Kapitel II - Die Diagnose

„Schläft immer noch, die Arme!"

„Was, wenn sie nie wieder aufwacht?"

„Sieh dir ihr Gesicht an!"

„Schrecklich, einfach schrecklich!"

„Total entstellt, die Gute."

„Bilde ich es mir bloß ein, Heiler Merryweather, oder ist sie etwas haariger als sonst?"

„Das bilden sie sich ein."

„Sind Sie sicher?"

„Vollkommen."

„Aber aus diesem Winkel - "

Ssccht, sie wacht auf!"

Diese Stimmen. Sie dröhnten in meinen Kopf. Sie sollten verstummen, verschwinden!

„War wohl doch nur ein Reflex."

„Wie schrecklich blass die Liebe doch nur ist, nicht wahr, Theodor?"

„Ja, ja, schrecklich blass!"

„Das ist für dieses Stadium des Krankheitsverlaufes völlig normal."

„Aber so blass? Man könnte die Teuerste für tot halten!"

„Diese Blässe ist völlig gewöhnlich!"

„Was meinst du, Theodor, ist die Arme nicht zu blass?"

Viel zu blass, viel zu blass!"

Sie regt sich!"

Mein Kopf drohte zu bersten, es war nicht zum Aushalten!

„Sie regt sich doch nicht! Hat sie sich geregt, Theodor?"

„Nein, hat sie nicht!"

„Natürlich hat sie das!"

„Wollen Sie uns etwa für dumm verkaufen, guter Mann!"

„Das würde ich im Leben nicht! Ich schwöre, sie hat sich bewegt!"

„Hat sie, Theodor?"

„Nein, ich habe nichts dergleichen gesehen!"

„Aber ich schwöre - "

Still! Sie wacht auf!"

Schwach öffnete ich meine Augen, schloss sie jedoch wieder, da das Licht einfach zu grell war. Die Stimmen hatte ich schon längst erkannt. Zweifellos waren es meine Großeltern mütterlicherseits, die auf den Heiler einredeten. Genau genommen war es meine Großmutter Henrietta, die den armen Mann um Kopf und Kragen redete, Großvater Theo sprach nur, wenn Großmutter es verlangte.

Ich blinzelte ein weiteres Mal.

„Ich muss Sie dringest bitten zu gehen! Die Patientin braucht ein ausgewogenes Maß an Ruhe in ihrer Aufwachphase!"

„Aber - "

„Es ist wirklich dringend notwendig, dass die Patientin jetzt alleine ist, Sie können sie in ein bis zwei Tagen wieder besuchen, vielen Dank für Ihr Kommen, auf Wiedersehen!"

Diesen ungewohnt schnellen Worten des Heilers folgte unmittelbar das Öffnen und Schließen der Tür und das laute Geschnatter meiner Großmutter auf dem Korridor.

Wieder versuchte ich, die Augen zu öffnen, und erkannte den Heiler an meinem Krankenbett.

Ein warmes Lächeln erschien in seinem gutmütigen, sonnengegerbten Gesicht.

„Guten Abend, Miss Crawfey!", begrüßte er mich.

Ich öffnete den Mund um zu sprechen, doch ich schaffte es gerade mal zu einem schwachen Flüstern.

„Wo bin ich hier?", fragte ich mühsam, obwohl ich die Antwort schon erahnte, „St. Mungo?"

„Ganz genau!", erwiderte er freundlich, „Ist Ihnen das Licht zu hell?", fragte er, den Blick auf die Schlitze gerichtet, die meine Augen bildeten.

Er wartete mein Nicken erst gar nicht ab, sondern nahm den Zauberstab aus seinem Umhang und verdunkelte den Raum mit einem lässigen Schwung.

Nun konnte ich alles um mich herum besser erkennen. Das sterile Krankenzimmer, die kleine Kommode, die hölzerne Zimmertür mit dem sauberen Blickfenster, der kleine Waschraum, die leblosen Vorhänge am Fenster, das künstlich wirkende Krankenbett.

Mein Blick viel auf den immer noch lächelnden Mann vor mir.

Er erinnerte mich deutlich an einen dieser Muggelheiler, die man „Ärzte" nennt.

Er trug eine langweilige Brille, und sein Haar war nach Muggelart kurz geschnitten.

An seinem limonengrünen Umhang hatte ich jedoch sofort erkannt, dass ich in St. Mungo, dem magischen Hospital, gelandet war. Moment mal -

„Wie komme ich hierher?", krächzte ich mühsam und warf dem Heiler einen verwunderten Blick zu.

Das Lächeln des Mannes wurde etwas schwächer, und er erwiderte nachdenklich:

„Das wissen wir leider auch nicht…unsere Schwestern fanden Sie plötzlich im Eingangsbereich, aber wir haben keine Ahnung, wie Sie dorthin gekommen sind."

Er stützte sich mit seinen Händen am Gitter meines Bettes ab und beugte sich leicht vor.

Das goldene Gestell seiner Brille blitzte im schwachen Licht der Lampen leicht auf.

„Können Sie sich an irgendetwas erinnern, das Ihnen letzte Nacht zugestoßen ist?"

Sein Blick hatte mit einem Mal einen gierigen Ausdruck bekommen, der dem gütigen Lächeln keinen Platz mehr ließ.

Es fiel mir erstaunlich leicht, ihm von meinem Streifzug durch den Wald und der Lichtung zu erzählen. Seine Augen wurden noch größer, als ich ihm von dem ungeheuren Werwolf berichtete. Gestochen scharf sah ich ihn vor meinem inneren Auge auf mich zukommen.

Doch dann wurden meine Erinnerungen vage und bruchstückhaft.

Ich entsann mich an den sonderbaren Schutzschild, der, wie mir Heiler Merryweather erklärte, nichts Besonderes wäre, er kenne dieses Phänomen schon aus mehreren Erlebnisberichten anderer Opfer. Auch erinnerte ich mich daran, wie der Werwolf abgeblockt wurde und ich in den Wald rannte. Doch dann - nichts!

Ich erinnerte mich an nichts!

„Sie erinnern sich an nichts! Sie müssen doch noch irgendetwas wissen!", bohrte der alte Mann ungeduldig.

„Nein, es tut mir leid!", erwiderte schneidend ich mit wachsendem Zorn. Sollte ich denn etwas erfinden!

Er schien sich etwas zu beruhigen.

„Es tut mir leid, Miss.", sagte er und atmete tief durch, „Aber es wäre sehr wichtig für die Bestätigung meiner Diagnose. Obwohl ich mir zu 90 sicher bin."

„Welche Diagnose!", fragte ich beunruhigt.

Dr. Merryweather ging zur Tür und vergewisserte sich, dass niemand lauschte. Dann trat er zurück an mein Bett und warf mir einen mitleidigen Blick zu.

Panik stieg in mir hoch.

„Auf welcher Station bin ich hier?", fragte ich aufgeregt, „Ich - ich - ich bin ihm doch entkommen!"

Der Blick meines Heilers wurde noch mitleidiger.

Noch bevor er es aussprach, hatte ich die Gewissheit:

Ich war infiziert.