AN: Die lange Pause tut mir wirklich, wirklich leid. Ich hoffe, ich habe nicht meine wenigen Leser verloren. Ich hatte jedoch in den letzten Wochen oft keinen Internetzugang und das Kapitel war auch viermal so lang wie die vorherigen.


Irgendwo in den Adirondack Mountains

Eames erwachte langsam. Ihr Kopf drehte sich. Für eine ganze Weile war das das einzige dessen sie sich bewusst war; und sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst, sie würde entdecken, dass sie sich drehte und es nicht nur ihr Kopf war.

Langsam, ganz langsam wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr gebunden war und auch nicht mehr auf kaltem Zementboden lag. Sie war umgeben von frischer (wenn auch eiskalter) Luft; und als sie ihre Hände bewegte, fühlte sie weiche Erde unter ihren Fingern.

Letztendlich gewann ihre Neugier die Oberhand und Eames öffnete die Augen.

Das erste was sie bemerkte war das Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel hoch über ihr schien. Sie blinzelte; nach fast zwei Tagen in totaler Dunkelheit gewöhnten sich ihre Augen nur langsam wieder an das Tageslicht. Sie ging das Risiko ein, ihren Kopf leicht zur Seite zu neigen, um einen besseren Blick auf ihre Umgebung zu bekommen. Es gab nicht viel mehr zu sehen, als Büsche, Unterholz und Bäume.

Leicht stöhnend brachte sie sich in eine sitzende Position und zuckte wegen den Schmerzen in ihren Handgelenken zusammen. Sie waren rot und wund und bluteten immer noch von den Stricken die sie zwei Tage lang so fest gebunden hatten. Bei näherer Untersuchung fand sie, dass es ihren Fußgelenken nicht besser ging.

Das Gesicht verziehen sah sie sich weiter um und dann sah sie ihn. Goren lag in der Nähe auf dem Boden, unbeweglich und anscheinend noch bewusstlos. Aus Rücksicht auf ihren Kopf bewegte sich Eames langsam als sie zu ihrem Partner hinüberging.

„Bobby . . ."

Ihr Hals war trocken und rau. Sicher eine Nebenwirkung der Droge, die in ihrem letzten Wasser gewesen war. Sie setzte sich neben ihn, fasste seine Schulter und schüttelte ihn leicht.

„Bobby, wach auf!"

Er rührte sich als sie ihn anfasste, ein kleines Wunder wenn man seine Kopfwunde bedachte. Sein halbes Gesicht war mit getrocknetem Blut bedeckt.

„Komm schon, du musst aufwachen!", murmelte sie; aber im selben Moment wurde ihr klar dass sie nichts lieber tun würde, als sich neben ihn zu legen und wieder einzuschlafen. Seine Augen öffneten sich langsam, dann stöhnte er und schloss sie wieder.

„Mein Kopf tut weh . . .", stöhnte er.

„Ich weiß.", sagte sie und fühlte neue Besorgnis in ihrem Inneren. „Aber du musst aufwachen. Bobby, ich weiß nicht, wo wir sind."

Seine Augen öffneten sich wieder. Er starrte sie einen Moment lang an, brachte sich dann endlich in eine sitzende Position und zuckte bei dem heftigen Schmerz zusammen, der durch seinen Schädel fuhr. Als der Schmerz abflaute, schaute er sich langsam um und registrierte seine Umgebung mit wachsender Verwirrung.

„Wo sind wir?", murmelte er. Eames schüttelte ihren Kopf, bereute diese Bewegung jedoch als sie ein neuer Schwindelanfall überkam.

„Ich weiß nicht. Aber noch wichtiger: wo ist Mathers?"

Goren verzog das Gesicht und kam wackelig auf die Beine. Wortlos stellte Eames fest, dass auch seine Handgelenke von den zwei Tagen die sie gebunden in Mathers' Haus verbracht hatten blutig waren.

Er reichte ihr die Hand und sie stand auf und schaute sich um.

„Irgendein Wald.", murmelte Goren, eher zu sich selbst als zu Eames. „Fühlt sich an als wären wir ziemlich hoch, also konnte es ein Gebirgszug sein . . ."

Er wurde still als sein Blick auf etwas fiel. Sie folgte seiner Blickrichtung und fühlte kalte Schauer über ihren Körper rasen. In der Nähe steckte ein Pfeil in einem Baumstamm und pinnte ein Blatt Papier fest. Goren tauschte einen Blick mit Eames, ging dann hinüber und riss das Papier ab.

„Bitte sag mir, dass darauf eine Karte is.", bettelte sie. Goren schaute grimmig.

„Da haben wir kein Glück. Hier steht: ‚Detectives, ich hatte euch versprochen ihr müsst nicht lange warten. Jetzt werdet ihr aus erster Hand erfahren, wie ich meine Beute ins Jenseits befördere. Ich werde mit euch beiden die ultimative Jagd veranstalten. Ich bin natürlich der Jäger und ihr seid die Beute. Wenn ihr bis zum Mittag des dritten Tages überlebt, lasse ich euch laufen. Viel Glück. PS: Ich schlage vor ihr geht nach Westen.' Verdammt . . . ich glaube wir haben ein Problem."

„Er will dass wir nach Westen gehen.", murmelte Eames. „Ich würde sagen, wir gehen nach Osten."

Goren starrte den Zettel an und schüttelte dann den Kopf.

„Nein . . . wenn wir nach Osten gehen, werden wir ihm genau in die Arme laufen."

„Woher willst du das wissen, Bobby?"

„Dieser Kerl . . . er ist ein Jäger. Er plant drei ganze Tage für das hier. Es wäre zu einfach für ihn, uns falsche Hinweise zu geben. Er will eine Herausforderung. Er will dass wir so viel wie möglich Vorsprung haben, bevor er uns folgt."

Eames schloss ihre Augen für einen Moment und presste ihre Handfläche gegen die Stirn.

„Wie sind wir nur in dieses Schlamassel geraten?"

Sie fühlte eine große, starke Hand als er ihre Hand nahm.

„Wir werden es schaffen. Solange wir zusammen bleiben, sind wir okay."

Sie sah ihn zweifelnd an.

„Mathers hat es so geplant, dass wir scheitern, egal was wir tun. Selbst wenn wir ihm entwischen, haben wir Glück wenn wir die Nächte überleben. Fühlst du nicht wie kalt es ist? Sieh uns doch an!"

Zum ersten mal wurde ihm klar, was sie meinte. Er trug nur Hose und Hemd. Seine Schuhe, Socken, Unterhemd und Jackett waren verschwunden. Bei Eames sah es ähnlich aus. Keine Schuhe, kein Jackett, nur Hose und Tanktop. Niedergeschlagen stellte er fest, dass sie recht hatte. Selbst wenn sie den ersten Tag überlebte, würde die Kälte der Nacht sie wahrscheinlich beide umbringen.

Sein Händedruck wurde ein bisschen stärker.

„Ich werde nicht aufgeben, Alex. Und du auch nicht, okay?"

Ihr traten Tränen in die Augen.

„Ich habe Angst, Bobby. Ich glaube nicht, dass ich schon jemals in meinem Leben so viel Angst hatte."

Er zog sie an sich und umarmte sie fest. Er dachte verschwommen, dass es das erste mal in ihrer gemeinsamen Geschichte war, dass sie solchen Körperkontakt hatten. Sie schlang ihre Arme fest um seine Taille und legte ihren Kopf gegen seine breite Brust.

„Ich habe auch Angst.", gab er leise zu. „Aber ich bin auch nicht bereit, jetzt schon zu sterben und ich werde nicht kampflos aufgeben."

„Okay.", flüsterte sie endlich. „Versprich mir, dass wir zusammen bleiben, egal was auch passiert?"

Er nickte.

„Das verspreche ich."

Sie ging ein stück zurück und sah zu ihm auf. Vorher hätte es sie beunruhigt, aber jetzt tröstete es sie, dass sich ihre eigenen Tränen in seinen Augen widerspiegelten. Er hatte genauso viel Angst wie sie und irgendwie gab ihr das Kraft. Sie ging einen kleinen Schritt, ließ aber seine Hand nicht los.

„Okay. Gehen wir."


Drei Stunden später.

„Ich muss anhalten.", sagte Eames müde. „Meine Füße bringen mich um, Bobby."

Er nickte verständnisvoll. Nachdem sie stundenlang barfuss über raues Terrain gelaufen waren, taten auch seine Füße weh.

Sie waren gerade an einen kleinen Bach gelangt und es schien die perfekte Gelegenheit, anzuhalten und sich auszuruhen. Am Rand des Baches sitzend, tranken sie das eiskalte Wasser und wuschen ihre müden, schmerzenden und blutenden Füße.

„Wir können nicht lange hier bleiben.", murmelte Bobby. „Unsere drei Stunden sind um. Er wird bald hinter uns her sein."

Sie antwortete nicht darauf, sondern schöpfte mit einem großen Blatt Wasser und benutzte ihre Fingerspitzen, um sanft das trockene Blut von seinem Gesicht abzuwaschen.

„Wie geht's deinem Kopf?"

Er antwortete ehrlich. In ihrer Situation war lügen sinnlos.

„Nicht besser. Fühlt sich an als hätte jemand mit einem Vorschlaghammer draufgeschlagen."

„Ich hoffe nur, dass es nicht schlimmer wird. Du musst das untersuchen lassen."

Sie war fertig damit, das Blut aus seinem Gesicht zu waschen und fing an seine Handgelenke zu säubern. Als sie fertig war, tat er das gleiche für sie und wusch das Blut sanft von ihren Handgelenken.

„Wie geht's deiner Schulter?", fragte er. „Du hast gesagt sie könnte ausgerenkt sein."

Sie verzog das Gesicht. Selbst mit einer ersten Kopfwunde war sein Gedächtnis immer noch messerscharf.

„Sie ist nicht ausgerenkt . . . zumindest jetzt nicht mehr. Aber sie tut verdammt weh."

„Kann ich sie ansehen?"

Sie zog ihre Schulter aus dem Tanktop und enthüllte so ein geschwollenes und blutunterlaufenes Schultergelenk.

„Warte mal eine Sekunde.", murmelte er. „Ich denke ich kann etwas dagegen tun."

Sie schaute ihm zu als er eine Handvoll Schlamm aus dem Bachbett schöpfte und auf eine Schicht Moos vom Ufer tat. Dann drückte er es sanft gegen ihre Schulter. Sie erschauerte und musste einen Schmerzensschrei unterdrücken, aber der Schmerz flaute bald ab als die provisorische Kältepackung ihre entzündete Schulter beruhigte. Er wies sie an, die Packung an Ort und Stelle zu halten und bevor sie protestieren konnte, riss er die Ärmel von seinem Hemd und machte daraus eine primitive Bandage um ihre Schulter, die die Schlammpackung dort hielt.

„Bobby . . .", knurrte sie leise. Er antwortete mit einem asymmetrischen Schulterzucken.

„Was nützen mir die Ärmel schon? Wie ist das jetzt?"

„Besser.", gab sie zu. „Danke."

Er schaute auf zum Himmel. Die Sonne war direkt über ihm, also war es ungefähr Mittag. Er wollte gerade vorschlagen weiterzugehen, als das unerwartete Geräusch eines zerbrechenden Zweiges in der Nähe die Stille brach.

Sie schauten sich wortlos an, Angst und Verwirrung in beiden Gesichtern. Sie hatten drei Stunden Vorsprung, sicher hatte Mathers sie noch nicht eingeholt . . . außer . . .

Kalte Wellen der Panik überrollten sie als Alex ihre Hand ausstreckte.

„Der Zettel.", flüsterte sie mit angstvoll angespannter Stimme. „Zeig ihn mir."

Er zog ihn aus seiner Tasche und gab ihn ihr. Sie las ihn schnell durch und schaute einen Moment später mit aufgerissenen Augen auf.

„Ich denke wir haben das falsch verstanden. Hier steht, wir haben drei Stunden Vorsprung, aber nicht ab wann. Wir haben einfach angenommen es wäre ab dem Zeitpunkt als wir aufwachten . . ."

Bobby wusste genau, was sie meinte.

„Es bedeutete wahrscheinlich ab dem Zeitpunkt, als er uns dorthin brachte. Es kann sein, dass wir die meiste Zeit bewusstlos waren . . ."

„Und das bedeutet, dass er vielleicht schon die ganze Zeit knapp hinter uns war.", beendete Alex den Gedanken.

Ein lautes Pfeifen zerbrach die Stille und beide duckten sich unwillkürlich. Ein dumpfer Schlag war zu hören und als sie wieder aufsahen, steckte ein Pfeil in einem Baumstamm wo kurz vorher noch Alex' Kopf gewesen war.

Bobby reagierte sofort, griff ihre Hand und stürzte sich in das dichte Unterholz.

Sie rannten blind, ohne eine Ahnung, wohin. Alles was sie wollten war, so weit wie möglich von ihrem Verfolger weg zu kommen. Es gab keine Geräusche, die von seiner Nähe zeugten, aber sie wollten kein Risiko eingehen. Sie rannten immer weiter, die Hände fest ineinander.

Alex atmete stoßweise und Bobby musste sie fast hinter sich her zerren, damit sie mit seinen großen Schritten mithalten konnte. Sie war schon bereit ihn zu bitten sie einfach hier zu lassen, als sie wieder ein Pfeifen, diesmal tiefer als das vorhergehende, hörten. Alex schnappte nach Luft als Bobby sie hochhob, vor sich zog und mit seinem Körper abschirmte.

Einen Augenblick später schrie er vor Schmerz, stolperte vorwärts und fiel auf den Boden. Alex fiel mit ihm und konnte geradeso vermeiden, unter seiner Masse begraben zu werden.

Benommen und ängstlich kämpfte sie sich auf die Beine und sah, was ihren Partner zu Fall gebracht hatte. In seinem Rücken steckte eine metallene Kugel, etwas halb so groß wie eine Billardkugel und bewehrt mit langen Spitzen.

Alex blickte sich panisch um. Sie konnte hören, dass jemand durchs Unterholz brach, immer noch entfernt aber sicherlich nahe genug um Bobbys Schmerzensschrei gehört zu haben. Wenn sie nicht schnell etwas tat, würde Mathers in wenigen Minuten bei ihnen sein.

Sie blickte sich wild um und dann sah sie es. Versteckt zwischen dichten Büschen und herabhängenden Schlingpflanzen gab es eine Öffnung in der Felswand. Wäre Bobby nicht an genau dieser Stelle gefallen, hätten sie die verpasst. Sie schätzte die Öffnung war groß genug für sie beide. Sie konnte nur hoffen und beten, dass sie nicht schon besetzt war.

„Bobby", flüsterte sie mit dringlicher Stimme und er sah sie mit vor Schmerz glasig werdenden Augen an. Sie zeigte auf die Öffnung und hoffte er verstand. Er verstand und mit sichtbarer Anstrengung kletterte er über den unebenen Boden und quetschte sich durch die Öffnung. Alex zögerte und sah sich noch einmal um, dann folgte sie ihm in die Dunkelheit.

Sie fanden sich in fast vollständiger Dunkelheit wieder. Alex ließ sich neben Bobby auf den Boden fallen, während sie verzweifelt versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Bobby drückte sein Gesicht gegen seine nackten Arme und obwohl er keinen Laut von sich gab, fühlte sie dass er heftig zitterte. Der Schmerz von der Kugel musste schrecklich sein und man konnte nicht wissen, welchen Schaden sie verursacht hatte oder immer noch verursachte.

Sie schlang ihre Arme um seine Taille um sowohl ihm als auch sich selbst Trost zu spenden. Langsam wurde ihr Atem ruhiger und sein Zittern flaute ab. Minuten vergingen, in denen sie Seite bei Seite lagen und in vollständiger Stille warteten, da keiner von ihnen wagte ein Geräusch zu machen.

Alex fing schon an sich zu fragen, ob Mathers in eine ganz andere Richtung gegangen war als sie deutlich Schritte hörte, nur Meter entfernt, fast genau vor dem Eingang zu der winzigen Höhle in der sie sich versteckten.

Sie und Bobby erstarrten und wagten kaum zu atmen. Die Minuten zogen vorbei und sie hörten zu wie Mathers in der Näher herumging. Einmal schien es Alex als hätte Mathers genau vor dem Eingang angehalten und ihr Puls stieg als sie auf die scheinbar unausweichliche Entdeckung wartete.

Dazu kam es nicht. Endlich, nach einer fast unaushaltbaren Zeit, ging Mathers weiter; seine Schritte wurden leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren.

Immer noch wartete Alex und ließ Minuten vergehen. Sie wollte sichergehen, dass Mathers wirklich verschwunden war, bevor sie sich bewegte.

Endlich, als sie nicht länger warten konnte, schob sie sich um Bobbys unbewegliche Gestalt herum zum Eingang der Höhle. Dann fühlte sie seine Hand die ihre greifen. Als sie zurückschaute, sah sie dass er sie mit schmerzvollen Augen beobachtete.

„Ich will nur sicher gehen, dass er weg ist.", flüsterte sie. „Es ist okay, Bobby. Mir wird nichts passieren."

Unwillig ließ er sie gehen, die Angst in seinen Augen nur zu offensichtlich. Alex atmete tief ein und kroch hinaus in die Sonne.

Es stellte sich heraus dass es keinen Grund zur Angst gab. Mathers war wirklich weitergegangen und hatte ihnen so wertvolle Zeit zum Erholen gegeben. Dankbar für die Pause, wie kurz sie vielleicht auch war, schlüpfte Alex zurück in die Höhle zu Bobby.

„Er ist weg.", sagte sie erschöpft, aber immer noch mit leiser Stimme. Ihr Blick fiel auf seine neue Wunde und fühlte wie ihr Magen bei dem Anblick schlingerte. Die Kugel steckte tief im Fleisch seiner Schulter und die Spitzen hatten die Haut in verschiedenen Winkeln durchbrochen. Sie zu entfernen würde ein Alptraum sein.

„Was ist es?", fragte er, die Stimme angespannter als sie je von ihm gehört hatte. Sie zögerte und starrte die spitzenbewehrte Kugel lange an bevor sie ihm antwortete.

„Es ist eine Art metallene Kugel . . . mit Spitzen. Sie steckt ziemlich tief."

„Kannst . . . kannst du es herausziehen?"

„Ich weiß nicht.", antwortete sie mit widerwilliger Ehrlichkeit. „Ich schätze die Frage ist: Willst du, dass ich es versuche?"

„Ja."

Er flüsterte so leise, dass sie es fast überhörte. Sie schaute grimmig auf die Wunde. Ja, es musste heraus, aber das würde die Hölle für ihn werden.

„Bobby, die Spitzen stecken in verschiedenen Winkeln drin. Es wird schmerzhaft sein . . . sehr schmerzhaft."

Ohne dass sie es sagen musste, wusste er dass das wahrscheinlich noch untertrieben war.

„Kannst du mir etwas bringen, auf das ich beißen kann?", fragte er mit wieder zittriger Stimme. „Ein Stück Holz . . . vielleicht ein Stock?"

Sie nickte.

„Ich werde etwas finden. Warte hier, okay?"

Wieder schlüpfte sie nach draußen und ließ ihn allein.

Bobby wartete mit wachsender Beklommenheit auf ihre Wiederkehr. Er wusste, dass es getan werden musste. Den Schmerzen die er jetzt fühlte nach zu urteilen, würden die kommenden Schmerzen schlimmer sein, als alles was er je erlebt hatte. Allerdings gab es zwei Dinge, die er nicht geschehen lassen würde. Das erste war, dass er nicht wieder schreien und damit Mathers auf sie aufmerksam machen würde. Als zweites wollte er nicht ohnmächtig werden.

Er wusste, und er glaubte Alex wusste es auch, dass sie nicht lange in der Sicherheit dieser Höhle bleiben können würden. Früher oder später – hoffentlich später – würde Mathers sich bewusst werden dass er ausgetrickst worden war und zurückgehen um nach ihnen zu suchen.

Er glaubte, das beste was sie jetzt tun konnten war, in eine vollständig andere Richtung zu gehen. Soweit er wusste, waren sie immer nach Westen gegangen. Er entschied dass es Zeit war, nach Süden oder Norden zu gehen.

Bewegung sagte ihm, dass Alex zurück war. Sie setzte sich neben ihm und half ihm, das Stück Holz in den Mund zu nehmen.

„Beiß drauf.", murmelte sie. „Okay . . . Bobby, das wird schmerzhaft, mach dich auf etwas gefasst."

Das hatte er schon, stellte sie einen Moment später fest. Während sie zusah, entspannte er bewusst seinen Oberkörper, besonders seine Schultern. Seine Hände jedoch waren zu Fäusten geballt und sein Kiefer klemmte das Stück Holz ein wie ein Schraubstock.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Metallkugel zu. Sie fasste die hervorstehenden Spitzen vorsichtig an und zog.

Zwei Dinge passierten. Bobby wurde steif und obwohl er kaum ein Geräusch von sich gab, hörte Alex ein dumpfes Krachen, als er durch das Holz biss. Zur gleichen Zeit stellte sie entsetzt fest, dass die Spitzen nicht nur die Haut durchstießen, sondern so tief eingedrungen waren, dass sie im Knochen feststeckten.

„Bobby . . .", flüsterte sie ängstlich.

„Zieh es raus.", flehte er. „Zieh es einfach nur raus . . ."

Sich stählend, fasste sie wieder an und zog mit all ihrer Kraft. Nach einigen entsetzlichen Sekunden kam die Kugel frei und konnte aus seiner Schulter gezogen werden.

„Es tut mir leid.", flüsterte sie ohne noch länger ihre Tränen zurückhalten zu können. „Oh Gott, es tut mir leid . . ."

„Danke.", flüsterte er. Seine Stimme brach und sein Körper zitterte vor unterdrücktem Schluchzen.

Alex sah sich die Wunde an, die jetzt blutete, und fragte sich was sie dagegen machen konnte. Endlich entfernte sie wortlos die provisorische Bandage von ihrer Schulter und verband damit seine Wunde.

„Was machst du?", fragte er rau und versuchte von ihr wegzurücken.

„Kein Streit.", schimpfte sie. „Du brauchst das mehr als ich."

Dass er nicht weiter protestierte, war ein Zeichen dafür unter wie viel Schmerzen er litt, dachte sie traurig. Sie verband ihn fertig und legte sich dann neben ihn hin. Dabei sah sie seinen rechten Arm. Nachdem er das Stück Holz durchgebissen hatte, hatte er anscheinend in das nächstbeste gebissen. In seinem Arm, gleich über dem Handgelenk, war ein böser Biss. Seit Jorge Galvez ihn gebissen hatte als Bobby ihn bei der Veteran's Day Parade festgenommen hatte, hatte sie nichts vergleichbares gesehen. Damals hatte er eine Tetanus-Spritze bekommen und war genäht worden; und die Bisswunde war nicht so tief gewesen wie diese jetzt. Beinahe hätte er sich ein Stück Fleisch aus seinem eigenen Arm gebissen.

Sie legte ihre Hand sanft über die Wunde und schaute mitfühlend in sein tränenüberströmtes Gesicht. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen und es war seltsam tröstlich zu wissen, dass er dessen fähig war.

„Wir sollten weitergehen.", flüsterte er, obwohl er nicht die Absicht haben zu schien, sich zu bewegen. Sie umarmte ihn sanft, wobei sie vorsichtig die Wunde in seinem Rücken vermied.

„Wir können uns noch ein paar Minuten lang ausruhen."

Er stimmte ohne Diskussion zu; einen Moment später schlossen sich seine Augen und er fiel in einen leichten Schlaf. Alex schloss auch ihre Augen, erlaubte sich aber nicht den Luxus des Schlafes. Sie würde ihm fünfzehn Minuten geben bevor sie ihn weckte. Er brauchte weiß Gott Zeit, sich von dem Schock zu erholen; und wenn sie ehrlich war ging es ihr genauso.

Als sie so dalag fragte sie sich was jetzt wohl zu Hause, im Major Case Squad Room passierte. Ob Deakins nach ihrem Verschwinden alles in Bewegung versetzt hatte? Oder hatte er alles unter Verschluss gehalten und eine subtile Ermittlung begonnen? Sie hoffte, es war das erste. In ihrer hoffnungslosen Situation tröstete es sie ein wenig, zu denken dass die gesamte NYPD in Alarm versetzt war.

Jedoch wusste sie es besser, als dass sie hoffte, gefunden zu werden. Wenn sie diesen Alptraum überleben wollten, konnten nur sie etwas dafür tun.

Natürlich stand auf dem Zettel, dass sie gehen konnten, wenn sie bis zum Mittag des dritten Tages überlebten, aber sie schenkte diesem Versprechen keinen Glauben. Mathers hatte nicht vor, sie überleben zu lassen, selbst wenn sie die gegebene Zeit überlebten. Die Frage war: würden sie durch Flucht überleben, oder würde ein Punkt kommen, an dem ihnen keine Wahl blieb als zu kämpfen? Sie hoffte und betete dass wenn und falls dieser Moment kam, sie immer noch fähig wären, Widerstand zu leisten. Sie hatte genauso wenig vor ohne Kampf zu sterben wie Bobby, aber wenn sie beide noch mehr solche Wunden erlitten wie die von Bobby, bezweifelte sie dass sie die Kraft haben würden zu kämpfen.

Sie setzte sich auf, wobei sie versuchte, Bobby nicht zu stören, nahm die Metallkugel und schaute sie sich im Dämmerlicht der Höhle an. Sie war ein bösartiges Folterinstrument und Alex verstand endlich, was die schrecklichen Wunden, die die Körper der fünf Opfer bedeckten, verursacht hatte.

Sie drehte die Kugel vorsichtig um, erstarrte jedoch als sie bemerkte, dass zwei der Spitzen fehlten, abgebrochen an der Basis. Sie schaute wieder auf Bobby und fühlte ihr Herz im Hals schlagen. Es gab nur eine Erklärung: die abgebrochenen Spitzen steckten noch in seinem Rücken.

Alex schloss ihre Augen gegen die drohenden Tränen und fragte sich verzweifelnd, ob es ihr Schicksal war, hier inmitten der Wildnis von einem der Psychopaten umgebracht zu werden, die sie die letzten fünf Jahre zusammen dingfest gemacht hatten.

Sie wurde zurück in die Realität gerissen, als sich Bobby rührte und versuchte sich aufzusetzen, aber zusammenzuckte, als der Schmerz durch seine verwundete Schulter schoss.

„Vorsichtig, Bobby.", murmelte sie und versuchte dabei ihre Stimme nicht brechen zu lassen. „Mach langsam."

Er setzte sich langsam auf und erschauerte vor Schmerz.

„Ich frage gar nicht erst wie du dich fühlst.", sagte sie und lächelte ihn schwach an. Er ah zu ihr hinüber und die Andeutung eines Lächelns war auf seinen Lippen.

„Danke."

„Bereit, weiterzugehen?"

Er antwortete nicht, sondern wandte seine Aufmerksamkeit seiner Schulter zu. Sie sah zu, als sich die Muskeln seiner Schulterleicht spannten, gefolgt von einem erstickten Schluchzen von ihm.

„Irgendetwas ist immer noch da drin . . ."

„Zwei der Spitzen.", bestätigte sie leise. „Es gibt nichts was ich dagegen tun könnte."

Da sah er sie an; und selbst in der Dunkelheit sah sie in seinen Augen etwas jenseits des Schmerzes. Sie sah Schuldgefühle . . .

„Es tut mir leid, Alex."

Sie starrte ihn ungläubig an.

„Was tut dir leid?"

„Alles hier . . ."

Wenn er nicht schon verletzt gewesen wäre, hätte sie ihn möglicherweise geschlagen.

„Erzähl mir ja nicht dass es deine Schuld ist, du weißt verdammt gut, das es das nicht ist!"

Er schüttelte den Kopf.

„Ich weiß das. Keiner von uns ist schuld . . . aber ich fühle mich verantwortlich für deine Sicherheit."

Sie seufzte, zu müde und ängstlich, um sich beleidigt zu fühlen. Stattdessen lehnte sie sich gegen ihn und suchte Trost in seinen starken Armen.

„Genauso wie ich mich für dich verantwortlich fühle.", sagte sie sanft. „Das ist etwas gegenseitiges, Bobby. Vergiss das nie."

„Wir müssen wieder los.", flüsterte er, diesmal mit mehr Bestimmtheit in der Stimme. „Je früher wir gehen, desto mehr Vorsprung haben wir."

Sie verbiss sich einen Witz über den letzten Vorsprung den sie hatten und ging ihm voraus wieder ins Tageslicht.

„Wohin?", fragte sie als sie ihm aufhalf.

„Nach Süden.", entschied er. Alex schaute zweifelnd.

„Wir könnten nach Osten gehen. Von woher wir gekommen sind . . . Er muss uns mit einem Auto hierher gebracht haben, oder in einem andere Fahrzeug. Vielleicht hat er uns gleich neben einer Straße liegen lassen und wir haben ihn uns in die entgegengesetzte Richtung locken lassen."

Er konnte nicht mit ihrer Logik streiten, aber sein Instinkt warnte ihn dagegen, zurückzugehen. Obwohl er nicht erklären konnte warum, wusste er tief im Innern, dass in Richtung Osten zu gehen das falsche war.

„Du stimmst mir nicht zu.", sagte Alex, die seinen Gedankengang leicht an seinem Gesicht ablesen konnte. Sie dachte trocken dass es aussah, als wäre er darüber ehrlich aufgebracht.

„Ich möchte nicht darüber streiten.", äußerte er vorsichtig. Sie legte ihre Hand in seine um ihn zu beruhigen.

„Wir werden nicht streiten. Ich vertraue dir, Bobby. Wenn du wirklich glaubst, dass wir Richtung Süden gehen sollten, dann tun wir das."

Er schloss seine große Hand sanft um ihre kleinere. Sie vertraute ihm – und seinem Urteil – implizit. Es wurde Zeit, dass er ihr das gleiche Vertrauen bewies.

„Wir gehen Richtung Osten.", beschloss er. „Du hast recht. Er konnte uns nicht ohne Fahrzeug hierher bringen. Wenn wir eine Straße finden, finden wir vielleicht Hilfe."

Sie sah ihn ernst an.

„Bist du sicher?"

Da war wieder dieser schmerzerfüllte Blick, der nichts mit seinen Wunden zu tun hatte.

„Alex . . . ich bin mir über gar nichts sicher. Egal was wir tun, unsere Chancen sehen nicht gut aus."

Sie fühlte ihre Hoffnung sinken, als sie diese verzweifelten Worte aus seinem Mund hörte.

„Es tut mir leid.", sagte er sanft. Sie trat zurück von ihm und zog ihre Hand aus seinem Griff.

„Also, was tun wir? Einfach hier sitzen und warten bis Mathers wiederkommt?"

Sie war jetzt böse auf ihn und er konnte es ihr nicht übel nehmen. Er war auf sich selbst böse. Vielleicht waren es die Schmerzen . . . oder ihre hoffnungslose Situation überhaupt, jedenfalls konnte er nicht mehr die Kraft finden, optimistisch zu sein.

Er schaute weg von Alex; ihm war übel vor Trauer, Schuldgefühlen und Hoffnungslosigkeit.

Alex beobachtete ihn stumm; ihr Ärger verschwand so schnell wieder wie er gekommen war. Während der fünf Jahre ihrer Partnerschaft hatte sie sich immer wieder gesagt, dass er ein fehlbarer Mensch war, genau wie jeder andere. Jetzt wo er das offen zeigte, war sie ärgerlich deswegen.

Schuldbewusst ging sie zurück zu ihm und umarmte ihn warm.

„Es tut mir leid, Bobby. Ich sollte nicht wütend auf dich werden. Sag mir nur ein, und sein ehrlich: Bist du bereit, aufzugeben?"

Er starrte sie an, seine braunen Augen voll von Schmerz, Angst, Hoffnungslosigkeit . . . und noch etwas anderem.

„Nein.", sagte er leise. Sie war dankbar einen neuen Funken Bestimmtheit und Ärger in seiner Stimme zu hören. „Das bin ich nicht."

„Also, wohin gehen wir?"

Er sah sie noch einmal an.

„Osten."