Kapitel 13:
Lizzie schlief lange am nächsten Morgen, länger als sie eigentlich vorgehabt hatte, und schon beim Aufstehen war ihr bewusst, dass sie sich beeilen musste, wenn sie heute noch nach Longbourn aufbrechen wollte, aber wichtiger als das, war ihr vor ihrer Abfahrt noch mit Fitzwilliam zu reden. Sie machte sich mit Bedacht zurecht und zog ein Kleid an, von dem sie wusste, dass Fitzwilliam es an ihr liebte. Es war das Kleid, das sie getragen hatte, als er ihr seinen zweiten Antrag gemacht hatte und, obwohl es schlicht war, sah er sie in diesem Kleid lieber als in all den hübschen und teuren Kleidern, die Lizzie für ihr zukünftiges Leben als Mrs. Darcy gekauft hatte.
Als Lizzie die Treppen hinunter zum Frühstücksraum ging, pochte ihr Herz wie wild und sie war schrecklich aufgeregt. Würde Fitzwilliam ihre Entschuldigung annehmen und ihr verzeihen?
Auf dem Weg zum Frühstücksraum traf sie Mrs. Reynolds. „Wo ist mein Gatte?", wollte Lizzie wissen, die gerade beschlossen hatte, Fitzwilliam noch vor dem Frühstück aufzusuchen, da sie vor Aufregung sowieso nichts hinunter bekommen hätte. „Mr. Darcy ist heute früh weggeritten, aber er lässt Ihnen ausrichten, Sie sollten mit Ihrer Abreise nach Hertfordshire nicht auf seine Rückkehr warten. Eine Welle der Enttäuschung überrollte Lizzie. Er war also wirklich sauer auf sie, so sauer, dass er sie vor ihrer Abreise nicht einmal mehr sehen wollte. Doch so leicht, würde sie nicht nachgeben. „Mrs. Reynolds, ich denke, ich warte doch bis Mr. Darcy zurückkommt. Wo ist er denn hingeritten?", entgegnete sie. Mrs. Reynolds empfand diese Frage offensichtlich als sehr unangenehm, antwortete nach einer kurzen Pause aber doch: „Ihr Ehemann ist nach London aufgebrochen. Er sagte, er hätte dort noch wichtige Geschäfte zu regeln."
Lizzie hörte die Worte wie durch den Nebel. Nach London war er gefahren, er wollte sie nicht nur nicht verabschieden, er wollte sie gar nicht mehr wieder sehen. Sie hatte mit ihren Worten gestern alles kaputtgemacht. Wieso hatte sie sich nicht bloß einmal zurückhalten können? Wieso musste ihr ihr Herz so auf der Zunge liegen?
Schnell teilte sie Mrs. Reynolds mit, sie würde dann doch heute wie geplant abreisen, und floh in das leere Frühstückszimmer. Die vielen Speisen, auf dem Tisch, weckten bei ihr nur Übelkeit, aber sie wusste, sie musste etwas zu sich nehmen, vor allem, wenn sie so lange unterwegs sein würde. So stocherte sie zumindest in ihrem Essen herum ohne jedoch wirklich viel anzurühren. Sie hatte keinen Appetit und glaubte auch nicht je wieder Appetit auf irgendetwas zu haben.
Nach dem Frühstück trieb sie Betty an, sich mit dem Packen zu beeilen. Die Reisevorbereitungen und die daraus resultierende Hektik ließen sie nicht an Fitzwilliam denken. Erst als sie in der Kutsche auf dem Weg nach Longbourn saß, kam sie nicht umhin an ihren Gatten zu denken. Sie dachte an alles, was in den letzten Tagen passiert war, und ein Gefühl der völligen Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus. Wieso hatte nur alles so kommen müssen? Wäre nicht die Krankheit ihrer Mutter gewesen, sie hätte sich gewiss besser zusammenreißen können, trotz Marianne und der Tatsache, dass ihr Gatte nicht sie, sondern eine andere liebte. Sie erinnerte sich wieder daran, was ihr Ehemann ihr nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht versprochen hatte: „Ich verspreche dir, es wird niemals eine andere Frau neben dir geben…"
„Du hast mich damals schon belogen", schrie ihr Herz auf, „du hast mich von Anfang an belogen. Du hast immer eine andere mehr geliebt als mich." Sie wollte aufschluchzen, riss sich aber zusammen. Vor Betty und den anderen Dienern, die sie begleiteten, würden ihr keine Tränen kommen. Schließlich hatte sie noch ihren Stolz. In Gedanken dachte sie erneut an ihre erste Zeit zusammen, an ihre Verlobungszeit, ihre Hochzeit und die erste Zeit hier auf Pemberley. Er hatte ihr so oft seine Liebe gestanden, mit Worten und mit Taten. Konnte das alles einer anderen gegolten haben? Hatte sie ihn so falsch verstanden? Nein, er hatte ihr extra etwas vorgemacht, sie belogen und in die Irre geführt. „Ich muss Ihnen sagen, wie innig ich sie bewundere und liebe."
Es war nie wahr gewesen, nicht damals und nicht heute. Sie hatte sich schwer in ihm getäuscht und musste nun ihr Leben lang dafür bezahlen. Ihre Gedanken kehrten zu ihrem gestrigen Streit zurück. Nun würde er ihr nicht einmal seine vorgespielte Liebe entgegenbringen. Er würde sie mit Kälte und Verachtung behandeln, denn schließlich hasste er Täuschung. Aber tat er das wirklich oder war das auch nur eine Lüge gewesen? Schließlich hatte er sie monatelang getäuscht. Nie war er ihr gegenüber ehrlich gewesen. Alles war Täuschung und Lüge gewesen. Der Gedanke daran sorgte dafür, dass es ihr auch körperlich schlecht ging. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Stein im Magen, dabei hatte sie kaum etwas gegessen. „Ich dachte, ich kenne ihn, aber nun kann ich außer seinem Namen und Titel nichts mehr über ihn sagen, weil ich nicht weiß, was gespielt war und was nicht. Ich weiß nicht mal mehr, wer ich selbst bin, außer, dass ich der größte Dummkopf auf der ganzen Welt bin." Mit diesen Gedanken schwappte eine Welle der Übelkeit über sie hinweg und sie übergab ihr Frühstück in ihren Schoß. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr war übel und schwindelig, sie schämte sich schrecklich und sie fühlte sich völlig allein.
Betty, die Mitleid mit ihrer Herrin hatte, ließ den Wagen sofort anhalten und half Lizzie an die frische Luft. Dort fiel diese auf dem Boden, um mehrmals trocken zu würgen. Obwohl ihr Magen mittlerweile leer war, verschwand die Übelkeit nicht. Sie wünschte sich zu sterben und sank auf dem feuchten Boden zusammen. Betty zog sie schließlich hoch, reinigte ihr Kleid notdürftig und half ihr wieder in den Wagen. Auch trocknete sie Lizzies Tränen, aber Lizzies Scham angesichts dieser Situation konnte sie ihr nicht wegnehmen oder abwischen. Und auf dem restlichen Weg nach Longbourn quälte diese Lizzie noch mehr als die ständige Übelkeit.
Nach zwei Tagen kam Lizzie endlich auf Longbourn an. Sie war froh, dass die anstrengende Reise zu Ende war, aber als ihr Vater sie begrüßte, spürte sie, dass ihr Zuhause sich seit ihrer Hochzeit sehr verändert hatte. Ihr Vater sah müde und abgespannt aus. Er lächelte zwar, als er sie begrüßte, aber das Lächeln erreichte nie seine Augen. Lizzie dachte, dass sie ihm Unrecht getan hatte, als sie geglaubt hatte, er hinge nicht mehr an ihrer Mutter. Die Krankheit seiner Gattin ging ihm deutlich nahe. „Es ist gut, dass du da bist, Lizzie", empfing er sie, „Jane kümmert sich rührend um deine Mutter, aber sie kann nicht deine Mutter pflegen und noch den Haushalt hier führen. Ich dachte, es ist besser, wenn du kommst und ihr zur Hand gehst. Außerdem hat deine Mutter ausdrücklich nach dir verlangt." Lizzie nickte, sie konnte sich vorstellen, dass Mary und Kittie keine große Hilfe waren. Und tatsächlich herrschte im Haus Unordnung und Chaos, so dass Lizzies trotz ihrer Erschöpfung beschloss, sobald sie nach ihrer Mutter geschaut hätte, das Haus auf Vordermann zu bringen.
Lizzie hatte mit vielem gerechnet, als sie das Krankenzimmer ihrer Mutter betrat, nur nicht mit dem, was sie vorfand. Ihre laute, hysterische, pausbackige Mutter lag bleich und schwach in ihrem Bett. Sie klagte nicht darüber, dass ihre Nerven belastet seien, sie klagte überhaupt nicht.
„Lizzie", begrüßte sie ihre Tochter mit matter Stimme, die genauso wenig zu Mrs. Bennet passte wie ihre Erscheinung, „du bist gekommen."
Lizzie ließ sich am Bett ihrer Mutter nieder und ergriff deren Hand. „Gut, dass du gekommen bist", fuhr Mrs. Bennet fort, „Ich wollte dich noch einmal sehen und außerdem wollte ich dich bitten, dass du dich mit Jane zusammen", sie nickte zur anderen Bettseite, wo Jane saß, „um Mary und Kittie kümmerst. Versprich mir das bitte, Lizzie!" Normalerweise hätte Lizzie eine solche Bemerkung erheitert, zeigte es doch, dass ihre Mutter sich trotz ihrer Krankheit nicht so sehr verändert hatte, aber Lizzie war in dieser Situation eher zum Heulen zumute. Sie drückte leicht die Hand ihrer Mutter, versprach ihr, sich um ihre Schwestern zu kümmern und blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren. Sie wünschte sich in diesem Moment so sehr, dass Fitzwilliam bei ihr wäre und ihr seine Hand auf die Schulter legte, dass es ihr schon physisch wehtat. Doch sie musste das alleine bewältigen, Fitzwilliam würde nicht einmal dann zu ihr kommen, wenn sie darum anflehte. Oh, wie musste er sie jetzt hassen!
Die nächsten Tage wurden für Lizzie schwer. Sie arbeitete von morgens früh bis abends spät. Sie brachte Ordnung in den Haushalt, kümmerte sich um ihre Mutter, spendete ihrem Vater und Kittie Trost und schaffte es sogar noch die empfindsame Kittie vor Marys weisen „Trostworten" abzuschirmen (Mary sprach nämlich von der Krankheit ihrer Mutter als Strafe für das Verhalten von Lydia). Bei all diesen Verpflichtungen blieb Lizzie tagsüber kaum Zeit zum Nachdenken. Dafür traten ihre Ängste bezüglich ihrer Mutter und die Verzweiflung über die Situation zwischen ihr und ihrem Gatten nachts desto deutlicher zu Tage. Sie lag trotz aller Erschöpfung oft stundenlang wach, bevor sie endlich in einen meist unruhigen Schlaf fallen konnte. Morgens wachte sie früh auf und konnte nicht mehr einschlafen. Zunächst hatte Lizzie daran gedacht, ihrem Gatten einen erklärenden Brief zu schreiben, in dem sie ihn um Entschuldigung bat, doch ihr fielen nie die richtigen Worte ein und so beschloss auf einen Brief seinerseits zu warten, der nach etwa einer Woche kam:
Liebe Mrs. Darcy,
ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass ich einige Zeit in London und Umgebung zu bleiben gedenke. Falls Sie wünschen, dass ich Sie in Hertfordshire abhole, schreiben Sie mir bitte nach London. Sobald ich London verlassen habe, werde ich mich noch einmal bei Ihnen melden.
Mit freundlichen Grüßen,
E. D.
Fitzwilliam Darcy
Nach diesem Brief beschloss Lizzie, dass es nichts brachte, ihm einen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Sie war ihm offensichtlich völlig egal. Da würde sie sich sicher nicht demütigen und ihm von ihrer Liebe schreiben und so sandte sie ihrem Gatten einen ebenso kühlen und unpersönlichen Brief zurück.
Zu allen seelischen Belastungen, die Lizzie spürte, sollten auch noch körperliche Belastungen hinzukommen. Als sie auf Longbourn angekommen war, waren ihre Magenbeschwerden zunächst verschwunden, so dass Lizzie ihre Übelkeit auf dem Hinweg als kleine Magenverstimmung abtun konnte. Doch dann, nachdem sie schon einige Zeit in Longbourn war, kehrte auf einmal die Übelkeit zurück. Zunächst hielt Lizzie es für eine kurze Erkrankung und sie begann auch schon sich am Nachmittag des ersten Tages wieder besser zu fühlen, aber dann war ihr am nächsten Tag wieder schlecht und am übernächsten, so dass sie nicht anders konnte, als sich Sorgen zu machen. Normalerweise hätte sich Lizzie wahrscheinlich von einer solchen Magenverstimmung nicht aus der Fassung bringen lassen, aber sie hatte schließlich ihre kranke Mutter täglich vor Augen und so kam ihr der Gedanke, sie könnte schlimmer erkrankt sein. Dieser Eindruck verstärkte sich noch zunehmend, als sie einmal fast in Ohnmacht gefallen wäre. Und Bettys beunruhigter Blick, den Lizzie manchmal beobachten konnte, wenn ihre Dienerin glaubte, sie sehe sie nicht, trug nicht unbedingt dazu bei, ihre Ängste zu zerstreuen.
Lizzie überlegte sogar sich einmal vom Arzt ihrer Mutter untersuchen zu lassen, aber dann fiel ihr ein, wie sehr eine solche Untersuchung ihren Vater und ihre Schwestern beunruhigen würde, und so unterließ sie es. Und dann war da auch noch die Tatsache, dass sie nicht zu genau wissen wollte, wie es um sie stand. Wie sollte sie es vor ihrer Familie verbergen, wenn sie wirklich schwerkrank war? Wie sollte sie damit leben zu wissen, dass sie sterben würde, ohne auch nur einer Menschenseele davon zu erzählen? Denn Lizzie war fest davon überzeugt, dass sie, was auch immer sie hatte, es vor ihrer Familie verstecken müsste. Sie wollte nicht, dass die anderen sich neben den Sorgen um ihre Mutter auch noch Sorgen um sie machen mussten. So tarnte sie in der ersten Zeit ihre ständige Übelkeit als Magenverstimmung und achtete später darauf zu den Zeiten, wo es ihr besonders schlecht ging, nicht im Haus zu sein. Morgens war ihre Übelkeit immer am schlimmsten und so machte sie es sich zur Regel um diese Zeit einen langen Spaziergang zu machen. Sie ging dahin, wo es unwahrscheinlich war jemanden zu treffen, und so sah niemand, wie schlecht es ihr wirklich ging.
Zwar bemerkten ihr Vater und Jane wohl, dass sie blasser geworden war, aber keiner von beiden wagte sie danach zu fragen: Ihr Vater nicht, weil er offensichtlich Angst hatte, zu hören, dass sie wie ihre Mutter sterbenskrank war, und Jane nicht, weil Lizzie sie, schon seit sie in Hertfordshire war, von sich wegstieß. Lizzie konnte es einfach nicht ertragen zu sehen, wie glücklich Mr. Bingley und Jane waren. Das erinnerte sie zu sehr an ihr eigenes unglückliches Eheleben und so vermied sie es viel mit Jane zusammen zu sein. Sie liebte ihre Schwester und war froh, dass es zumindest ihr gut ging, aber genauso neidisch war sie auch auf sie. Sie hatte das, was sie nicht hatte: Einen Mann, der sie liebte. Und das konnte Lizzie Jane nicht verzeihen, so sehr sie es sich auch wünschte.
Ein oder zwei Mal hatte Lizzie darüber nachgedacht, sich ihrer Schwester zu öffnen und ihr alles, was sie bewegte, zu erzählen, aber es dann nie über sich gebracht. Ihre Schwester war einfach zu glücklich, sie würde ihren Schmerz und ihre Probleme nicht verstehen können. Außerdem wollte Lizzie, die sah, dass die Krankheit ihrer Mutter Jane schon genug mitnahm, ihrer Schwester nicht noch mehr aufbürden.
So blieb Lizzie mit ihren Ängsten völlig allein. Oft weinte sie sich in den Schlaf, doch häufig war sie sogar dafür zu erschöpft. Wenn sie allein war und nicht für ihre Familie stark und hoffnungsvoll sein musste, brachte sie zumeist nicht einmal mehr ein kleines Lächeln zustande. Sie war völlig ausgelaugt und manchmal nahe dran Fitzwilliam in einem Brief anzuflehen zu ihr zu kommen und ihr beizustehen, doch ihr Stolz sorgte dafür, dass jeder dieser Briefe letztlich im Feuer landete und nie bei ihrem Ehemann ankam.
