmellosen Gewand ließ sich gerade von einem der kahlköpfigen Diener einen Dolch bringen.

„Halt!" donnerte Neshems Stimme durch den dunklen Raum. „Hört sofort damit auf!"

Der Priester hielt inne und blickte den Fürsten empört an.

„Ihr wagt es, unsere heilige Zeremonie zu stören?"

„Das ist mir gleich", erwiderte Neshem streng. „Die Zeremonie ist hiermit vorüber. Verlaßt diesen Saal!"

„Aber warum habt Ihr es mir aufgetragen?" fragte der Priester finster.

Neshem nestelte einen Beutel von seinem Gürtel und warf ihm dem Priester zu.

„Genügt das, um Euch versöhnlich zu stimmen?" fragte er grimmig.

Der Mann fing den Beutel geschickt auf und öffnete ihn sogleich. Als er den Inhalt sah, grinste er zufrieden und nickte. Es handelte sich um Goldstücke.

„Macht mit dem Ungereinigten, was Ihr wollt", sagte er und verließ mit seinem kahlköpfigen Diener den Tempel.

Neshem ging zu Faramir hin und bedeckte seine Blöße fürsorglich mit einem Tuch. Er rüttelte ihn sanft und der junge Mann begann zu stöhnen. Der Fürst bemerkte nun die Beule an Faramirs Hinterkopf, und begann innerlich zu fluchen. Es dauerte einige Zeit, bis der junge Mann zu sich kam. Faramir sah Neshem mit schmerzverzerrtem Gesicht an.

„Ist es vorüber, hat man mich...?" stammelte er.

Neshem lächelte und strich über die Wange des jungen Mannes.

„Nein, und Ihr könnt Euch bei Ancalime bedanken, die mich jetzt überzeugt hat."

Faramir richtete sich vorsichtig auf, wobei er seinen schmerzenden Hinterkopf hielt.

„Von was überzeugt?"

„Dass Ihr nicht wie Asaghal seid", erwiderte Neshem ernst. „Ihr seid hiermit frei, Faramir. Ihr könnt jederzeit in Euere Heimat zurückkehren. „

Faramir traute seinen Ohren nicht. Und Neshem musste wiederholen, was er gesagt hatte. Er brachte dem jungen Mann seine abgelegte Kleidung. Faramir zog sich an und beide verließen den Tempel. Dort wartete Ancalime bei den Pferden.

„Ich danke Euch beiden, Herrin Ancalime und Fürst Neshem", sagte er höflich.

„Wir würden uns freuen, wenn Ihr noch einige Tage unser Gast sein würdet, bis Ihr Euch von den Strapazen erholt habt", erklärte Neshem freundlich.

Ancalime fiel ihrem Vater jubelnd um den Hals, weil es jetzt ganz sicher war, dass Faramir kein Sklave mehr war. Erwartungsvoll blickte sie den jungen Mann an.

„Ich werde Euere Einladung gerne annehmen", erwiderte Faramir lächelnd. „Bisher habe ich nur wenig von der Gastfreundschaft der Haradrim kennengelernt."

Im Stillen jedoch fragte sich der junge Mann, wie er wieder unbehelligt nach Gondor zurückgelangen konnte. Der Weg durch Nah-Harad und Harandor würde alles andere als ein Zuckerschlecken werden. Auch wenn er jetzt ein freier Mann war, konnte er doch jederzeit von anderen Haradrim wieder gefangengenommen oder gar getötet werden.