Disclaimer

Die Figuren, soweit sie von Drehbuchautor William Monahan eigenständig entwickelt und/oder gegenüber ihren historischen Vorbildern abgeändert wurden, sind geistiges Eigentum von William Monahan und auch die Handlung und Reden, soweit sie sich mit der verfilmten Geschichte decken, gehört William Monahan.

Jede weitere eigenständige Erzählung um die Personen des Geschehens sind meines Geistes und mein Besitz. Mit dieser fiktiven Romanvorlage zum Drehbuch von William Monahans Werk „Kingdom of Heaven" verdiene ich kein Geld und habe sie auch keinem Verlag angeboten.


Kapitel 14


Ibelin

Balian und seine Männer brachen am späten Nachmittag auf. Sie wollten bis in die fortgeschrittenen Abendstunden bis zur Oase „Shefela" kommen und dort die Nacht rasten und in den frühen Morgenstunden weiterreiten bis zur Oase „'A'isha". Die größte Hitze des Tages sollte dort verbracht und in den Abendstunden der Weg fortgesetzt werden. Das dritte Etappenziel war eine Ansammlung von Brunnen. Dort gab es zwar Wasser, aber keinen Schatten, weshalb dort während der Nacht gerastet werden sollte.1

Die letzte Wegstrecke würde dann in Ibelin enden, aber sie war auch die längste und der Trupp mußte bereits in der Nacht aufbrechen, damit sie im Laufe des Vormittags2 in Ibelin ankamen und nicht in die Mittagshitze gerieten. Die Distanz3 von Jerusalem nach Ibelin war auch schneller zu bewältigen, wenn man ohne Rücksicht auf sein Tier und sich selbst auf einem direkteren Weg durchritt. Aber Balian wollte zwar rasch nach Ibelin gelangen, doch er sah keine Veranlassung dafür, Mann und Tier unnötig zu strapazieren.

Unterwegs erklärte ihm Almaric, daß sich das Schutzgebiet derer von Ibelin weit über die Grenzen von Ibelin hinaus erstreckte und bereits an der Brunnenansammlung4 begann und sich bis Ar-rahim am Fluß Lakhisch in der entgegengesetzten Richtung an der Pilgerstraße entlang zog. Ibelin, das Lehen selber, war relativ klein, erklärte Almaric, aber es war der Besitz des Hauses Ibelin und kein Lehen im eigentlichen Sinn. Die Orte Gaza, Beirut, Nablus, Ramleh und Samaria dagegen, zählten unter Godfrey von Ibelin, ebenfalls zu den Lehen derer von Ibelin und waren verwaltete Ortschaften mit eigenen Stadtgebieten. Ibelin war Landbesitz. Balian war über das, was er hörte, sehr erstaunt. Weder der Hospitaler, noch Tiberias und auch nicht der König hatten über diese Städte als seinem Lehen zugehörig gesprochen. Vielleicht besaß das Haus Ibelin ja diese Städte nicht mehr, denn wer war er, auch wenn André immer wieder versuchte ihn das vergessen zu machen, daß er die gleichen Rechte wie Pflichten seines Vaters tragen sollte, obwohl der König und auch die Freunde seines Vaters noch gar nicht wußten, wozu er fähig war. Neu für ihn war aber auch, daß Ibelin mehr als nur ein Lehen war. Er verstand nun die Worte des Statthalters, der ihm riet, sich Ibelin zu einem Zuhause zu machen. Aber er erinnerte sich auch des Schreibens, das er von Tiberias bei seinem letzten Besuch erhalten hatte. Es trug das Siegel des Königs und er sollte es erst in Ibelin öffnen. Dieses Schreiben würde ihm seine Pflichten, aber auch seine Ansprüche und Rechte näher erläutern, sagte Tiberias dazu, gab aber nichts weiter preis. Und einmal mehr hatte Balian das Gefühl gehabt, daß er, im Sinne des Königs, von seinen Beratern von den politischen Tagesgeschehen ferngehalten werden sollte und langsam auf Aufgaben, die der König für ihn vorsah, vorbereitet werden sollte. Balian war nicht wohl bei diesem Gedanken. Er war kein Ritter im eigentlichen Sinne. Er hatte nicht die Ausbildung, die ein jeder Adlige normalerweise durchlief. Alles was er bieten konnte, war seine Aufrichtigkeit und sein Ehrgefühl. Balian war es nicht bewußt, daß gerade diese Eigenschaften und sein bisher absolutes Handeln danach ihn mehr als so manchen anderen Ritter in Jerusalem adelte und bereits in dieser kurzen Zeit, in der er im Land war, hochrangige Edelmänner auf ihn aufmerksam werden ließ. Er wurde geachtet, weil er Godfreys Sohn war, aber er wurde wahrgenommen, weil er, im Sinne Tiberias, ein vollkommener Ritter5 war.

Sie waren schon vor zwei Stunden an der befestigten Stelle mit den Tavernen angekommen, und während des Rittes hatten Almaric und Salem auf Fragen von Balian das Thema Ibelin gemieden und immer nur von der Pilgerstraße und den Aufgaben gesprochen, die Godfrey von Ibelin bislang erfüllt hatte. Jetzt, nachdem sie die Pferde versorgt hatten und sich jeder Ruhe vor dem letzten, schweren Ritt nach Ibelin gönnte, saß Balian mit Almaric und Salem zusammen am Feuer. Sie hatten gegessen, und Balian war es nun zuviel mit den Ausflüchten. Er fragte direkt und ohne Rücksicht gerade heraus:

„Almaric, schämt Ihr Euch ein Mann Ibelins zu sein?"

Nun sah ihn Almaric entsetzt an und antwortete:

„Mein Herr, niemals! Wie könnt Ihr nur darauf kommen? Habe ich Euch mit irgend etwas beleidigt?"

Balian lächelte innerlich ob der vehementen Reaktion von Almaric, aber antwortete ernst:

„Ihr habt noch kein Wort, außer dem, was ich Euch in Jerusalem entlocken konnte, über Ibelin verloren."

Er hielt einen Moment inne und fuhr dann fort:

„Almaric, der Statthalter sagte mir zum Abschied, Ibelin wäre vielleicht nicht das was ich erwarten würde und Ihr redet nun schon die ganze Zeit über alles, nur nicht über Ibelin. Ich habe das Leuchten in Euren Augen gesehen. Ich weiß, daß Ihr Euch freut, daß wir zum Haus meines Vaters zurückkehren, und dennoch wollt Ihr nicht über diesen Ort sprechen. Wie soll ich dies nach Eurer Meinung bewerten?"

Almaric und Salem sahen sich an. Sie waren nicht verwundert, daß ihr Herr ihren Versuch, Ibelin unbeschrieben zu lassen, doch bemerkt hatte, war ihnen doch seine Beobachtungsgabe schon lange bewußt geworden. Und dann setzte der sonst so schweigsame Salem mit vorsichtig gewählten Worten zur Erklärung an:

„Herr, Euer Vater war ein guter und gerechter Herr und ein hervorragender Kämpfer, aber das Land von Ibelin war nicht das Wichtigste in seinem Leben."

Er zögerte, weil er nicht wußte ob Balian von Frau und Kind seines Vaters wußte, und wie er darauf reagieren würde, wenn es ihm nicht bekannt war:

„Nachdem er sein Weib und sein Kind auf Ibelin begraben mußte, hat er dieses Lehen fast nicht mehr betreten."

Balian hatte von Tiberias und André, den Freunden seines Vaters bereits erfahren, daß sein Vater Weib und Kind begraben mußte, und er konnte die Empfindungen seines Vaters auch verstehen, hatte er doch das gleiche mitmachen müssen, aber daß er seitdem Ibelin vernachlässigt hatte, hatten sie ihm nicht erzählt. Dies machte Balian betroffen und er blickte ernst in die Gesichter seiner Vertrauten.

„Hatten die Familien Ibelins darunter zu leiden?", fragte er seine Männer. Almaric suchte nach Worten, er wollte nicht Kritik an dem Vater seines Herrn üben und äußerte deshalb bedächtig:

„Herr, es ging den Menschen auf Ibelin nicht schlecht, auch wenn der Baron sich nicht selbst um das Land kümmerte."

Balian merkte, daß es Almaric und Salem schwer fiel, darüber zu sprechen. Sie waren nicht einverstanden mit dem Verhalten ihres verstorbenen Herrn, aber sie achteten ihn zu sehr, und nach ihrer Meinung stand es ihnen nicht zu, vor dem jungen Herrn schlecht von seinem Vater zu sprechen. Balian drang nicht weiter in sie. Er würde warten, bis sie in Ibelin waren.

Sie brachen noch im Dunkeln wieder auf, der wolkenfreie Himmel gestattete es, weil das Mondlicht die Karstwüste, durch die sie ritten, ausreichend erhellte. Langsam wurde es Tag, und die aufgehende Sonne brannte rasch die morgendliche Frische hinweg, aber Balian empfand diese Hitze zunächst nicht als unangenehm. Er erinnerte sich an die kalten Tage in Frankreich, aber dennoch war er froh, daß dies die letzte Strecke war, die sie zu bewältigen hatten. Alle im Trupp trugen ihre Kettenhemden und Waffenröcke. Der Frieden zwischen Balduin und Salah-al-Din war wegen des Verhaltens der Templer gefährdet und es wäre Leichtsinn gewesen, ohne entsprechende Vorbereitung durch das Land zu reiten. Und diese Ausrüstung war es, welche die Wärme der Sonne unangenehm werden ließ. Der Trupp kam gut vorwärts und dennoch war der Vormittag fortgeschritten, als sie auf Ibelin zuritten. Almaric schickte einen Reiter vor, um ihre und vor allem die Ankunft des neuen Herrn anzukündigen.

In der Ferne konnte Balian bereits die festungsartigen Dörfer erkennen, von denen Almaric berichtet hatte. Als sie näher kamen, beobachtete Almaric seinen jungen Herrn immer genauer.

‚Wie wird der Sohn Godfreys auf das karge und trockene Land, das sein Erbe ist, reagieren?' dachte er. Salem und er hatten geschwiegen, weil das Land Ibelins ein dürres Land war und die Ländereien nicht viel hergaben. Der Reichtum der Ibelins kam durch die verwalteten Städte, nicht durch Landwirtschaft. Und dennoch liebte Almaric dieses Land. Es war ihm und seiner Familie Heimat geworden, und die Menschen dort wünschten sich schon lange wieder einen Herrn, der für sie da war.

‚Wird Balian diesen Wunsch erfüllen oder wird er schon bald wieder Ibelin den Rücken kehren und nach Jerusalem zurückgehen?' war sein nächster Gedanke.

Sie ritten stetig auf Ibelin zu und als sie am ersten Dorf angekommen waren und auf das Haupthaus und das Land blicken konnten, zügelte Balian sein Pferd und ließ seine Augen über die Talsenke schweifen.

„Ibelin, mein Herr", sprach Almaric und musterte Balian dabei genau. Balian merkte diese Musterung nicht und betrachtete die Dörfer und das Anwesen, das wie eine kleine Burg am Rande der Felder lag, die sich trocken, staubig, öd und unbewirtschaftet über die Senke ausbreiteten. Dies war also Ibelin, und obwohl es verwahrlost aussah, brach sich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Verantwortung in seiner Brust bahn. Nach einem kurzen Blick auf Almaric, den dieser nicht zu deuten wußte, trieb er sein Pferd wieder vorwärts in Richtung des Herrenhauses. Balian hatte die Haube seines Kettenhemdes und seinen Helm nicht auf, so daß die Menschen von Ibelin sogleich ihren neuen Herrn von Angesicht zu Angesicht erblicken konnten. Die Menschen hatten sich schon neugierig am Wegesrand versammelt und blickten zu ihrem neuen Herrn auf. Er erschien ihnen jung und zugleich viel zu ernst, aber seine Haltung strahlte Adel und Stärke aus. Sie hatten nur vernommen, daß der alte Herr verstorben war und sein Sohn kommen würde, aber was sie von ihm zu erwarten hatten, wußte keiner von ihnen.

Der Trupp ritt in den Innenhof des Herrenhauses ein, und wurde dort bereits von einer Vielzahl an Frauen und Kindern erwartet. Auch etliche Bedienstete waren anwesend, um sich sogleich um die Ankommenden zu kümmern. Der Verwalter von Ibelin stand für seinen Herrn bereit, war er doch über sein Kommen durch Almaric unterrichtet worden. Mit einladenden Gesten wies er auf das Haus, verbeugte sich immer wieder und sprach dabei Willkommensworte, die Balian nicht verstand. Aber der Mann sprach so eindringlich, daß Balian vom Pferd stieg und ihm sogleich in das Haus folgte. Der Wesir ging vor ihm her, öffnete eine Doppelflügeltüre, und gab dann Balian den Weg frei, für einige Schritte auf die Terrasse hinaus, von wo aus er ganz Ibelin überblicken konnte.

Balian trat an die Balustrade der Terrasse und stützte sich schwer auf. Er blickte auf ein trockenes Land, durch dessen Felder Kamelkarawanen zogen. Sie mußten keinem Weg folgen, denn die Felder trugen keine Saat und die Krume wurde vom Wind in kleinen Staubhosen hinweggetragen. Die schattenspendenden Palmen wirkten selbst vertrocknend, und schirmten nur ebenso trockenes Land ab, dem selbst der bemühteste Bauer kein Korn mehr entlocken konnte. Und dennoch verspürte Balian über diesen Zustand des Landes keine Enttäuschung. Es war sein Land, und es lag an ihm es zu verbessern.

Almaric war ihm gefolgt und nun hinter ihn getreten. Er sah zwar Balians gebeugten Rücken und wie er schwer auf der steinernen Balustrade lehnte, aber er sah das Gesicht seines jungen Herrn nicht und deutete sein Schweigen falsch:

„Euer Vater war bedeutend, seine Ländereien waren es nicht.", sprach Almaric deshalb in einem fast tröstenden Tonfall zu ihm. Und wieder einmal überraschte Balian Almaric zutiefst. Mit allem hatte dieser gerechnet, aber nicht mit der Antwort, die er nun von Balian erhielt:

„Es wird zu mir passen." sagte dieser und was Almaric nicht sehen konnte, war das Leuchten in Balians Augen.

Dann richtete sich Balian auf und wandte sich zum Wesir um:

„Zeigt mir meine Räume und laßt jemanden kommen, der mir hilft, den Waffenrock abzulegen." forderte er. Almaric wollte schon gehen und die persönlichen Diener seines Herrn rufen, als ihn der junge Ritter zurück hielt:

„Nein, Almaric, ich habe sehr wohl gemerkt, daß Eure Familien schon auf Euch warten. Wenn die Tiere versorgt sind, sollen die Männer erst ihre Familien begrüßen. Bitte, trefft entsprechende Anordnungen."

„Und, Almaric", Balian hatte seinen Blick zu Boden gerichtet und etwas die Stirn in Falten gezogen, „ich möchte jemanden an meiner Seite haben, der mich die Sprache des Landes lehrt." gab er dann dem wartenden Almaric seine Wünsche kund."

Balian konnte es nicht wissen, aber mit diesem Wunsch hatte er bereits den Wesir für sich eingenommen. Sein Vater hatte all die Jahre nur wenig von der Sprache gelernt und nur das angenommen, was er unbedingt benötigte.

Almaric verneigte sich kurz und ging. Er befolgte gerne die Anweisungen seines Herrn und er wußte, daß auch die Männer dankbar für diese sein würden.

Währendessen wandte sich Balian wieder an den Wesir und bat ihn mit einer Handbewegung, vorzugehen.

„Verzeiht meine Unhöflichkeit, ich hatte Euch noch nicht nach Eurem Namen gefragt." hielt er aber dann den Verwalter nochmals kurz zurück. Und der Verwalter sah ihn an und war über diese Ansprache zutiefst erstaunt.

„Mein Herr, ich bin Latif. Ich war der Verwalter Eures Vaters und bin für das Haus und das Gesinde zuständig. Die Bewirtschaftung des Landes wurde von mir und den Ältesten der Dörfer betreut." Latif blickte ein wenig sorgenvoll drein, weil er wußte, wie schlecht es um das Land bestellt war, dies war augenscheinlich und er hatte im Gesicht seines neuen Herrn nicht ablesen können, wie er darüber dachte. Balian nickte stumm und bedeutete ihm nochmals, vorzugehen.

Er wurde von Latif durch das Haus geführt, das aus zwei Etagen bestand. Die Mauern waren aus getrockneten Lehmziegeln gebaut und schufen im Hausinnern ein angenehmes, nicht zu kühles Klima. Die Wände waren mit Wandbehängen verschönert und die Möbel bestanden aus dunklem, edlem Holz. Die Bemalung an den Holztüren war verwittert, ließ aber dadurch die Schnitzereien und Drechslereien zeitlos erscheinen. Alle Außentüren waren Doppelflügeltüren, die noch durch zusätzliche, durchgehende, an einem Stück gefertigte Läden völlig verschlossen werden konnten. Dies war sinnvoll, wenn ein Sturm den feinen Sand der Wüste durch das Land trieb. Die Räumlichkeiten waren großzügig, und mit feinen Tüchern waren sie gegen Zugluft abgeschirmt. Die Farben waren, wie schon im Haus in Jerusalem, warme Erdtöne, sanftes dunkles Rot und ein sattes Grün.
Balian spürte hier die Hand einer Frau und er erinnerte sich daran, wie seine geliebte Julie durch Kleinigkeiten sein damaliges tristes Heim in ein warmes und wohliges Zuhause verwandelt hatte. Er spürte in sich nach, was er bei dem Gedanken an die Frau und deren Kind seines Vaters empfand, hatte er doch dieses Glück einer Familie, ob als Kind oder später als Ehemann, selbst nur sehr kurze Zeit erfahren. Aber Balian spürte nichts als die Liebe und Zuneigung in sich zu seinem Vater und so konnte er nicht anders, als auch Achtung und Wärme für dessen Familie zu empfinden. Er würde hier alles so belassen, wie es war und als sein Heim annehmen.

Er war dem Wesir langsam gefolgt, und dieser hatte die ganze Zeit geschwiegen, ihn nur vorsichtig betrachtet, immer darauf bedacht, daß sein neuer Herr ihn nicht für unverschämt ob dieser Begutachtung hielt. Um so mehr war er jetzt geschockt, als Balian ihn darauf ansprach:

„Latif, was geht Euch durch den Kopf, wenn Ihr mich so beobachtet?"

Der Verwalter rang sich die Hände und er verbeugte sich immer wieder. Was sollte er nun sagen? Hatte er sich schon in so kurzer Zeit den Zorn seines Herrn zugezogen?

Aber dann stand sein Herr plötzlich direkt vor ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu blicken.

„Latif, ich will eine ehrliche Antwort und ich will, daß Ihr mir immer ohne Furcht Eure Gedanken mitteilt. Das Land und die Menschen sind mir fremd. Ich habe kaum etwas von meinem Vater und seinen Freunden erfahren, muß aber die Aufgabe, die mir mein Vater hinterlassen hat, bewältigen. Ich brauche dazu Männer, die keine Angst vor mir haben, sondern mir ehrlich ihre Meinung sagen", sprach Balian ernst zu ihm und seine Hand drückte dazu bestätigend die Schulter des Älteren. Dann mußte er ob des entgeisterten Gesichtsausdruckes von Latif lächeln und dieses Lächeln nahm dem Wesir die Furcht. Der Verwalter sah in die so sanften und warmen Augen seines Herrn, und es beruhigte ihn, daß sie wirklich keinen Zorn zeigten, sondern Verständnis, aber sie forderten auch, denn man hatte den Eindruck, sie könnten einem in die Seele blicken.

Latif nickte und setzte dann an, Balian zu antworten:

„Herr, Euer Vater war ein gerechter Mann, manchmal etwas ungeduldig, aber kein Mann mit Verständnis für das Land. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen und es kümmerte ihn nicht, daß die Menschen hier seine Hilfe brauchten, weil das Land ärmer und ärmer wurde."

Der Wesir biß sich fast auf die Zunge, als ihm klar wurde, was er gerade über den Vater seines jungen Herrn gesagt hatte und fügte an:

„Euer Vater hat immer gewissenhaft für die Sicherheit der Pilger und der Menschen, die ihm anvertraut waren, gesorgt, aber...", und da unterbrach ihn Balian.

„Es ist gut Latif, sorgt Euch nicht um das Gesagte, ich weiß bereits um die Stärken und Schwächen meines Vaters. Ihr habt noch nicht meine Frage beantwortet!", forderte Balian ihn erneut auf, seine Ansicht kund zu geben und diesmal sprach der Wesir ohne Furcht aus, was ihm durch den Kopf gegangen war.

„Mein Herr, Ihr tretet nicht so auf, wie man es von den Rittern aus Jerusalem gewöhnt ist. Es scheint fast so, als würdet Ihr Euch selbst in dieser Rolle nicht wohlfühlen und doch strahlt ihr Stärke und" – Latif suchte nach dem richtigen Wort, während Balian zweifelnd eine Augenbraue hochzog – „Führungskraft aus", endlich hatte der Wesir den Begriff gefunden, der es seiner Meinung nach am besten ausdrückte.

Balian schmunzelte. Der Wesir hatte seinen wunden Punkt direkt entdeckt, war aber auch von seiner Ansicht geschmeichelt:

„Danke, Latif, ich bin nicht als Ritter aufgewachsen, vielleicht liegt Euer Eindruck daran", entgegnete deshalb Balian.

„Bitte, führt mich nun in meine persönlichen Räume und sorgt für eine Hilfe beim Entkleiden und für ein Bad. Ich hätte auch gerne eine Kleinigkeit zu Essen, Obst würde genügen." sprach er dann weiter.

Der Verwalter schüttelte ob des Wunsches seines Herrn den Kopf und dachte bei sich:

‚Der Herr hat Hunger, aber würde sich mit Obst begnügen, wo kommen wir denn da hin?'

Er führte Balian in sein Schlafgemach und hatte bereits durch einen Diener nach Bediensteten geschickt, die für solche Zwecke ausgebildet waren. Der Herr hatte normalerweise seine persönlichen Diener hierfür, aber wenn Gäste kamen und sie entsprechende Handreichungen benötigten, durfte dies kein Tolpatsch tun und dadurch die Ehre des Gastgebers beflecken. Deshalb war es jetzt auch kein Problem, fähige Hände für diesen Dienst zu rufen und diese waren auch unmittelbar nach Eintreten des Herrn zur Stelle. Latif entfernte sich derweilen, um zu prüfen, ob alles für das Bad bereit war und in der Küche für ein Mahl zu sorgen. Er fühlte sich froh und beschwingt, hatte er doch, seit er in die Augen seines jungen Herrn gesehen hatte, ein gutes Gefühl für die Zukunft. Er mußte sich eingestehen, daß er den jungen Baron mochte, obwohl er sehr ungewöhnlich in seinem Umgang war. Er bat Allah im Stillen darum, daß dieser Herr Ibelin zu seinem Zuhause machen würde und es nicht so schnell wieder verließ.

Balian unterdessen war in Gedanken versunken und ließ sich fast teilnahmslos den Waffenrock und das Kettenhemd abnehmen. Als er nur noch Hose und Hemd anhatte, wurde er von einem der Diener zum Bad geführt. Balian schickte den Diener fort. Er wollte ein wenig allein sein. Er entkleidete sich rasch ganz und fing an, sich mit dem Wasser aus der bereit gestellten Schüssel und den danebenliegenden Tüchern zu reinigen. Dann stieg er in das angenehm warme Wasser. Das Bad selber, das anders war als das in Jerusalem hatte er kaum betrachtet. Es gingen ihm zu viele andere Gedanken durch den Kopf, die letzten Worte von Tiberias, die zögerlichen Antworten von Almaric und Salem, die Aussage vom Wesir und nicht zuletzt der augenscheinliche Zustand von Ibelin. Er dachte an Frankreich und die Schmiede, den Wahlspruch des Baumeisters, den er in das Holz gebrannt hatte.

‚Was für ein Mann ist ein Mann, der nicht versucht die Welt zu verbessern' und ihm kamen Andrés eindringlichen Worte wieder in den Sinn

‚Hier beginnt Euer neues Leben und Ihr habt Herz und Verstand genug, um das Leid, das Ihr erfahren habt, in Gutes umzusetzen'. Ja, er hatte recht, dies war ein Neubeginn und es lag an ihm, etwas daraus zu machen.

Vom Staub befreit, und die vom langen Ritt verkrampften Muskeln wieder entspannt, stieg er aus dem Wasser und griff sich ein Tuch, das bereit lag. Wie von Geisterhand waren sein verschwitztes Hemd und die Hose verschwunden und statt dessen lagen neue Gewänder zum Ankleiden bereit. Balian rief keinen Diener, um sich helfen zu lassen; er war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen und mochte es nicht, ständig bedient zu werden. Er zog von den Gewändern nur Hose und Hemd an und trat dann aus dem Bad heraus, das er sich vorher nochmals genau angesehen hatte. Es war nicht nur ein mit schweren Tüchern abgetrennter Bereich im Wohntrakt wie in Jerusalem, sondern ein eigenständiger Raum. Das Bad war sehr geräumig mit einer gemauerten Wanne für eine Person und einem größeren Becken für mehrere Personen. Wände und Becken waren mit kleinen Mosaiksteinen gekachelt und das ganze Bad schimmerte in einem warmen Rot mit blauen Verzierungen an den Wänden. Es waren keine blauen Mosaiksteine, wie Balian bemerkte, sondern gemalte Schriftzeichen. Bevor man in die Becken stieg, konnte man sich auf einem Holzgerüst stehend den Schmutz vom Körper waschen und mit dem Wasser aus bereitstehenden Holztrögen abspülen. Das Wasser floß unter dem Holzgerüst in einem Kanal zusammen und verschwand in einem Abfluß in der Wand. Balian sah, daß das Wasser in den Becken mit Metallriegeln zurückgehalten wurde. Wurde der Riegel entfernt, konnte das Wasser über den Kanal im Boden ebenfalls abfließen. Er empfand die Möglichkeit des Bades inzwischen als sehr angenehm und war entsetzt, wenn er an Frankreich dachte, wie rückständig dort selbst die Adligen waren, denn die Idee des Baumeisters, bei dem er lernte, von einem solchen Bad, war vom Bauherren abgelehnt worden.

Balian ging langsam durch das Haus. Hier und da hielten Diener in ihrer Tätigkeit inne und verbeugten sich vor ihrem neuen Herrn, der sanft lächelte und den Gruß durch ein Kopfnicken zurückgab. Als Balian schon durch einige Räume gewandert war und abermals über die Einrichtung und die Schönheit der ausgewählten Farben staunte, trat Latif auf ihn zu.

„Herr, ich habe ein Mahl für Euch richten lassen, bitte folgt mir", sagte der Wesir und führte den jungen Ritter in einen Raum, in dem um einen runden, wie eine flache Schale geformten Tisch, unzählige Kissen zum Niederlegen und Ruhen verteilt waren. Ein Teller mit einem Reisgericht und Schüsseln mit Gemüse standen auf dem Tisch, und auf einer niedrigen Anrichte war eine Karaffe mit Wein und einem Becher zu sehen. Balian dankte Latif und ließ sich neben dem Tisch nieder. Als der Wesir sich zurückziehen wollte, hielt ihn sein Herr auf:

„Wesir, bitte bleibt und setzt Euch zu mir. Ich habe Fragen an Euch, bevor ich mir das Land besehe."

Der Wesir, noch immer etwas irritiert und aus seinem Gleichgewicht gebracht durch den offenen, persönlichen und direkten Umgang von Balian mit seinen Untergebenen, kam zögernd wieder näher, wagte es aber nicht sich zu setzen, bis ihn Balian, etwas ungehalten, nachdrücklich dazu aufforderte. Latif kam dann sehr schnell dieser Aufforderung nach, hatte er doch die Ungeduld Balians bemerkt. Und bei sich dachte er:

‚Die Ungeduld hat er von seinem Vater'.

Almaric war mittlerweile, nachdem er seine Familie begrüßt hatte, wie es der Wunsch von Balian war, wieder ins Haus zurückgekehrt. Er hatte von einem Diener erfahren, daß dem Herrn ein Mahl aufgetragen wurde und ging deshalb direkt zu den Räumlichkeiten, wo dies in der Regel geschah. Er war gerade in das Zimmer getreten, aber noch von einem als Windschutz eingesetztem Tuch verdeckt, als sich diese kleine Szene zwischen Latif und seinem Herrn abspielte. Almaric mußte schmunzeln, zum einen, weil es dem Wesir ging, wie ihm selbst in Jerusalem, als er langsam anfing, seinen Herrn kennenzulernen und weil auch ihm Balians Ungeduld aufgefallen war. Sie trat nicht oft in Erscheinung und bislang nur dann, wenn man aus gewohnter Ehrerbietung, die Balian ohnehin für sich nur ungern in Anspruch nahm, seinen Wünschen nur zögerlich nachkam. Almaric machte auf sich aufmerksam, indem er in das Sichtfeld von Balian trat und sein Haupt neigte:

„Mein Herr, es ist alles nach Eurem Wunsch getan. Habt Ihr weitere Befehle?", erklärte sich Almaric und blickte wieder auf. Balian hingegen verblüffte ihn mit einer Gegenfrage:

„Ihr wart nicht lange fort, Almaric. Hat Euch und Eurer Familie diese kurze Zeit nach so langer Abwesenheit genügt?", sprach Balian lächelnd und schaute Almaric dabei mit einem Blick an, der ihn so jung erscheinen ließ, wie er war. Almaric kannte diesen Blick bereits, er sah ihn nur leider viel zu selten und wünschte sich, wie der Wesir, daß Balian hier ein Zuhause finden würde und die Vergangenheit, die scheinbar noch immer schwer auf ihm lastete, hinter sich lassen konnte.

Almaric erwiderte diesen Blick offen und antwortete:

„Nein, mein Herr, genug war es sicher nicht, aber ich werde sie jetzt, da wir wieder zuhause sind" – und er betonte extra dieses Wort und nahm dabei jede Regung von Balian wahr – „jeden Tag sehen und jeden Abend mich wieder in ihren Armen zur Ruhe legen."

Balian hatte, als er die Betonung auf ‚Zuhause' hörte milde gelächelt. Ja, er merkte wohl, wie sehr sich anscheinend alle hier wünschten, daß er sich Ibelin zu seinem Heim machte. Die Menschen hier sehnten sich nach einem Herrn, der für sie da war, und dies wollte Balian auch sein. Aber er konnte dennoch nicht verhindern, daß Almaric und der Wesir die kurze Traurigkeit, die über sein Gesicht ging, wahrnahmen, als sein erster Mann, von der Nähe einer Familie sprach. Der Schmerz über den Verlust seiner eigenen Familie war aus dem Nichts wie ein Hammerschlag wieder da, und er mußte erst einige Male durchatmen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

Der Wesir blickte Almaric fragend an, wußte er doch nicht, warum sein Herr sich plötzlich so zurückzog, und Almaric schalt sich einen Narren, daß er sich hatte hinreißen lassen, seine Freude über die Nähe seiner Familie in dieser Weise Ausdruck zu verleihen.

„Mein Herr", fing Almaric vorsichtig an, aber Balian winkte ab.

„Es ist gut, Almaric, ich freue mich für dich, wenngleich es mir auch einen Stich ins Herz versetzt, daß mir dieses Glück mit meiner Familie nicht vergönnt ist," beruhigte Balian seinen Soldaten. „Kommt, setzt Euch zu uns, ich möchte einige Fragen zu Ibelin beantwortet haben."

Der Wesir nahm sich unterdessen in Gedanken vor, Almaric später nach der Familie des Herrn zu fragen. Wo war sie? Warum war sie nicht bei ihm? Und warum hörte sich der junge Baron so an, als würde sich daran nie was ändern? Er wußte bereits durch seinen Herrn selbst, daß dieser nicht als Ritter aufgewachsen war. Sollte es sein, daß der Herr vielleicht schon mehr durchgemacht hatte, als man es bei seiner Jugend für möglich hielt? Er wollte in Zukunft sehr genau darauf achten, wie sein Herr reagierte, um Momente wie eben zu vermeiden.

Balian aß bedächtig, er hatte als Kind zu oft hungern müssen, um Essen einfach in sich hineinzuschlingen. Als Schmied war es ihm nicht schlecht gegangen, aber er wußte es zu sehr zu schätzen, was es bedeutete, genügend Mahlzeiten zu haben. Sein Umgang mit Speisen war auch Almaric in Jerusalem schon aufgefallen, und wieder einmal kam es ihm in den Sinn, daß sein Herr schon sehr harte Tage erlebt haben mußte.

Während Balian speiste, schenkte ihm der Wesir von dem Wein ein. Als Almaric das bemerkte, winkte er gleich einem Diener und ließ für seinen Herrn Wasser bringen. Der Wesir wollte protestieren, aber Balian beruhigte ihn und sagte:

„Latif, der Wein ist sicherlich köstlich, aber ich trinke lieber Wasser oder Tee am Tage. Almaric kennt dies bereits von mir. Habt Dank für den Trunk, Latif, und auch Euch, Almaric, für Eure Aufmerksamkeit."

Diesmal hatte es Balian fertiggebracht beide, sowohl den Wesir als auch Almaric, verlegen zu machen. Balian schien in keinster Weise gewillt zu sein, sich das gleiche herrschaftliche Verhalten, wie alle anderen Ritter zu eigen machen zu wollen. Sie waren darüber erfreut, aber auch merkwürdig berührt, denn wie sollten sie sich verhalten, hatten sie doch auch ihren Platz gegenüber ihrem Herrn zu wahren?

Balian bemerkte die Blicke, die sich Latif und Almaric zuwarfen und ein leises Lachen entrang sich seiner Brust und erhellte sein Gesicht, und die Augen der beiden flogen zu ihrem Herrn. Es war das erste Mal, daß Almaric seinen Herrn lachen hörte. Es war das Lachen eines Jungen, fröhlich, als würde er gerade ausgelassen mit Freunden balgen. Leise und doch klangvoll löste es den Knoten in Almarics Brust, den er immer verspürte, wenn er seinen jungen Herrn, dem er bereits nach kurzer Zeit herzlich zugewandt war, ernst und verschlossen fand.

Balian konnte ihre Gedanken auf ihrer Stirn lesen und sprach deshalb nun, in der Absicht, ein für alle Male seine Einstellung zu seiner Stellung klarzustellen, zu seinen Gefolgsmännern:

„Ich bin Euer Herr, aber ich bin nicht als Ritter aufgewachsen. Es gibt viel Lobenswertes an ritterlichem Verhalten, aber genauso gibt es Verhaltensweisen, die ich nicht schätze. Ich habe dies am eigenen Leib erfahren dürfen, weshalb ich es mir nie verzeihen würde, ebenso zu handeln. Hier auf Ibelin mag ich der Erste sein, aber der Erste unter Gleichen. Wenn ich durch Besuch oder andere Begebenheiten, mag es hier oder außerhalb von Ibelin sein, wieder ganz der Baron und Ritter des Königreiches sein muß, dann verlangt es die Situation, daß Ihr Euch entsprechend verhaltet. Ansonsten wünsche ich, daß Ihr Eure Zurückhaltung mir gegenüber als Eurem Herrn, soweit es Euch möglich ist, ablegt. Ihr habt Eure Aufgaben und Euren Dienst, die Ihr wie bisher erfüllen werdet, aber wenn ich mit Euch spreche oder Ihr ein Problem mit mir besprechen wollt, so soll es ohne die ganze Ehrerbietung und Zurückhaltung sein, die Euch zögern läßt."

Diese Aufforderung ging jetzt weit über das hinaus, was Almaric von Balian bereits in Jerusalem gesagt bekommen hatte, und er war tief berührt. Dadurch, daß Balian so handelte, machte er es auch seinen Männern leichter möglich, ihn Dinge zu lehren, die er aufgrund der Tatsache, daß er nicht als Ritter erzogen wurde und zudem in diesem Land noch fremd war, nicht oder nur unzureichend wissen oder beherrschen konnte. Zugleich erreichte er aber auch gerade das Gegenteil von dem, was er wünschte. Seine Männer würden ihn lieben und noch mehr achten, als er bisher allein durch sein Wesen schon erreicht hatte, weil er ihnen selbst Achtung entgegen brachte. Aber dies sagte Almaric ihm nun nicht, und er war sich sicher, daß wenn Balians Einstellung zu allen durchgedrungen war, sie versuchen würden, Balian jeden Wunsch von den Augen abzulesen, obwohl er das, wenn es ihm auffiele, sicher nicht lustig fände.

Während Balian nun noch einen Nachtisch an Obst zu sich nahm, stellte er seine Fragen zu der Wasserversorgung, den Regenfällen, den früheren Anbauten und Ernten. Und was er da zu hören bekam, gefiel ihm, bis auf die Wasserversorgung der Dörfer, überhaupt nicht und ihm wurde klar, daß hier ein gewaltiges Stück Arbeit auf ihn wartete, wenn er erreichen wollte, daß dieses Land wieder Ertrag abwarf und zu einem lebenswerten Zuhause wurde. Er biß nochmals herzhaft in eine geschälte Mandarine und erhob sich.

„Ich will mir das Land ansehen!" rief er nur und war schon, ohne auf Latif und Almaric zu warten, aus dem Zimmer hinaus auf dem Weg ins Freie. Balian verließ das Anwesen durch das Tor und wendete sich der Senke mit den vertrockneten Feldern und den kleinen Palmengruppen zu. Almaric hielt mit langen Schritten mit, während der Wesir schon fast rennen mußte. Während Balian durch die Palmen schritt und sich umsah, erläuterte Almaric ein paar Zahlen zu seinem Besitz:

„Ihr besitzt tausend Morgen Land. Es leben über hundert Familien hier, Juden, Moslems, Christen. Euch gehören zwölf Ochsengespanne", sprach Almaric. Balian war stehen geblieben und Almaric lehnte in seinem Rücken mit einem Arm an einer Palme und blickte Balian interessiert an. Sein junger Herr drehte sich zu ihm um und nickte nur. Dann blickte er erst gen Himmel und fuhr mit seinem Fuß über den staubigen Boden. Er verzog etwas das Gesicht und meinte dann:

„Was wir nicht haben, ist – Wasser!"

Und Almaric nickte bestätigend. Was er aber nicht wissen konnte war, daß Balian bereits im Kopf hatte, wie der dem Abhilfe leisten wollte. Er ging noch weiter über das Land, um sich noch einen genaueren Eindruck zu verschaffen, begleitet von einer Schar neugieriger Bewohner, und zog sich dann für den Nachmittag in das Haus zurück. Er bat Latif um vorhandene Pläne von dem Grund und den Dörfern, sowie dem eigentlichen Anwesen.

Er konnte die Pläne, deren es nicht viele waren, lesen und so feststellen, daß die Brunnen der Dörfer alle in etwa gleich tief und auf gleicher Höhe angelegt waren, was dafür sprach, daß die Senke über genügend Grundwasser liegen mußte und auch nicht so tief danach zu graben war. Am frühen Abend rief er Latif, Almaric und Salem zu sich und besprach mit Ihnen, was er vorhatte. Alle drei sahen ihn mit großen Augen an und der Zweifel stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben.

‚Wenn es so einfach wäre an Wasser zu kommen, hätten wir es nicht selbst schon längst versucht?' dachten sie alle. Aber jeder für sich mußte sich eingestehen, daß sie an diese Möglichkeit gar nicht gedacht hatten. Zwar hatten die Dörfer Brunnen mit reichlich Wasser, aber daß ein Vergleich ihrer Lage und Tiefe Aufschluß über mögliche Wasseradern unter der Senke gegeben könnte, war ihnen nicht in den Sinn gekommen und der alte Baron hatte nie einen Baumeister für solche Überlegungen und Prüfungen eingestellt. Sie wunderten sich sehr, woher ihr junger Herr dieses Wissen hatte und bereiteten auf Weisung von Balian alles für die Arbeiten am nächsten Tag vor.

Es war früh am Morgen des nächsten Tages, als sich die Männer der Dörfer versammelten

hatten und auf Anweisung von Balian, der einen genauen Plan im Kopf hatte, an verschiedenen Stellen zu graben begannen. Die Älteren unter ihnen schüttelten den Kopf über soviel Unfug, aber im stillen hofften sie alle, daß sie wirklich Wasser finden würden. Dennoch keiner wollte es so recht glauben, und ihr junger Herr schien einfach zu jung zu sein, um sich ein solches Wissen angeeignet haben zu können. Die Arbeit wurde nur kurz vom Morgengebet der Muslime unter ihnen unterbrochen, und dann packten wieder alle mit an. Auch Balian selbst hatte sich eine Axt genommen und arbeitete Seite an Seite mit seinen Soldaten und Bauern, und die Menschen von Ibelin staunten nicht schlecht über ihren jungen Herrn. Der Boden war steinhart gebacken, und es war keine einfache, eher eine schweißtreibende Arbeit. Deshalb versuchten sie, die Zeit bis die Sonne zu unbarmherzig wurde, zu nutzen. Als es dann zu heiß wurde, brach man die Arbeit ab, und nahm sie gegen frühen Abend wieder auf. Es war mühselig, und man war bei den verschiedenen Stellen erst einen halben Klafter tief gekommen. Balian aß eine Mandarine und feuerte die Leute an. Frauen und Kinder hatten sich um die Stellen versammelt und es glich eher einem Volksfest, als der ernsthaften Absicht Brunnen zu errichten. Keiner wollte, daß ihr junger Herr scheiterte und die Arbeit umsonst war, aber es glaubte auch keiner so richtig daran und nur das Vorbild von Balian, der keine Arbeit scheute, ob es nun Wasserholen für die Arbeiter oder selbst graben war, ließ sie weitermachen.

Es war der dritte Tag, an dem sie nun schon gruben. Balian stand selbst in einem der Brunnenschächte, als er von einem Jungen angerufen wurde. Es war Mahid, der Sohn von Salems Schwester. Er hielt einen kleinen Wassersack in der Hand und rief seinen Herrn an:

„Saiijdi, Saiijdi, tud maj!".

Balian hatte entgegen seiner Absicht noch nicht soviel Möglichkeit gehabt, die arabische Sprache zu lernen, aber einige Worte hatte er schon aufgegriffen, konnte sie verstehen und sprechen. Er ließ seine Axt sinken und kletterte auf den Rand des Brunnenschachtes. Er nahm das dargebotene Wasser, und Mahid, sprang mit seiner Axt in die mannshohe Grube und arbeitete dort weiter, wo Balian aufgehört hatte. Balian nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserblase und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. Der Wind, der ständig wehte, war unangenehm und trieb einem ständig Sand in die Augen. Balian hoffte sehr, daß sie bald Wasser finden würden und er sich nicht zum Narren gemacht hatte, aber ohne Wasser war dieses Land auf Dauer der Aufgabe anheim gegeben.

Aber auch dieser Tag ging ohne Erfolg zu Ende, und Salem und Almaric beobachteten ihren Herrn besorgt. Balian hatte ebenso hart gearbeitet wie alle, und des Nachts saß er an den Plänen, und prüfte ein um das andere Mal seine Überlegungen. Sie merkten deutlich, wie die Anspannung in ihrem Herrn wuchs und wie er unter dem bisherigen Mißerfolg litt. Es war das erste, was er auf Ibelin in Angriff genommen hatte und es schien so, als würde er schon zu Beginn scheitern.

Die vergangenen Tage hatte Balian aber nicht nur damit zugebracht, bislang unergiebige Löcher graben zu lassen, er war auch für die Sicherheit der Pilgerstraße zuständig, und so war ein Teil der Soldaten immer unterwegs. Auch er selbst ritt jeden Tag mit einem Trupp von zehn Mann nach der Mittagszeit bis zum frühen Abend, wenn die Arbeiten an den Brunnen eingestellt waren, hinaus in das Gebiet um die Pilgerstraße. Er versuchte, sich dadurch einen Überblick und Kenntnisse über seinen Einflußbereich zu verschaffen. Balian gönnte sich keine Ruhe, und das beunruhigte Almaric und Salem noch mehr.

Es war bereits am Nachmittag des vierten Tages, als Salem in einem Brunnenschacht stand und gerade mit der Hand in den Boden griff. Die Grabarbeiten waren leichter geworden, und er wollte die Bodenbeschaffenheit prüfen. Zwischen seinen Fingern hielt er feuchte, lehmige Erde. Er richtete sich auf und zerrieb den lehmigen Klumpen in seiner Hand. Seine Augen leuchteten und auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lachen aus. Endlich, noch ein wenig mehr, und in diesem Schacht würde sich das Wasser sammeln. Es drückte ja jetzt schon an die Oberfläche. Ihr Herr hatte doch recht, es gab Wasser, und wenn dieser Schacht auf Wasser stieß, so würden es die anderen auch bald tun. Einige Kinder schauten ständig neugierig in den Schacht, und jetzt war darunter auch Salems Neffe Mahid. Ihn schickte er zu Balian, aber der Junge reagierte erst überhaupt nicht. Er war völlig fasziniert von dem Wasser, das sich bereits zu Füßen Salems sammelte, und er mußte ihn ein zweites Mal auffordern, zum Herrn zu gehen und ihn zu holen. Mahid sprang auf seine Beine und rannte so schnell, wie er konnte durch die trockenen Felder, an einigen Brunnenarbeiten vorbei bis zur letzten Grabung. Hier stand der Herr, und half gerade dabei, loses Material mit Hilfe von Eimern aus dem Schacht zu heben. Er hatte sich gegen den Wind und den ständigen Sand ein Tuch vor Nase und Mund gebunden und war, nur mit Hemd und Hose bekleidet, ebenso verdreckt und verschwitzt wie jeder andere hier. Hätte man nicht gewußt, daß er der Herr hier war, wäre er als einer von ihnen durchgegangen. Nur seine Gestalt an sich fiel auf. Er war schlank und hoch gewachsen, und die Art, wie er seinen Rücken durchstreckte und dehnte, ließ seine Bewegungen weich und geschmeidig aussehen. Seine schlanken, langen Beine, die schmalen Hüften und seine breiten Schultern ließen seine ganze Gestalt wohl proportioniert und für diese Art der Arbeit viel zu feingliedrig erscheinen. Und dennoch hatte er ohne Rast ebenso gearbeitet wie ein jeder hier, und er hatte sich, auch ohne den bisher gewünschten Erfolg, die Achtung und den Respekt der Menschen Ibelins verdient. Aber Mahid lachte, er mochte den Herrn, und jetzt hatte er wonach er so unermüdlich graben ließ – Wasser.

Mahid rief schon von weitem Balian an, und seine Handbewegungen waren eindeutig eine Aufforderung ihm zu folgen. Balian legte seine Hacke beiseite und lief hinter Mahid her. Seine weiten Schritte waren trotz der harten Arbeit weich und federnd, und er erschien in seinen Bewegungen mehr, wie eine Katze, denn wie ein durchtrainierter Kämpfer. Almaric war der Tumult, den Mahid produzierte, auch aufgefallen, und er war ebenso in die gezeigte Richtung gelaufen und war nur wenige Schritte hinter seinem Herrn. Balian bahnte sich seinen Weg durch die Traube von Menschen, die sich inzwischen um den Brunnenschacht von Salem gebildet hatte. Balian befürchtete schon Schlimmes, als er an den Rand kam und sah, daß Salem mit zwei anderen des Dorfes bereits knietief im Wasser stand. Einen Moment war er sprachlos und nur ein Lächeln zeigte seine Freunde, dann meinte er mit einer Handbewegung rund um den Brunnen:

„Gut, befestigt die Wände mit Steinen."

Und sogleich machten sich alle Erwachsenen daran, Steine für die Befestigung heranzuschaffen. Allen konnte man die Freude anmerken. Balian lachte und feuerte die Menschen mit einem frohen „Ijala, ijala", was soviel wie „los, vorwärts" bedeutete an. Das Wasser in diesem Brunnen war nicht nur das notwendige und ersehnte Naß für die Menschen hier in Ibelin, es war auch eine Befreiung von dem Druck, den Balian in den letzten Tagen auf sich gespürt hatte. Er hatte recht gehabt, und hatte sich als neuer junger Herr dieses Landes bewiesen. An diesem Abend ließ sich Balian Zeit mit dem Bad und entspannte sich seit Tagen zum ersten Mal wieder. Als er schließlich das Bad verließ, war eine gute und angenehme Ruhe in ihm. Balian wandte sich in Richtung Terrasse, auf der er Latif gebeten hatte, ein Mahl zu richten, als Almaric zu ihm trat und zum Gruß den Kopf neigte.

„Guten Abend, Almaric, was führt Euch jetzt noch zu mir?", fragte Balian überrascht.

Und Almaric antwortete etwas verlegen:

„Mein Herr, meine Frau und ich wollten Euch fragen, ob Ihr mit uns speisen wollt. Ihr seid jeden Abend alleine und meine Frau meinte, Euch würde Gesellschaft gut tun." Almaric blickte Balian dabei offen an. In den letzten vier Tagen hatte er erkennen können, daß Balian seine Worte am ersten Tag durchaus ernst gemeint hatte und er keine Scheu haben mußte, solange keine Fremden dabei waren, so offen mit ihm zu sprechen. Balian lächelte Almaric an und nickte dann mit dem Kopf.

„Danke, Almaric, die Einladung nehme ich gerne an und ich danke auch der Fürsorge Eurer Frau." und er hieß Almaric mit einer Handbewegung, vorzugehen. Balian ging es so gut, wie schon lange nicht mehr, und seit dem heutigen Tag fühlte er sich mit den Menschen und diesem Land verbunden.

Die darauffolgenden Tage waren damit ausgefüllt, Wasserschöpfvorrichtungen und Wasserführungsrinnen herzustellen und aufzurichten. Diese Arbeit war genauso schwer wie das Graben der Brunnenschächte, aber sie kamen gut voran. In mehr und mehr Schächten stieß man schließlich auf Wasser und in allen begann es, sich nun innerhalb der steinernen Befestigungen zu sammeln. Heute nun, es waren inzwischen fast anderthalb Wochen seit Balians Eintreffen auf Ibelin vergangen, richteten sie das erste Schöpfrad auf. Wasserrinnen aus ausgehöhlten Palmenstämmen waren bereits verlegt, und nun begann das erste Wasser zu fließen. Alle hatten sich um das erste Wasserrad versammelt und warteten auf den großen Augenblick, wo der Herr das Zeichen für das Heben des Sperriegels gab. Balian inspizierte nochmals die gemauerten Wasserauffangbecken und die Rinnen, dann gab er das Zeichen, den Riegel zu entfernen und das bereits aufgestaute Wasser in die Leitungen zu entlassen. Unter dem Jubel der Kinder, der ihm ein Lächeln entlockte, schoß das Wasser nun durch die Rinnen. Und Sidem, Sohn eines Bauern, ließ das kleine Boot, das er gebastelt hatte, auf den Wassern durch die Rinnen tanzen, und alle Kinder waren ganz übermütig. Balian beobachtete diese Szene lachend, und Almaric und Salem freuten sich mit ihrem Herrn, der in den letzten Tagen mehr und mehr aus sich herausgegangen war und einen jungen Mann zeigte, der längst nicht so verschlossen, ernst und undurchdringlich war, wie sie ihn als Erbe seines Vaters und Ritter des Reiches kennengelernt hatten.

Balian war wohl aufgefallen, daß Almaric und Salem wie auch Latif ihn genau beobachtet hatten, und er hatte ihre Sorge um ihn erkannt. Er war ihnen dankbar für die Freundschaft, die sie ihm gaben, wenngleich sie nur bis zu einem gewissen Punkt gehen konnte, weil er vom Recht her ihr Herr und für sie verantwortlich war. Aber er war angekommen. Ibelin war sein neues Zuhause, und er freute sich an dem Wohl der Menschen, die ihm begegneten, und die Menschen dankten ihm seine Fürsorge mit ihrer Freundlichkeit, die ihm so wohl tat. Er erinnerte sich an Frankreich, das Dorf, und die ganz andere Welt, die er erlebt hatte und er war dankbar für die Fügung, die ihn hierher gebracht hatte. Und erst jetzt fiel Balian das Schreiben des Königs wieder ein. Balian mußte schmunzeln, er war sich sicher, daß Tiberias vorausgesehen hatte, daß er sich erst um die Bedürfnisse der Menschen kümmern und dennoch seine Pflicht nicht verletzten würde, bevor er sich mit dem Geheiß des Königs beschäftigen würde. Balian wandte sich wieder der Arbeit zu, das Schreiben konnte auch noch einige Stunden länger warten. Dafür war am Abend noch Zeit genug.


Anmerkungen

1> Bezug zum Film Als Balian von den Templern angegriffen wird, befindet er sich an einem Rastplatz mit mehreren gemauerten runden Gebilden, bei einem war eine Hebevorrichtung zu erkennen, so daß man annehmen kann, daß dies ausgetrocknete Brunnen oder Lagerzisternen waren.

2> Bezug zum Film Bevor der Trupp in Ibelin an hellichtem Tage eintrifft wird eine kurze Reiterszene bei Anbruch des Tages gezeigt.

3> Nach heutigen Maßstäben lag Ibelin ungefähr 75 km von Jerusalem entfernt. Es lag noch nicht im Küstenstreifenbereich, sondern im östlich davon gelegenen Hügelland namens Shefela das zum Bergland des Mt. Seir überleitet. Dieses Bergland mit dem dritthöchsten Berg von 2497 Meter fällt zur Negevwüste, die sich bis ans Rote Meer zieht, ab. (siehe auch topografische Karte im Glossar).

Bezug zum Film, man sah deutlich die Bergketten, die in Richtung Jerusalem anstiegen. Jerusalem selbst liegt auf einem Plateau dieser Bergkette in etwa 500 Meter Höhe über dem Meeresspiegel.

4> Bezug zum Film Ein möglicher Grund, warum Balian bei den Brunnen alleine unterwegs war. Dies war ein Gebiet, das von seinen Leuten bewacht wurde und daher war hier nicht mit Übergriffen zu rechnen.

5> Nach Überlieferungen in Minnegesängen war ein „vollkommener Ritter" derjenige, der nicht nur gemäß Rittereid und Lehnsverpflichtungen lebte, sondern auch bereit war im Sinne christlicher Barmherzigkeit, Bußfertigkeit und Glaubenswerten (s. Parzifal) bereit war, alles für die Nächstenliebe aufzugeben und sich nur seinem Glauben und dem eigenen Gewissen zu unterwerfen.


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Glossar kann hier downgeloadet werden: http/rapidshare.de/files/17947832/Glossar.doc

Die Kapitelbilder sind unter www. beim Hoster photopucket abgelegt und dort zu finden unter/albums/a310/sabaul/Roman KOH