1. Alles gehört Disney, mit einer leichten Inspiration aus Stefan
Zweigs "Schachnovelle", und damit meine ich nicht unbedingt das
Schachmotiv.
2. Um Platz für die Metaphorik zu schaffen, hab ich plündernde Piratinnen, zarte Zigeunerinnen und feurige Fürstentöchter rausgelassen. Sämtliche Ohrfeigen sind ohne jede Diskussion verdient.
3. Die Kapitel werden so lang, wie sie werden.
4. Erwartet Sonderbares.
Schachmatt 01
Mit dem großen Zeh wackeln. Anstrengender, als Jack es erwartet hat, aber der Zeh, der da unter der Decke herausschaut, ist damit eindeutig als sein eigener identifiziert. Und der andere, der linke große Zeh...
Der auch. Wie schön.
Folgerung: er ist Sparrow, Jack Sparrow, beim "Captain" ist er sich im Moment nicht so sicher, er ist im Bett, und alle Zehen, die er sieht, gehören ihm. Also allein.
Und nackt, nachdem er das Laken zurückschlägt. Feiner, glatter, kühler Stoff, ganz bestimmt nicht eins von seinen. Sich aufsetzen, zu schnell, und dann auf das Bett zurücksinken. Sein Kopf tut weh. Wird wohl gleich in Stücke zerspringen. Er ist eiskalt, und es klingelt nicht, als er sich bewegt.
Jack fährt sich mit den Händen durchs Haar.
Kein Haar da. Keine Perlen, keine Glocken, keine Münzen. Nur unregelmäßige Stoppeln, gerade genug, um fühlbar zu sein.
Der Schmuck liegt, säuberlich geordnet, auf einem niedrigen Tisch neben dem Kopfende des Bettes. Hinter dem Tisch ein Fenster, Jack sieht den Himmel, aber nicht mehr. Am Fußende eine Tür, vielleicht verschlossen, vielleicht nicht, und neben dem Bett eine Schüssel.
Jack setzt sich wieder auf. Plötzlich sind da zwei Fenster, dann wieder eins. Er kann einen grünen Hügel erkennen, oder zwei, vor dem Fenster, er betrachtet seine Hände und Arme und Beine und findet Blutergüsse, die genauso grün sind wie der/die Hügel, und auch gelb. Das ist interessant.
Plötzlich ist da Übelkeit, und Jack kotzt auf den Boden, versucht es, aber da kommt nichts. Nur Säure, und dann Dunkelheit.
Ein Captain geht immer mit seinem Schiff unter.
***
Das sind nicht nur Hügel, das sind Berge, draußen vor dem Fenster. Jack hat herausgefunden, dass er es öffnen kann, und er hat sich weit herausgelehnt. Weit und breit kein Meer zu sehen, nur diese verdammten Berge. Zwanzig Meter unter ihm erst der Boden, aus Lehm zwar, aber hart genug. Über seinem Fenster und darunter, rechts und links davon nur glatte Wände, und noch mehr Fenster.
Jack hat bereits seine Kleidung gefunden, sie ist gewaschen worden und dennoch fadenscheiniger denn je, er hat den Krug mit Wasser entdeckt, nicht ganz frisch, aber besser als das auf dem...
Schiff...
... und er hat bereits in die Schüssel gepisst, und er hat bereits die Tür untersucht, sie verschlossen gefunden, und er kann den Raum bereits auswendig, und er ist unruhig. Korrektion: komplett rastlos, kein Platz für Bewegung, die Decke viel zu niedrig, kein Wind vom Meer, und der Fußboden, mag er auch zehnmal mit orientalischen Teppichen bedeckt sein, er schaukelt nicht. Kein Schwert, keine Pistole, kein Kompass. Kein Hut.
Er fährt sich wieder durch die Haare. (Oder über den Kopf. Nicht dran denken.) Vielleicht sind sie inzwischen ein wenig länger geworden, wer kann das schon sagen, nach fünf Minuten.
Jack legt sich aufs Bett, ist aus lauter Langeweile gewillt, noch mehr zu schlafen, aber er hat allen Schlaf der Welt bereits verbraucht, und er will wissen, wo er ist, und warum, und wer da gerade an der Tür -
Jack blickt auf. Das Türschloss klickt, und ihm bleibt gerade genug Zeit, sich die Decke über die Ohren zu ziehen und schlaflos zu stellen.
Nicht gerade sein glanzvollstes Manöver. Dass er wach ist, dafür gibt es ja gewisse... Anzeichen. Die Decke wird ihm weggezogen, er klammert sich daran fest. Nicht loslassen. Der glatte Stoff, vielleicht Seide, vielleicht nicht, gleitet einfach so durch seine Hände, und Jack schließt die Augen. Seh ich dich nicht, siehst du mich nicht. Eine Faust trifft ihn ihm Gesicht, nicht hart, aber hart genug.
Es sind zwei Männer, dunkelhaarig, in leuchtendes Weiß gekleidet. Sie ergreifen seine Arme, zerren ihn nach oben, so dass er gar keine andere Möglichkeit hat, als aufzustehen. Der eine, etwas kleiner, etwas stärker, hält ihn fest, der andere, der größere Mann, fesselt seine Hände mit einem Seil, wie man es auf einem Schiff suchen würde. Oder an einem Galgen.
Sie vermeiden seinen Blick, flüstern einander zu, in zu leisem, zu verwischtem Spanisch, als dass Jack sie verstanden hätte. Er könnte die beiden etwas fragen, will nicht, tut es doch.
"¿Ya he abordad... amordazado jamàs?" fragt er den größeren, auf der Suche nach den richtigen Vokabeln. Ein völlig blanker Ausdruck ist seine Belohnung.
Jack denkt.
"Amenazado! That's the one! ¿Ya he amenazado ja-?"
Es ist noch nicht ganz heraus, da hat er schon wieder die Faust im Gesicht. Er wäre zurück aufs Bett gefallen, würde ihn der kleinere Mann nicht immer noch festhalten.
Jacks rechte Hand zuckt instinktiv zu seinem Kiefer, wo der Schmerz am größten ist, und dank der Fessel zieht sie die linke Hand gleich mit, wodurch er es schafft, sich selbst ins Gesicht zu schlagen.
Schade. Dieser Schmerz wäre durchaus eine wesentlich gemeinere Beleidigung wert gewesen.
Der Mann vor ihm lächelt, und das macht Jack nicht glücklicher, und er findet auch gleich einen Ort, wo seine Faust - seine Fäuste - seiner Meinung nach eher hingehören, nämlich in das Lächeln des Mannes vor ihm.
Unklug. Nummer eins ist wenigstens einen Kopf größer als er, Nummer zwei ist zumindest stärker, und Jack kann sich nicht bewegen.
Unklug. Und verrückt, völlig verrückt.
Schließlich führen sie ihn hinaus. Jack bemüht sich, ein wenig zu schwanken, aber er ist nicht mit dem Herzen bei der Sache.
***
Sie führen ihn einige Treppen herunter, um einige Ecken herum. Er kann nichts sehen, sie haben seine Augen verbunden. Jacks nackte Füße erfühlen Teppiche, dann Stein, dann hölzerne Dielen -
- wie auf einem Schiff, aber nein -
- dann Lehm, und gleichzeitig spürt er Wind und Sonnenschein, an seinem Schädel, ungewohnt intensiv, und schon ist er wieder drinnen. Eine schwere Tür schlägt hinter ihnen zu. Man lässt ihn los, man nimmt ihm die Augenbinde ab, aber nicht die Fesseln. Jack lächelt, vielleicht ist, wer immer ihn auch erwartet, für so etwas empfänglich.
Er sieht sich konfrontiert mit einem Schachbrett, und sein Lächeln schwindet.
Jacks Bewacher ziehen sich zu beiden Seiten zurück, in die Schatten, bleiben dennoch präsent. Nur die Raummitte ist erleuchtet, nur Jack und das Brett. Er blickt nach oben, sieht ein Oberlicht, findet sich geblendet.
Sehr dramatisch. Wirklich.
Jack macht einen Schritt zurück, in die Schwärze, und freut sich über seine Unsichtbarkeit.
Alles relativ. Jack zuckt zusammen - kaum merklich, aber es reicht, wenn er es weiß - als er das Klicken zweier Pistolen hört, die fast gleichzeitig entsichert werden. Jack hebt beschwichtigend die Hände, blickt nach links, dann nach rechts, lächelt, nur eine Spur nervös, und tritt wieder ins Licht.
Die schwarzen Figuren sind auf seiner Seite. Weiß hat bereits gezogen, den Königsbauern. Zwei Felder nach vorn.
Ein Gefühl, dass ihn übermannt, wie ein Ruder, mit dem ihm mal jemand bewusstlos geschlagen hat: völlig am falschen Ort zu sein, und nicht zu wissen, warum. Ein Gefühl wie morgens aufzuwachen, in einem Bett, dass definitiv nicht das eigene ist, mit einem Bettgenossen, den verführt zu haben man sich nicht mehr erinnern, und, nach näherer Betrachtung, auch nicht mehr nachvollziehen kann, mit schwerem Kopf und übersäuertem Magen. Genau dieses Gefühl, nur stärker.
Wenigstens hat er momentan nicht das dringende Bedürfnis, aufzuspringen und sich auf Filzläuse zu untersuchen. Vielleicht ist das schon etwas.
Wie dem auch sei, irgend jemand hat ihm auf ziemlich unmissverständliche Weise klargemacht, dass er mit ihm zu spielen wünscht. Und das soll er haben. Jack überlegt eine Weile, aber er ist nicht gut bei so etwas, und für den ersten Zug braucht er keine Taktik, oder?
Jack zieht einen Bauern, zwei Felder weit. Jetzt stehen sich die beiden gegenüber, Nase an Nase oder zumindest Holzkopf an Holzkopf. Jack hat ihn tasächlich ein winziges Stück zu weit geschoben, so dass er teilweise auf dem Feld des anderen steht.
Ihm bleibt nur wenig Zeit, sich seiner Anmaßung zu freuen, denn schon verbindet man ihm wieder die Augen, führt ihn hinaus, den langen Weg zurück. In seinem Zimmer, als er wieder sehen kann, lächelt er. Lehnt sich an den größeren der beiden Männer an, während sie ihm die Handfesseln abnehmen. Schaut ihm in die Augen. Sagt "Gracias, Miguel" und erntet Verwirrung und einen halbherzigen Fausthieb.
Soll der sich doch eine Weile darüber den Kopf zerbrechen, woher Jack ihn kennt.
*
*
*
Beobachte nicht den Gegner. Beobachte das Schachfeld. Und betrink dich nicht.
Und doch ertappte sich Jack dabei, wie er seinen Gegner beobachtete. Und sich betrank.
Sein Gegner war ein Pirat, und er spielte mit weiß. Jack schien immer wieder die schwarzen Figuren abzubekommen, doch es störte ihn wenig. Er war ohnehin im Vorteil, denn sein Gegner hieß William und arbeitete auf seinem Schiff. Er hatte keinen Rang. Auf Jacks Schiff gab es nur den Captain und die anderen, und den Ersten Maat, aber das war mehr eine Art - Ehrentitel. Weil Dante sich das so gewünscht hatte.
Es war der erste Landurlaub nach zwei Monaten, irgendwo in Indien. Jack wusste nicht mehr so genau, wie er hierhergeraten war, er war wohl einfach William gefolgt, und den hatte es irgendwie in einen sehr englischen Salon verschlagen. Jack hatte seit bestimmt drei Stunden keinen einzigen Einheimischen mehr gesehen. Man sprach englisch, man trank Tee, und es gab keinen Rum. Wobei der Brandy auch nicht schlecht war.
Und man spielte Schach.
Ein Wassertropfen wanderte über Jacks Hals in den Kragen seines - endlich - frischgewaschenen Hemdes. Zwar hatte er viel Übung im Ignorieren von Gerüchen, aber nach acht Wochen auf See musste damit auch mal wieder gut sein. Sein Haupthaar hatte er bereits am frühen Vormittag in einen Kübel mit Wasser gesteckt; die verfilzten Dreadlocks wurden einfach nicht trocken. Und von der einen, angeblich rein goldenen Münze war die Farbe abgegangen, und darum gab es da jemanden, mit dem er wohl ein Wörtchen reden müsste, sollte es ihn demnächst mal wieder nach Bagdad verschlagen. Aber abgesehen davon plante er derzeit wenige Rachefeldzüge, im Gegenteil: seine Stimmung war ungewöhnlich gehoben.
"Was war das?" fragte William mit dem ihm eigenen Ausdruck der Verwirrung. Sein Haar war bereits völlig trocken. Es erstaunte Jack, wie sehr William sich in diese Umgebung von teetrinkenden Gentlemen einfügen konnte. Dafür erstaunte es vermutlich William, wie wenig Zeit Jack gebraucht hatte, den Türsteher davon zu überzeugen, ihn hineinzulassen.
Es zahlte sich eben aus, Bekanntschaften zu pflegen.
"Eine Rochade", antwortete Jack, hob dabei sein Brandyglas, das prompt und schweigsam nachgefüllt wurde.
"Nein, ich meine - was sollte das?"
Jack zuckte die Achseln, lächelte, ein wenig abwesend. Er hatte keinen Alkohol getrunken, seit sie Nassau verlassen hatten. Und was sollte er antworten? Dass es ihn diebisch freute, König und Turm zu vertauschen, einfach so?
William war viel zu ernsthaft und viel zu verheiratet. Fand Jack. Er hielt sich immer noch an seinem zweiten Glas Brandy fest, und das hielt Jack für unfair.
"Jack, du machst es falsch", sagte William und raufte sich das Haar, "deine Spielzüge müssen den Zweck haben, den Gegner zu besiegen. Nicht, ihn zu beeindrucken."
Aber so offensichtlich war er doch nun auch wieder nicht gewesen, oder...? Jack lehnte sich zurück, musterte sein Gegenüber, versuchte, ihn als Gegner anzusehen. Er beobachte William dabei, wie der das Spielfeld fixierte, einen Turm bewegte, die schwarze Dame schlug, und wieder aufblickte.
"Du konzentrierst dich nicht", sagte William.
Oh doch, Jack konzentrierte sich sehr wohl. Auf die leise Cembalomusik aus dem angrenzenden Zimmer, auf die Wassertropfen, die gelegentlich über sein Gesicht rannen, auf den Brandy, der diese innere Wärme verursachte, die so ganz anders war als die verheerende äußere Wärme, und auf William, wie der den Kopf schieflegte, die Augen verengte, über das Schachfeld reichte und ihn -
- ein wenig aus seiner Trance herausschlug.
Vielleicht hatte er die verdient.
Jack versuchte, William auszublenden - das war schwer, denn er war sehr nahe und sehr präsent und, oh nein, jetzt wurde er wirklich sentimental, und fokussierte seine Gedanken auf das Spielbrett.
Was hatte er die letzten beiden Stunden eigentlich gemacht? Figuren hin und her geschoben, ständig versucht, den kleinen schwarzen König aus bedenklich erscheinenden Situationen zu retten. Er erinnerte sich vage an zehn Minuten, die er allein damit verbracht hatte, vor zwei Bauern wegzulaufen. An Angriff war kaum zu denken.
Aber er hatte noch einen Bauern, und den tauschte er jetzt gegen eine neue Dame. Nein, dieser König hatte wirklich nicht lange gebraucht, um über den Verlust der alten hinwegzukommen. Dabei fand Jack ihn nicht unsympathisch.
Jack lächelte. Entschied sich endlich, den Hut abzunehmen, es war so heiß, und wer würde ihn sehen, außer William und den englischen Gentlemen? Genau.
William schlug die Beine übereinander, schien nachzudenken.
"Wer hat dir Schachspielen beigebracht?" fragte er schließlich, mit einem Lächeln, in dem ein Zahn fehlte. Egal. Wenn Jack auf ihrer nächsten Reise fand, was er suchte, würde William sich einen Goldzahn leisten können.
Allerdings nicht, wenn er weiterhin so frech war. Und wenn er noch so sehr vier Jahre älter war und somit die Weisheit der Alten besaß. Sagte er.
"Ein Mädchen. In Spanien. Uns war langweilig."
"Du hast keine Ahnung von Strategie", sagte William und fügte vorsichtshalber ein "Captain" hinzu. Jack hob eine Braue.
"So langweilig war uns nun auch wieder nicht", erwiderte Jack. In ihm glimmte kurz eine Erinnerung auf, die er gewöhnlich ganz gerne ausgrub - aber nicht jetzt. Nicht ablenken lassen. Und nicht zu wüst betrinken. Er stellte das Brandyglas - unerklärlicherweise leer - auf den Tisch.
Schon wieder am Zug? Er hatte Williams Bewegung wohl nicht mitbekommen, und traute sich nicht, nachzufragen. Es war egal. Jack bewegte die neue Dame, um sie ihrem König ein wenig näher zu bringen. Schubste gleichzeitig mit dem kleinen Finger den einen Läufer, der ihm noch geblieben war, ein Feld weiter. Blickte auf und sah sich konfrontiert mit Williams sehr zurechtweisenden Blick, fühlte sich dabei zwanzig Jahre zurückversetzt in die glorreichen Tage seiner Zeit als Klosterschüler. Lächelte entschuldigend.
Zumal es bei einem Spiel unter Piraten ohnehin nur darum ging, wer besser bescheißen konnte. Das würde William wohl noch einsehen müssen.
William berührte seinen König, hielt inne, griff mit der anderen Hand zum Brandyglas, zog dann die Figur ein Feld weiter, runzelte die Stirn.
Jack tat es ihm gleich. Was hatte er da nur wieder angestellt?
Und plötzlich sah er sie, die Möglichkeiten, die er hatte, und das war der Moment, den sechs bewaffnete Männer nutzten, um die Tür zum Salon einzuschlagen.
Jack und William verließen den Raum durch das Fenster.
***
"Jack, ist das wirklich nötig?" fragte eine angestrengt klingende Stimme von unten. Jack versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, was seinen Gleichgewichtssinn vor ein gewisses Problem stellte, zumal er sich nach wie vor auf Williams Schultern befand.
"Es ist gleich soweit. Jetzt sortiert er gerade Urkunden."
"Weißt du, niemand auf die Idee kommen, dich ohne Hut nicht ernst zu nehmen. Und denk bitte - autsch - dran, dass wir Madras - autsch - in vier Stunden verlassen wollten."
"Die fahren nicht ohne mich. Und ich nicht ohne meinen Hut."
Jack kletterte wieder herunter. Aus dem Fenster des Hauptquartiers der Handelskompanie drang immer noch schwacher, flackernder Lichtschein, dabei war es fast Mitternacht.
Respektable Männer, wirklich. Jack drängte William tiefer in die Schatten der schmalen Gasse, als fünf Meter entfernt auf der Hauptstraße wieder einmal Soldaten der Royal Navy vorbeidefilierten. Was machten die hier bloß alle?
Eine Weile lang versanken die beiden in Schweigen. Mit jedem Atemzug spürte Jack, wie er sich wieder dem Zustand der Nüchternheit näherte, und gleichzeitig wuchs in ihm eine Gewissheit, die er nie und nimmer zugeben würde: das hier war doch etwas arg übertrieben, wenn man bedachte, dass es nur um einen alten Hut ging.
Dann wieder Stille.
Einmal traute sich ein Mädchen in ihre Gasse, lächelte verführerisch und zeigte dabei unglaublich verrottete Zähne. Sie war hübsch, und Jack brauchte erst einen Rippenstoß von William, um es übers Herz zu bringen, sie zu verscheuchen.
Schließlich verlosch der schwache Lichtschein.
"Jetzt", zischte Jack. William ging gehorsam auf die Knie, und Jack stieg, schwankend, wieder auf seine Schultern. Wie man ein Fenster von außen öffnete, darin hatte er allerdings Routine, und so stand er weniger als zwei Minuten später im Raum. Jack reichte William die Hand, um ihn nachklettern zu lassen.
Wo war sein Hut? Jack befürchtete schon halb, das ganze Haus danach durchsuchen zu müssen, aber nein -
Da war er. Auf dem Schreibtisch.
Es fühlte sich irgendwie - zu einfach an, aber Jack hatte noch nicht gelernt, sein Glück in Frage zu stellen. Er streckte die Hand nach seinem Hab und Gut aus.
Und dann - das unangenehm bekannte Gefühl einer Pistolenmündung, die sich in seinen Rücken bohrte. Jack hob die Hände, drehte sich langsam um und hoffte dabei, dass William, der bis jetzt noch neben dem Fenster gestanden hatte, soviel gesunden Menschenverstand zusammenkratzen konnte, um durch eben jenes den Raum schleunigst wieder zu verlassen.
Und er wusste nicht recht, ob er wütend oder froh sein sollte, als er sah, wie William seine eigene Pistole zog, sie entsicherte und auf den Vertreter der Staatsgewalt richtete.
"Idiot", raunte er ihm zu. Denn, wie sich jetzt herausstellte, war der Soldat nicht allein gekommen.
***
Manchmal wusste Jack nicht, was er ohne William überhaupt tun würde. Erst eine halbe Stunde im Gefängnis, und schon hatte der es geschafft, vom Wärter Tabak zu schnorren und für sie beide Einzelzellen zu bekommen. William war vielleicht der bessere Schachspieler, aber den Sinn dieser Aktion hatte Jack bisher noch nicht nachvollziehen können - er hatte sich in der Gesellschaft von dreißig Verbrechern nicht sonderlich unwohl gefühlt, er kannte das von der Pearl, und zwei Schlösser waren eben schwerer zu knacken als eins.
Außerdem wurmte ihn verletzter Stolz. Immerhin war er selbst immer noch mittendrin, den Wärter dazu zu bringen, ihnen eine Flasche Rum oder die Zellenschlüssel oder etwas ähnlich brauchbares zu bringen, und es war kein Ende in Sicht.
"Sieh mal, Charly", seufzte er, "ich bin mir sicher, dass ich dich von irgendwoher kenne. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, woher." Er scharrte ein wenig lustlos mit den Füßen im Stroh. Lehnte sich an die Wand der Zelle und tat sein bestes, müde auszusehen. Müde war er tatsächlich, aber er zeigte das in wohlüberlegten Dosen.
"Also, wo kommst du her?" Lächeln, immer lächeln.
"England" antwortete der Wärter - er war bestenfalls achtzehn, ein Kind. Was vermutlich gut war, vielleicht war er ja leicht zu beeindrucken. Oder hatte etwas übrig für Experimente. "Stratford-upon-Avon, um genau zu sein."
Jack stöhnte innerlich. Das hier würde schwierig werden, immerhin hatte er das englische Festland in seinem ganzen Leben noch nie mit seiner Anwesenheit beglückt.
"Was für ein Zufall", erwiderte er freudestrahlend, "ich habe dort praktisch mein gesamtes Leben verbracht. Sein oder Nichtsein, nicht wahr?"
Der Jüngling sah verwirrt aus. Dies war ein Gesichtsausdruck, der in Jacks Gegenwart überdurchschnittlich oft auftauchte, drum kümmerte er sich nicht weiter darum.
"Shakespeare? Der gute alte William?"
Der wälzte sich wohl gerade im Grab auf die andere Seite.
"Jedenfalls - du hast bestimmt die gute Mrs Huntington kennengelernt? Die mittelgroße, mit den helldunklen Haaren, keinerlei auffällige Merkmale? Ich war jedenfalls ihr, äh, Neffe."
Keine Reaktion. Der Junge war wohl immer noch dabei, den Shakespeare zu verdauen.
Jacks Augen leuchteten auf.
"Komm schon, Charly. Du wirst doch nicht die unzähligen Teekränzchen und, uh, Kricketspiele vergessen haben. Und die Sache mit dem Pferd von Miss - wie hieß sie noch? Brown. Und Miss Brown selber, oh là là - jetzt wirst du aber rot."
"Wir haben Stratford verlassen, als ich zwei war", kam die etwas steife Antwort.
Mist.
***
Sie kamen zwei Stunden nach der vereinbarten Zeit im Hafen an. Die Pearl war immer noch da, zwar zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie sie vermutet hatten, aber glücklicherweise unübersehbar. Schwarze Segel hatten diesen Vorteil.
Warum der Piratenkodex nicht zur Anwendung gekommen war? Das diensthabende Crewmitglied, Joseph Wieauchimmererhieß, zuckte mit den Schultern.
"Loch im Segel", sagte er. "Mussten nochmal umkehren."
Jetzt steuerte der Erste Maat das Schiff. Der Captain und William saßen missmutig auf der Reling und versuchten, Befriedigung daraus zu ziehen, wie Madras im Licht des Sonnenaufgangs immer kleiner wurde.
Verdammte East India Trading Company.
Ab und zu wickelte Jack den grauen Lumpen von seinem Unterarm und tauchte ihn abwesend in ein Fass mit kaltem Seewasser. Auch nach der sechsten Wiederholung dieser Prozedur war er fasziniert von dem, was er sah. Die gigantische Schwellung, das leuchtende Rot. Der Schmerz war dafür weniger interessant, nur stark, pulsierend, atemberaubend. Jack hob die Rumflasche, überlegte, ob Bedarf bestand, die Wunde mit Alkohol zu waschen, entschied sich dann doch für die orale Anwendung. Er wickelte den tropfend nassen Lappen wieder um seinen Arm.
Jack jaulte bei der Berührung leise auf. William neben ihm spuckte nur ungerührt in den Ozean, kaute weiter auf dem Tabak - eben jenem, den der Wärter ihm geschenkt hatte - und ignorierte seinen eigenen Verband. Der sah dafür wesentlich professioneller aus als alles, was Jack je hinbekommen hätte.
Für eine lange Zeit starrte er nur in die Ferne, bis die indische Küste ganz verschwunden war und die Sonne hoch am Himmel stand.
"Ich schenk dir 'nen neuen Hut", murmelte William irgendwann, sprang auf Deck und zog sich in die Mannschaftskajüte zurück. Der Captain blickte ihm nach und stellte dabei fest, dass das Hauptsegel der Pearl sehr geschickt geflickt war.
Mit weiß.
Jack lächelte ein wenig in sich hinein.
***
Viel später:
"William?"
"..."
"William!"
"..."
"Willia -!"
"Autsch! Dämlicher Bastard verdammtnochmal -"
"Hab ich dich geweckt?"
"Wasloskäbb'n? Und wehe, s'is kein Leck inna Wand oder -"
"Glaubst du, ich sollte mir einen Bart wachsen lassen?"
"Was?"
"Glaubst du, ich sollte mir einen Bart wachsen lassen?"
"Hab dich schon verstanden."
"Soll ich?"
"Warum? Warum willste dir 'nen Bart wachsen lassen, und warum mitten in der Nacht?"
"Äh - William?"
"Was denn?"
"Findest du, ich sehe aus wie... äh?"
"Wie denn?"
murmelmurmel.
"Ich hab da akustisch was nicht verstanden."
"Dergefängniswärterhatgesagtichseheauswieeinmädchen. Zufrieden?"
"..."
"William?"
"..."
"Hör sofort auf zu lachen."
"Aber gleich, Ja... Jacky... lass dir ruhig 'nen Bart wachsen..."
"William?"
"Ja, Captain?"
"Selber dämlich."
2. Um Platz für die Metaphorik zu schaffen, hab ich plündernde Piratinnen, zarte Zigeunerinnen und feurige Fürstentöchter rausgelassen. Sämtliche Ohrfeigen sind ohne jede Diskussion verdient.
3. Die Kapitel werden so lang, wie sie werden.
4. Erwartet Sonderbares.
Schachmatt 01
Mit dem großen Zeh wackeln. Anstrengender, als Jack es erwartet hat, aber der Zeh, der da unter der Decke herausschaut, ist damit eindeutig als sein eigener identifiziert. Und der andere, der linke große Zeh...
Der auch. Wie schön.
Folgerung: er ist Sparrow, Jack Sparrow, beim "Captain" ist er sich im Moment nicht so sicher, er ist im Bett, und alle Zehen, die er sieht, gehören ihm. Also allein.
Und nackt, nachdem er das Laken zurückschlägt. Feiner, glatter, kühler Stoff, ganz bestimmt nicht eins von seinen. Sich aufsetzen, zu schnell, und dann auf das Bett zurücksinken. Sein Kopf tut weh. Wird wohl gleich in Stücke zerspringen. Er ist eiskalt, und es klingelt nicht, als er sich bewegt.
Jack fährt sich mit den Händen durchs Haar.
Kein Haar da. Keine Perlen, keine Glocken, keine Münzen. Nur unregelmäßige Stoppeln, gerade genug, um fühlbar zu sein.
Der Schmuck liegt, säuberlich geordnet, auf einem niedrigen Tisch neben dem Kopfende des Bettes. Hinter dem Tisch ein Fenster, Jack sieht den Himmel, aber nicht mehr. Am Fußende eine Tür, vielleicht verschlossen, vielleicht nicht, und neben dem Bett eine Schüssel.
Jack setzt sich wieder auf. Plötzlich sind da zwei Fenster, dann wieder eins. Er kann einen grünen Hügel erkennen, oder zwei, vor dem Fenster, er betrachtet seine Hände und Arme und Beine und findet Blutergüsse, die genauso grün sind wie der/die Hügel, und auch gelb. Das ist interessant.
Plötzlich ist da Übelkeit, und Jack kotzt auf den Boden, versucht es, aber da kommt nichts. Nur Säure, und dann Dunkelheit.
Ein Captain geht immer mit seinem Schiff unter.
***
Das sind nicht nur Hügel, das sind Berge, draußen vor dem Fenster. Jack hat herausgefunden, dass er es öffnen kann, und er hat sich weit herausgelehnt. Weit und breit kein Meer zu sehen, nur diese verdammten Berge. Zwanzig Meter unter ihm erst der Boden, aus Lehm zwar, aber hart genug. Über seinem Fenster und darunter, rechts und links davon nur glatte Wände, und noch mehr Fenster.
Jack hat bereits seine Kleidung gefunden, sie ist gewaschen worden und dennoch fadenscheiniger denn je, er hat den Krug mit Wasser entdeckt, nicht ganz frisch, aber besser als das auf dem...
Schiff...
... und er hat bereits in die Schüssel gepisst, und er hat bereits die Tür untersucht, sie verschlossen gefunden, und er kann den Raum bereits auswendig, und er ist unruhig. Korrektion: komplett rastlos, kein Platz für Bewegung, die Decke viel zu niedrig, kein Wind vom Meer, und der Fußboden, mag er auch zehnmal mit orientalischen Teppichen bedeckt sein, er schaukelt nicht. Kein Schwert, keine Pistole, kein Kompass. Kein Hut.
Er fährt sich wieder durch die Haare. (Oder über den Kopf. Nicht dran denken.) Vielleicht sind sie inzwischen ein wenig länger geworden, wer kann das schon sagen, nach fünf Minuten.
Jack legt sich aufs Bett, ist aus lauter Langeweile gewillt, noch mehr zu schlafen, aber er hat allen Schlaf der Welt bereits verbraucht, und er will wissen, wo er ist, und warum, und wer da gerade an der Tür -
Jack blickt auf. Das Türschloss klickt, und ihm bleibt gerade genug Zeit, sich die Decke über die Ohren zu ziehen und schlaflos zu stellen.
Nicht gerade sein glanzvollstes Manöver. Dass er wach ist, dafür gibt es ja gewisse... Anzeichen. Die Decke wird ihm weggezogen, er klammert sich daran fest. Nicht loslassen. Der glatte Stoff, vielleicht Seide, vielleicht nicht, gleitet einfach so durch seine Hände, und Jack schließt die Augen. Seh ich dich nicht, siehst du mich nicht. Eine Faust trifft ihn ihm Gesicht, nicht hart, aber hart genug.
Es sind zwei Männer, dunkelhaarig, in leuchtendes Weiß gekleidet. Sie ergreifen seine Arme, zerren ihn nach oben, so dass er gar keine andere Möglichkeit hat, als aufzustehen. Der eine, etwas kleiner, etwas stärker, hält ihn fest, der andere, der größere Mann, fesselt seine Hände mit einem Seil, wie man es auf einem Schiff suchen würde. Oder an einem Galgen.
Sie vermeiden seinen Blick, flüstern einander zu, in zu leisem, zu verwischtem Spanisch, als dass Jack sie verstanden hätte. Er könnte die beiden etwas fragen, will nicht, tut es doch.
"¿Ya he abordad... amordazado jamàs?" fragt er den größeren, auf der Suche nach den richtigen Vokabeln. Ein völlig blanker Ausdruck ist seine Belohnung.
Jack denkt.
"Amenazado! That's the one! ¿Ya he amenazado ja-?"
Es ist noch nicht ganz heraus, da hat er schon wieder die Faust im Gesicht. Er wäre zurück aufs Bett gefallen, würde ihn der kleinere Mann nicht immer noch festhalten.
Jacks rechte Hand zuckt instinktiv zu seinem Kiefer, wo der Schmerz am größten ist, und dank der Fessel zieht sie die linke Hand gleich mit, wodurch er es schafft, sich selbst ins Gesicht zu schlagen.
Schade. Dieser Schmerz wäre durchaus eine wesentlich gemeinere Beleidigung wert gewesen.
Der Mann vor ihm lächelt, und das macht Jack nicht glücklicher, und er findet auch gleich einen Ort, wo seine Faust - seine Fäuste - seiner Meinung nach eher hingehören, nämlich in das Lächeln des Mannes vor ihm.
Unklug. Nummer eins ist wenigstens einen Kopf größer als er, Nummer zwei ist zumindest stärker, und Jack kann sich nicht bewegen.
Unklug. Und verrückt, völlig verrückt.
Schließlich führen sie ihn hinaus. Jack bemüht sich, ein wenig zu schwanken, aber er ist nicht mit dem Herzen bei der Sache.
***
Sie führen ihn einige Treppen herunter, um einige Ecken herum. Er kann nichts sehen, sie haben seine Augen verbunden. Jacks nackte Füße erfühlen Teppiche, dann Stein, dann hölzerne Dielen -
- wie auf einem Schiff, aber nein -
- dann Lehm, und gleichzeitig spürt er Wind und Sonnenschein, an seinem Schädel, ungewohnt intensiv, und schon ist er wieder drinnen. Eine schwere Tür schlägt hinter ihnen zu. Man lässt ihn los, man nimmt ihm die Augenbinde ab, aber nicht die Fesseln. Jack lächelt, vielleicht ist, wer immer ihn auch erwartet, für so etwas empfänglich.
Er sieht sich konfrontiert mit einem Schachbrett, und sein Lächeln schwindet.
Jacks Bewacher ziehen sich zu beiden Seiten zurück, in die Schatten, bleiben dennoch präsent. Nur die Raummitte ist erleuchtet, nur Jack und das Brett. Er blickt nach oben, sieht ein Oberlicht, findet sich geblendet.
Sehr dramatisch. Wirklich.
Jack macht einen Schritt zurück, in die Schwärze, und freut sich über seine Unsichtbarkeit.
Alles relativ. Jack zuckt zusammen - kaum merklich, aber es reicht, wenn er es weiß - als er das Klicken zweier Pistolen hört, die fast gleichzeitig entsichert werden. Jack hebt beschwichtigend die Hände, blickt nach links, dann nach rechts, lächelt, nur eine Spur nervös, und tritt wieder ins Licht.
Die schwarzen Figuren sind auf seiner Seite. Weiß hat bereits gezogen, den Königsbauern. Zwei Felder nach vorn.
Ein Gefühl, dass ihn übermannt, wie ein Ruder, mit dem ihm mal jemand bewusstlos geschlagen hat: völlig am falschen Ort zu sein, und nicht zu wissen, warum. Ein Gefühl wie morgens aufzuwachen, in einem Bett, dass definitiv nicht das eigene ist, mit einem Bettgenossen, den verführt zu haben man sich nicht mehr erinnern, und, nach näherer Betrachtung, auch nicht mehr nachvollziehen kann, mit schwerem Kopf und übersäuertem Magen. Genau dieses Gefühl, nur stärker.
Wenigstens hat er momentan nicht das dringende Bedürfnis, aufzuspringen und sich auf Filzläuse zu untersuchen. Vielleicht ist das schon etwas.
Wie dem auch sei, irgend jemand hat ihm auf ziemlich unmissverständliche Weise klargemacht, dass er mit ihm zu spielen wünscht. Und das soll er haben. Jack überlegt eine Weile, aber er ist nicht gut bei so etwas, und für den ersten Zug braucht er keine Taktik, oder?
Jack zieht einen Bauern, zwei Felder weit. Jetzt stehen sich die beiden gegenüber, Nase an Nase oder zumindest Holzkopf an Holzkopf. Jack hat ihn tasächlich ein winziges Stück zu weit geschoben, so dass er teilweise auf dem Feld des anderen steht.
Ihm bleibt nur wenig Zeit, sich seiner Anmaßung zu freuen, denn schon verbindet man ihm wieder die Augen, führt ihn hinaus, den langen Weg zurück. In seinem Zimmer, als er wieder sehen kann, lächelt er. Lehnt sich an den größeren der beiden Männer an, während sie ihm die Handfesseln abnehmen. Schaut ihm in die Augen. Sagt "Gracias, Miguel" und erntet Verwirrung und einen halbherzigen Fausthieb.
Soll der sich doch eine Weile darüber den Kopf zerbrechen, woher Jack ihn kennt.
*
*
*
Beobachte nicht den Gegner. Beobachte das Schachfeld. Und betrink dich nicht.
Und doch ertappte sich Jack dabei, wie er seinen Gegner beobachtete. Und sich betrank.
Sein Gegner war ein Pirat, und er spielte mit weiß. Jack schien immer wieder die schwarzen Figuren abzubekommen, doch es störte ihn wenig. Er war ohnehin im Vorteil, denn sein Gegner hieß William und arbeitete auf seinem Schiff. Er hatte keinen Rang. Auf Jacks Schiff gab es nur den Captain und die anderen, und den Ersten Maat, aber das war mehr eine Art - Ehrentitel. Weil Dante sich das so gewünscht hatte.
Es war der erste Landurlaub nach zwei Monaten, irgendwo in Indien. Jack wusste nicht mehr so genau, wie er hierhergeraten war, er war wohl einfach William gefolgt, und den hatte es irgendwie in einen sehr englischen Salon verschlagen. Jack hatte seit bestimmt drei Stunden keinen einzigen Einheimischen mehr gesehen. Man sprach englisch, man trank Tee, und es gab keinen Rum. Wobei der Brandy auch nicht schlecht war.
Und man spielte Schach.
Ein Wassertropfen wanderte über Jacks Hals in den Kragen seines - endlich - frischgewaschenen Hemdes. Zwar hatte er viel Übung im Ignorieren von Gerüchen, aber nach acht Wochen auf See musste damit auch mal wieder gut sein. Sein Haupthaar hatte er bereits am frühen Vormittag in einen Kübel mit Wasser gesteckt; die verfilzten Dreadlocks wurden einfach nicht trocken. Und von der einen, angeblich rein goldenen Münze war die Farbe abgegangen, und darum gab es da jemanden, mit dem er wohl ein Wörtchen reden müsste, sollte es ihn demnächst mal wieder nach Bagdad verschlagen. Aber abgesehen davon plante er derzeit wenige Rachefeldzüge, im Gegenteil: seine Stimmung war ungewöhnlich gehoben.
"Was war das?" fragte William mit dem ihm eigenen Ausdruck der Verwirrung. Sein Haar war bereits völlig trocken. Es erstaunte Jack, wie sehr William sich in diese Umgebung von teetrinkenden Gentlemen einfügen konnte. Dafür erstaunte es vermutlich William, wie wenig Zeit Jack gebraucht hatte, den Türsteher davon zu überzeugen, ihn hineinzulassen.
Es zahlte sich eben aus, Bekanntschaften zu pflegen.
"Eine Rochade", antwortete Jack, hob dabei sein Brandyglas, das prompt und schweigsam nachgefüllt wurde.
"Nein, ich meine - was sollte das?"
Jack zuckte die Achseln, lächelte, ein wenig abwesend. Er hatte keinen Alkohol getrunken, seit sie Nassau verlassen hatten. Und was sollte er antworten? Dass es ihn diebisch freute, König und Turm zu vertauschen, einfach so?
William war viel zu ernsthaft und viel zu verheiratet. Fand Jack. Er hielt sich immer noch an seinem zweiten Glas Brandy fest, und das hielt Jack für unfair.
"Jack, du machst es falsch", sagte William und raufte sich das Haar, "deine Spielzüge müssen den Zweck haben, den Gegner zu besiegen. Nicht, ihn zu beeindrucken."
Aber so offensichtlich war er doch nun auch wieder nicht gewesen, oder...? Jack lehnte sich zurück, musterte sein Gegenüber, versuchte, ihn als Gegner anzusehen. Er beobachte William dabei, wie der das Spielfeld fixierte, einen Turm bewegte, die schwarze Dame schlug, und wieder aufblickte.
"Du konzentrierst dich nicht", sagte William.
Oh doch, Jack konzentrierte sich sehr wohl. Auf die leise Cembalomusik aus dem angrenzenden Zimmer, auf die Wassertropfen, die gelegentlich über sein Gesicht rannen, auf den Brandy, der diese innere Wärme verursachte, die so ganz anders war als die verheerende äußere Wärme, und auf William, wie der den Kopf schieflegte, die Augen verengte, über das Schachfeld reichte und ihn -
- ein wenig aus seiner Trance herausschlug.
Vielleicht hatte er die verdient.
Jack versuchte, William auszublenden - das war schwer, denn er war sehr nahe und sehr präsent und, oh nein, jetzt wurde er wirklich sentimental, und fokussierte seine Gedanken auf das Spielbrett.
Was hatte er die letzten beiden Stunden eigentlich gemacht? Figuren hin und her geschoben, ständig versucht, den kleinen schwarzen König aus bedenklich erscheinenden Situationen zu retten. Er erinnerte sich vage an zehn Minuten, die er allein damit verbracht hatte, vor zwei Bauern wegzulaufen. An Angriff war kaum zu denken.
Aber er hatte noch einen Bauern, und den tauschte er jetzt gegen eine neue Dame. Nein, dieser König hatte wirklich nicht lange gebraucht, um über den Verlust der alten hinwegzukommen. Dabei fand Jack ihn nicht unsympathisch.
Jack lächelte. Entschied sich endlich, den Hut abzunehmen, es war so heiß, und wer würde ihn sehen, außer William und den englischen Gentlemen? Genau.
William schlug die Beine übereinander, schien nachzudenken.
"Wer hat dir Schachspielen beigebracht?" fragte er schließlich, mit einem Lächeln, in dem ein Zahn fehlte. Egal. Wenn Jack auf ihrer nächsten Reise fand, was er suchte, würde William sich einen Goldzahn leisten können.
Allerdings nicht, wenn er weiterhin so frech war. Und wenn er noch so sehr vier Jahre älter war und somit die Weisheit der Alten besaß. Sagte er.
"Ein Mädchen. In Spanien. Uns war langweilig."
"Du hast keine Ahnung von Strategie", sagte William und fügte vorsichtshalber ein "Captain" hinzu. Jack hob eine Braue.
"So langweilig war uns nun auch wieder nicht", erwiderte Jack. In ihm glimmte kurz eine Erinnerung auf, die er gewöhnlich ganz gerne ausgrub - aber nicht jetzt. Nicht ablenken lassen. Und nicht zu wüst betrinken. Er stellte das Brandyglas - unerklärlicherweise leer - auf den Tisch.
Schon wieder am Zug? Er hatte Williams Bewegung wohl nicht mitbekommen, und traute sich nicht, nachzufragen. Es war egal. Jack bewegte die neue Dame, um sie ihrem König ein wenig näher zu bringen. Schubste gleichzeitig mit dem kleinen Finger den einen Läufer, der ihm noch geblieben war, ein Feld weiter. Blickte auf und sah sich konfrontiert mit Williams sehr zurechtweisenden Blick, fühlte sich dabei zwanzig Jahre zurückversetzt in die glorreichen Tage seiner Zeit als Klosterschüler. Lächelte entschuldigend.
Zumal es bei einem Spiel unter Piraten ohnehin nur darum ging, wer besser bescheißen konnte. Das würde William wohl noch einsehen müssen.
William berührte seinen König, hielt inne, griff mit der anderen Hand zum Brandyglas, zog dann die Figur ein Feld weiter, runzelte die Stirn.
Jack tat es ihm gleich. Was hatte er da nur wieder angestellt?
Und plötzlich sah er sie, die Möglichkeiten, die er hatte, und das war der Moment, den sechs bewaffnete Männer nutzten, um die Tür zum Salon einzuschlagen.
Jack und William verließen den Raum durch das Fenster.
***
"Jack, ist das wirklich nötig?" fragte eine angestrengt klingende Stimme von unten. Jack versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, was seinen Gleichgewichtssinn vor ein gewisses Problem stellte, zumal er sich nach wie vor auf Williams Schultern befand.
"Es ist gleich soweit. Jetzt sortiert er gerade Urkunden."
"Weißt du, niemand auf die Idee kommen, dich ohne Hut nicht ernst zu nehmen. Und denk bitte - autsch - dran, dass wir Madras - autsch - in vier Stunden verlassen wollten."
"Die fahren nicht ohne mich. Und ich nicht ohne meinen Hut."
Jack kletterte wieder herunter. Aus dem Fenster des Hauptquartiers der Handelskompanie drang immer noch schwacher, flackernder Lichtschein, dabei war es fast Mitternacht.
Respektable Männer, wirklich. Jack drängte William tiefer in die Schatten der schmalen Gasse, als fünf Meter entfernt auf der Hauptstraße wieder einmal Soldaten der Royal Navy vorbeidefilierten. Was machten die hier bloß alle?
Eine Weile lang versanken die beiden in Schweigen. Mit jedem Atemzug spürte Jack, wie er sich wieder dem Zustand der Nüchternheit näherte, und gleichzeitig wuchs in ihm eine Gewissheit, die er nie und nimmer zugeben würde: das hier war doch etwas arg übertrieben, wenn man bedachte, dass es nur um einen alten Hut ging.
Dann wieder Stille.
Einmal traute sich ein Mädchen in ihre Gasse, lächelte verführerisch und zeigte dabei unglaublich verrottete Zähne. Sie war hübsch, und Jack brauchte erst einen Rippenstoß von William, um es übers Herz zu bringen, sie zu verscheuchen.
Schließlich verlosch der schwache Lichtschein.
"Jetzt", zischte Jack. William ging gehorsam auf die Knie, und Jack stieg, schwankend, wieder auf seine Schultern. Wie man ein Fenster von außen öffnete, darin hatte er allerdings Routine, und so stand er weniger als zwei Minuten später im Raum. Jack reichte William die Hand, um ihn nachklettern zu lassen.
Wo war sein Hut? Jack befürchtete schon halb, das ganze Haus danach durchsuchen zu müssen, aber nein -
Da war er. Auf dem Schreibtisch.
Es fühlte sich irgendwie - zu einfach an, aber Jack hatte noch nicht gelernt, sein Glück in Frage zu stellen. Er streckte die Hand nach seinem Hab und Gut aus.
Und dann - das unangenehm bekannte Gefühl einer Pistolenmündung, die sich in seinen Rücken bohrte. Jack hob die Hände, drehte sich langsam um und hoffte dabei, dass William, der bis jetzt noch neben dem Fenster gestanden hatte, soviel gesunden Menschenverstand zusammenkratzen konnte, um durch eben jenes den Raum schleunigst wieder zu verlassen.
Und er wusste nicht recht, ob er wütend oder froh sein sollte, als er sah, wie William seine eigene Pistole zog, sie entsicherte und auf den Vertreter der Staatsgewalt richtete.
"Idiot", raunte er ihm zu. Denn, wie sich jetzt herausstellte, war der Soldat nicht allein gekommen.
***
Manchmal wusste Jack nicht, was er ohne William überhaupt tun würde. Erst eine halbe Stunde im Gefängnis, und schon hatte der es geschafft, vom Wärter Tabak zu schnorren und für sie beide Einzelzellen zu bekommen. William war vielleicht der bessere Schachspieler, aber den Sinn dieser Aktion hatte Jack bisher noch nicht nachvollziehen können - er hatte sich in der Gesellschaft von dreißig Verbrechern nicht sonderlich unwohl gefühlt, er kannte das von der Pearl, und zwei Schlösser waren eben schwerer zu knacken als eins.
Außerdem wurmte ihn verletzter Stolz. Immerhin war er selbst immer noch mittendrin, den Wärter dazu zu bringen, ihnen eine Flasche Rum oder die Zellenschlüssel oder etwas ähnlich brauchbares zu bringen, und es war kein Ende in Sicht.
"Sieh mal, Charly", seufzte er, "ich bin mir sicher, dass ich dich von irgendwoher kenne. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, woher." Er scharrte ein wenig lustlos mit den Füßen im Stroh. Lehnte sich an die Wand der Zelle und tat sein bestes, müde auszusehen. Müde war er tatsächlich, aber er zeigte das in wohlüberlegten Dosen.
"Also, wo kommst du her?" Lächeln, immer lächeln.
"England" antwortete der Wärter - er war bestenfalls achtzehn, ein Kind. Was vermutlich gut war, vielleicht war er ja leicht zu beeindrucken. Oder hatte etwas übrig für Experimente. "Stratford-upon-Avon, um genau zu sein."
Jack stöhnte innerlich. Das hier würde schwierig werden, immerhin hatte er das englische Festland in seinem ganzen Leben noch nie mit seiner Anwesenheit beglückt.
"Was für ein Zufall", erwiderte er freudestrahlend, "ich habe dort praktisch mein gesamtes Leben verbracht. Sein oder Nichtsein, nicht wahr?"
Der Jüngling sah verwirrt aus. Dies war ein Gesichtsausdruck, der in Jacks Gegenwart überdurchschnittlich oft auftauchte, drum kümmerte er sich nicht weiter darum.
"Shakespeare? Der gute alte William?"
Der wälzte sich wohl gerade im Grab auf die andere Seite.
"Jedenfalls - du hast bestimmt die gute Mrs Huntington kennengelernt? Die mittelgroße, mit den helldunklen Haaren, keinerlei auffällige Merkmale? Ich war jedenfalls ihr, äh, Neffe."
Keine Reaktion. Der Junge war wohl immer noch dabei, den Shakespeare zu verdauen.
Jacks Augen leuchteten auf.
"Komm schon, Charly. Du wirst doch nicht die unzähligen Teekränzchen und, uh, Kricketspiele vergessen haben. Und die Sache mit dem Pferd von Miss - wie hieß sie noch? Brown. Und Miss Brown selber, oh là là - jetzt wirst du aber rot."
"Wir haben Stratford verlassen, als ich zwei war", kam die etwas steife Antwort.
Mist.
***
Sie kamen zwei Stunden nach der vereinbarten Zeit im Hafen an. Die Pearl war immer noch da, zwar zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie sie vermutet hatten, aber glücklicherweise unübersehbar. Schwarze Segel hatten diesen Vorteil.
Warum der Piratenkodex nicht zur Anwendung gekommen war? Das diensthabende Crewmitglied, Joseph Wieauchimmererhieß, zuckte mit den Schultern.
"Loch im Segel", sagte er. "Mussten nochmal umkehren."
Jetzt steuerte der Erste Maat das Schiff. Der Captain und William saßen missmutig auf der Reling und versuchten, Befriedigung daraus zu ziehen, wie Madras im Licht des Sonnenaufgangs immer kleiner wurde.
Verdammte East India Trading Company.
Ab und zu wickelte Jack den grauen Lumpen von seinem Unterarm und tauchte ihn abwesend in ein Fass mit kaltem Seewasser. Auch nach der sechsten Wiederholung dieser Prozedur war er fasziniert von dem, was er sah. Die gigantische Schwellung, das leuchtende Rot. Der Schmerz war dafür weniger interessant, nur stark, pulsierend, atemberaubend. Jack hob die Rumflasche, überlegte, ob Bedarf bestand, die Wunde mit Alkohol zu waschen, entschied sich dann doch für die orale Anwendung. Er wickelte den tropfend nassen Lappen wieder um seinen Arm.
Jack jaulte bei der Berührung leise auf. William neben ihm spuckte nur ungerührt in den Ozean, kaute weiter auf dem Tabak - eben jenem, den der Wärter ihm geschenkt hatte - und ignorierte seinen eigenen Verband. Der sah dafür wesentlich professioneller aus als alles, was Jack je hinbekommen hätte.
Für eine lange Zeit starrte er nur in die Ferne, bis die indische Küste ganz verschwunden war und die Sonne hoch am Himmel stand.
"Ich schenk dir 'nen neuen Hut", murmelte William irgendwann, sprang auf Deck und zog sich in die Mannschaftskajüte zurück. Der Captain blickte ihm nach und stellte dabei fest, dass das Hauptsegel der Pearl sehr geschickt geflickt war.
Mit weiß.
Jack lächelte ein wenig in sich hinein.
***
Viel später:
"William?"
"..."
"William!"
"..."
"Willia -!"
"Autsch! Dämlicher Bastard verdammtnochmal -"
"Hab ich dich geweckt?"
"Wasloskäbb'n? Und wehe, s'is kein Leck inna Wand oder -"
"Glaubst du, ich sollte mir einen Bart wachsen lassen?"
"Was?"
"Glaubst du, ich sollte mir einen Bart wachsen lassen?"
"Hab dich schon verstanden."
"Soll ich?"
"Warum? Warum willste dir 'nen Bart wachsen lassen, und warum mitten in der Nacht?"
"Äh - William?"
"Was denn?"
"Findest du, ich sehe aus wie... äh?"
"Wie denn?"
murmelmurmel.
"Ich hab da akustisch was nicht verstanden."
"Dergefängniswärterhatgesagtichseheauswieeinmädchen. Zufrieden?"
"..."
"William?"
"..."
"Hör sofort auf zu lachen."
"Aber gleich, Ja... Jacky... lass dir ruhig 'nen Bart wachsen..."
"William?"
"Ja, Captain?"
"Selber dämlich."
