Disclaimer: Der Charakter Javert gehört Victor Hugo, und alles, was ihm nicht gehört, gehört ganz sicher A. Boublil und C.-M. Schönberg.

für UK, weil Sympathie immer auch eine Frage des Blickwinkels ist, und für Micha, weil es ansteckend war

No way to go on

Er ließ sich einfach in die Tiefe fallen. In die dunkle und, wie ihm merkwürdig deutlich bewußt war, auch nasse Tiefe.

Der Fluß wartete auf ihn, und Inspektor Javert war dankbar dafür. Es gab keinen anderen Weg. Wohin hätte er auch gehen sollen? In einer Welt, in der heuchlerische Menschenliebe Vorrang vor der strikten Ehrlichkeit von Recht und Gesetz hatte, wäre nirgendwo ein Platz für ihn gewesen.

Der Teil seines Selbst, der nicht mit den Gedanken seines verletzten Stolzes beschäftigt war, wunderte sich, wie lange ihm der Sturz in die Seine vorkam.

Ein merkwürdiges Gefühl nahm von ihm Besitz. Er war ein Pfeiler der Brücke, von der er gesprungen war, und sah sich selbst in die Tiefe fallen. Zugleich war er eine der steinernen Figuren auf einer Brücke nicht weit entfernt und sah seinen Körper dem Wasser entgegenstürzen. Er war die Seine...

Dann erschienen vor seinem inneren Auge die Gesichter derjenigen, die in seinem Leben eine Bedeutung gehabt hatten. Da waren Jean Valjean, einige andere Gefangene aus Toulon, an deren Namen er sich nicht erinnerte, die ihm mit ihrer Aufsässigkeit das Leben schwergemacht hatten, mehrere Nonnen aus der Klosterschule, in der er unterrichtet worden war, das Mädchen, bei dem er seine Unschuld verloren hatte, - und seine Mutter.

Das Bild seiner Mutter erschien dem Inspektor wie eine vertraute, lang verborgene Erinnerung aus den tiefsten Winkel seines Gedächtnisses. Ihr Antlitz lächelte, und sie rief ihn bei seinem Vornamen mit warmer Stimme und in der Sprache ihres Volkes.

Javerts Körper erreichte unversehens die Wasseroberfläche.

Nach der Reminiszenz, die gleichermaßen willkommen und unwillkommen gewesen war, traf ihn die Kälte des Flusses bis ins Mark.

Die Wucht des Sturzes war enorm, und so tauchte er sofort komplett ein. Das Wasser schlug über ihm zusammen. Javert schnappte nach Luft. Ungewollt. Zwangsläufig, denn sein Körper wollte leben.

Seine Seele wollte den Tod.

Verbissen kämpfte der Mann gegen den Auftrieb. Er wollte hinab in die Tiefe, zum Tod auf dem Grund des Flusses.

Er vernahm Stimmen, die nicht da sein konnten. Liedfetzen drangen in sein Gedächtnis. Die Choräle seiner Kirche vermischten sich mit Wiegenliedern aus dem Erbe seiner Mutter. Verzweifelt riß Javert die Hände an die Ohren, als könnte er die unerwünschte Musik so vertreiben.

Diese Bewegung brachte ihn rasch wieder ein Stück der Wasseroberfläche näher. Mit der Entschlossenheit eines Lebensmüden kämpfte er dagegen an – und gewann schließlich. Er öffnete seinen Mund, um seine Lungen mit Wasser zu füllen. Der letzte Atem der verfluchten Welt jenseits des Flusses sollte seinen Körper verlassen.

Plötzlich entdeckte er um sich herum eine unendliche Vielfalt an Farben. Das schmutzige Dunkel der Seine war einem Feuerwerk an bunten Schattierungen gewichen. Staunend wie er einst die Sterne am Himmel und ihre unendliche Zahl betrachtet hatte, nahm er nun den Schimmer um sich herum wahr.

Er hielt in seinen Bewegungen inne, und endlich, als hätte der Fluß darauf gewartet, sog sich der Stoff seiner Uniform voll Wasser. Die Schwere des Kleidungsstücks zog ihn in die Tiefe.

Immer mehr Wasser drang in seine Lungen, doch Javert war bereits jenseits jeglicher körperlicher Wahrnehmung. Langsam sank er dem Grund des Flusses entgegen.

Er starb in einem Meer von Farben und einem tiefen Frieden in seiner Seele.