Tage wie dieser – Mme O.

Sie lebte das Leben einer ganz normalen Frau. Und wie eine ganz normale Frau schob Orlane an diesem Tag gemütlich ihren Einkaufswagen von einer Reihe in die nächste – ganz ohne Hast, ohne Zeitdruck und ohne schlechtes Gewissen.

Erst einen ausgiebigen Einkaufsbummel durch den Supermarkt und danach - vielleicht - ein Ausflug in die Lieblingsboutique. Das schwarze Kleid im Schaufenster hatte ihr heute Morgen ganz ohne Scheu verführerisch zugeflüstert: Probier mich an. Sie musste lächeln bei diesem Gedanken – ihre Phantasie war unerschöpflich, nicht nur wenn es ganz im Allgemeinen um flüsternde schwarze Kleider ging. Die Farbe Schwarz hatte es ihr auch im Speziellen angetan.

Aber nicht heute. Nein, es gab Tage, an denen sie Abstand brauchte – von den inzwischen äußerst realen Auswüchsen ihrer Phantasie und von der Farbe Schwarz im Speziellen. Tage, an denen Frau sich gehen lassen konnte, allein sein konnte, die süße Erinnerung an alles Schwarze nur ein angenehm flatternder Schmetterling im Bauch – oder gelegentlich auch etwas tiefer.

Noch immer verträumt lächelnd und ohne nachzudenken griff Orlane nach einem Paket Tampons und ließ es in den Wagen fallen. Ein wenig romantischer, dennoch absolut notwendiger Kauf – von Zeit zu Zeit.

Plopp

„Und wozu genau brauchst Du das nun wieder?" Eine aufrichtige Frage, in der jedoch eine winzige Spur Ironie auszumachen war.

Orlane wirbelte erschrocken herum und blickte in das blasse Gesicht von Severus Snape. Er musterte erst den Einkaufswagen und dann sie. Augenscheinlich wartete er auf eine Antwort.

Orlane machte keine Anstalten, ihr Wissen um den Nutzen der kleinen Watteteilchen mit dem Zauberer zu teilen und zischte stattdessen leise: „Severus! Was machst Du hier? Und wie siehst Du aus?" Sie schaute an ihm herunter.

Er folgte ihrem Blick und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Wie immer, sollte man meinen", antwortete er ein wenig beleidigt.

„Eben!" Orlane blickte sich unsicher um. Im Gang waren keine anderen Kunden zu sehen. Still beglückwünschte sie sich zu der Entscheidung, zur Mittagszeit hergekommen zu sein und stellte ein wenig lauter fest: „DAS ist nicht der richtige Aufzug für einen MUGGELSUPERMARKT!"

Severus zuckte mit den Schultern und blickte sich ebenfalls um. „Wo ist Morticia?", fragte er nachdrücklich, während seine schwarzen Augen den Gang auf und ab wanderten.

Nicht hier", antwortete Orlane ein wenig genervt.

„Warum nicht?", kam die nächste Frage, in der nun doch ein strenger Unterton mitschwang.

„Weil wir keine siamesischen Zwillinge sind?" Sie schob kopfschüttelnd ihren Einkaufswagen weiter.

„Ach wirklich?", schnaubte es hinter ihr her. „Das ist mir neu."

Orlane wollte soeben entgegnen, dass sie tatsächlich ein Mensch mit durchaus individuellen Lebensräumen und Freizeitvorstellung war, als ein weißbekittelter Jüngling mit einem Stapel Tetrapacks um die Ecke in ihren Gang bog. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie beide an. Severus starrte grimmig zurück, Orlanes Augen richteten sich geschäftig auf das Regal mit Toilettenpapier und Küchenrollen, in der Hoffnung, der Jüngling möge ohne Kommentar weiterziehen.

„Belästigt der Kerl Sie?", kam es dann leider doch vom anderen Ende des Gangs. Orlane schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das Bübchen hatte ja keinen Schimmer, in welche Gefahr er sich mit solchen Fragen begab. Sie legte ein strahlendes Lächeln auf und schielte zu Severus. Hatte er etwa schon seine Hand in den Umhang gesteckt, um nach seinem Zauberstab …

„Nein, auf keinen Fall. Alles in bester Ordnung." Sie zwinkerte dem Männlein aufmunternd zu. „Die alte Frage", erklärte sie lachend, „feuchtes oder trockenes Toilettenpapier … Sie verstehen? – Aber wir kommen klar!", fügte sie schnell hinzu, um ein drohendes Hilfsangebot zu unterbinden.

Der besorgte Einzelhandelskaufmann in Weiß zögerte kurz und machte sich dann nickend auf den Weg in die Getränkeabteilung. Orlane atmete auf und warf Severus einen äußerst vorwurfsvollen Siehst-Du-in-was-für-eine-Situation-Du-uns-hier-bringst-Blick zu.

Weit davon entfernt, sich von diesem Blick verunsichern zu lassen, griff Severus wahllos nach einer Schachtel Slipeinlagen im Regal und begutachtete sie misstrauisch. „Dry-tex luftdurchlässige Struktur mit weichem Oberflächenvlies. Alternativ in den verschiedenen Angeboten classic, normal, normal mit Frischeduft, normal Black, normal Pocket, Extra weich, lang oder swing." Er blickte kurz von der Schachtel auf und sah Orlane prüfend an. „Hautsympathisch - mit oder ohne Flügel in der limitierten Designschachtel mit sommerlicher Blumenoptik", beendete er seine Lektüre. „Die Geheimnisse der Frauen sind unergründlich, geradezu mysteriös!" Severus runzelte die Stirn und hielt Orlane die Schachtel vor die Nase. „Hast Du Verwendung dafür?"

„Nein", zischte sie ungeduldig. „Ich würde jetzt gern weiter einkaufen – allein!"

Die Augenbrauen des Zauberers rutschten alarmiert einige Zentimeter nach oben. „Wo ist Morticia?", wiederholte er und machte schon aufgrund der Tonlage deutlich, dass er dieses Mal eine dienlichere Auskunft erwartete.

Orlane seufzte ergeben und beschloss, dem drohenden Desaster inmitten des Supermarkts Einhalt zu gebieten. „In irgendeinem Möbelhaus. Aber ich glaube sie möchte -", Orlane griff besänftigend nach seinem Arm, doch als sie gerade den weichen Stoff zwischen ihren Fingern spürte, löste dieser sich mit einem leisen Plopp in Luft auf. Sie hasste es, wenn er das tat. Respektlos, einfach so zu verschwinden, mitten im Satz. Nun, aber wenigstens war sie ihn los und konnte sich unbeobachtet auf den Weg zu den Süßigkeiten machen.

Orlane beschloss, den kleinen Zwischenfall zu vergessen. Severus würde sich schon wieder beruhigen – es gab immer Mittel und Wege. Sie grinste.

Vor dem Schokoladenregal lief sie unentschlossen auf und ab. Mit Orangenfüllung, Nougat oder Marzipan? „ALLES!", sprach eine innere Stimme ihr beschwörend zu. Sie griff zögernd nach einer Pralinenschachtel.

Plopp

„Severus, was ist denn jetzt schon wieder?" Orlane drehte sich nicht um und hielt stattdessen den Blick auf die Pralinen in ihrer Hand geheftet.

„Das frage ich mich auch!" Morticias Stimme klang vorwurfsvoll. Orlane drehte sich nun doch um und konnte sich nur schwer das Lachen verkneifen. Vor ihr standen Morticia und Severus, Hand in Hand. Morticia hatte einen Bleistift hinter das linke Ohr gesteckt, ein zerfledderter Möbelprospekt klemmte unter ihrem Arm und sie hielt eine Reihe von Stoffmustern in der Severusfreien Hand. Ihre Handtasche, die sie wohl gerade noch hatte erwischen können, balancierte auf ihrem linken Fuß.

„Severus, Du weißt, dass ich es hasse, zu apparieren – und dann auch noch ohne Vorwarnung!" Sie riss sich ungnädig von seiner Hand los und bückte sich nach ihrer Handtasche.

Orlane warf der Freundin einen mitfühlenden Blick zu und griff nach dem Bleistift hinter dem Ohr, weil dieser drohte, auf den Boden zu fallen. „Schöne Stoffmuster!", bemerkte sie anerkennend und hoffte, harmoniebedürftig wie sie war, auf eine Entschärfung der Situation.

„Wo zum Teufel sind wir hier eigentlich?", überging Morticia diesen Versuch und stemmte die Hände in die Hüften, wobei natürlich der Möbelprospekt zu Boden fledderte.

„In einem Supermarkt – dort kauft man ein!", belehrte Severus sie spöttisch.

„Und was mache ICH hier?" Morticia bückte sich im selben Moment nach dem Prospekt wie Orlane und warf ihrer Freundin unten angekommen einen auf klare Informationen drängenden Blick zu. Orlane zuckte mit den Schultern. Die beiden kamen gleichzeitig wieder hoch.

„Du bist hier, weil Orlane heute schlechte Laune hat und – Oh nein, Du willst das doch nicht etwa abstreiten, meine Liebe", unterbrach er seine Erklärung mit einem strafenden Blick auf Orlane, die abwehrend beide Hände erhoben hatte und den Kopf schüttelte, „und weil ICH mich langweile und von EUCH unterhalten werden will", schloss er kurzerhand.

Ein ungläubiges Schnauben ertönte von beiden Frauen.

„Na, da habe ich ja Glück gehabt, dass Du mich im Möbelhaus erwischt hast und nicht in der Umkleidekabine des Dessouslädchens, dass ich eigentlich noch aufsuchen wollte. Wer weiß, wie ich sonst hier stünde", fauchte Morticia und knallte die Stoffmuster in den Einkaufswagen. Eine kleine Staubwolke stieg auf.

Severus überlegte einen Augenblick, ob dieser Verlauf der Dinge tatsächlich die Beschreibung Glück verdiente und fuhr ironisch säuselnd fort: „Ich bemühe mich nächstes Mal um ein günstigeres Timing, mein Engel." Er strich mit den Fingern über die glänzenden Knöpfe an Morticias Bluse „Jetzt lasst uns aber ein wenig Spaß haben."

Hier? Im Supermarkt?" Orlane wurde blass, „Aber, aber Severus –"

Morticia schürzte unterdessen die Lippen und beäugte prüfend eine kleine Nische zwischen Schokoladenregal und Notausgang.

Severus verdrehte genervt die Augen. „Nicht so!", zischte er. „Aber -" In seinen Augen blitzte ein Plan auf. Er drehte sich ruckartig herum.

„Sie da!", rief er donnernd und Orlane erkannte entsetzt, dass er den weißen Jüngling meinte, der eben in der Abteilung aufgetaucht war. Sie warf Morticia einen hilfesuchenden Blick zu, den die Freundin ratlos erwiderte.

Severus marschierte mit bedrohlicher Entschlossenheit auf den Knaben zu. „Wo ist denn hier das Dementorfutter – bei Merlin, ich habe schon überall gesucht!"

„De – De – Dementorfutter?", wiederholte der Angesprochene eingeschüchtert und schielte nun ebenfalls in Richtung des Notausgangs – wenn auch aus ganz anderen Gründen als Morticia vor ihm.

„Ja", bestätigte Severus trocken. „Haben sie etwa keines? Was ist das denn für ein Service? Sie müssen doch wissen, dass man die Viecher rund um die Uhr versorgen muss – besonders wenn man sie als Haustiere hält."

„Verzeihung, ich glaube…" Der blasse Jüngling starrte Severus entsetzt an.

„Nein!" Severus winkte ab. „Nicht ich natürlich – aber meine Freundin hier", er wies kurz mit der Hand auf Morticia, „ihr Herz hängt sehr an den schwarzen Scheusalen! Weiß der Kuckuck warum."

„Sie sind aber auch recht nützlich als Staubwedel – von Zeit zu Zeit", warf Orlane plötzlich leise ein und erntete ein mildes Lächeln von Severus und einen missbilligenden Blick von Morticia, der diese zweckentfremdende Idee für ihre geliebten schwarzen Seelen gar nicht gefiel.

„Was alles passieren kann, wenn man sie nicht artgerecht füttert!" Severus setzte eine bedenkliche Miene auf. „Nicht auszudenken, wenn sie in ihrem Wahn einmal ausbrechen - oh ja, das passiert schon mal - und dann gerade diesen Supermarkt hier zum Ziel ihrer Wut erklären."

Der Einzelhandelsverkäufer zitterte, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, lösten sich langsam und rannen abwärts über seine Wangen, um feucht auf seine Schulter zu tropfen. Er schluckte und versuchte mit aller Kraft, sich zu bewegen – wegzurennen. Vergeblich.

Severus stöhnte ungeduldig. „Haben Sie wenigstens gemahlene Schlangenzähne? Meine andere Freundin hier hat gestern den ganzen Rest meines Bestandes in ihren ersten erbärmlichen Versuch eines Schrumpftranks investiert."

Orlane ließ hinter ihm ein beleidigtes „PAHH!" erklingen.

Der weiße Jüngling war nun endgültig am Rande des Nervenzusammenbruchs und flüchtete schreiend auf die Rolltreppe.

„Supermarkt!", zischte Severus angewidert, auf seinem Gesicht machte sich jedoch Zufriedenheit breit und er packte brüsk die beiden Frauen, um sie eng an seine Seiten zu ziehen. „Und wo kann man hier noch Spaß haben?"

Morticia und Orlane blickten sich kurz an. Eine nickte der anderen zu. „Ich denke, uns gelüstet jetzt nach etwas ganz anderem!", flötete Morticia.

Severus schob mit dem Kinn ihr langes schwarzes Haar zur Seite und biss mehr oder weniger zart in ihren Hals. „Oh – na gut – wenn es doch immer wieder darauf hinausläuft!", raunte er mit gespieltem Verdruss. „Aber sprecht es aus, meine zarten Engel – ich höre es so gern aus Euren Mündern – was ist es genau, nach dem Ihr Euch so sehr verzehrt?"

„SCHOKOLADE!", riefen Morticia und Orlane gleichzeitig. „Jetzt – sofort – zu Haus - ALLEIN!"

Severus lockerte seinen Griff um die Hüften der beiden.

„Frauen!", schnaubte er, diesmal ehrlich erbost.

Plopp