1. Nicht meins.
2. Ich mag Jack. Ehrlich. Mir war nur so, als müsste ich das nochmal verdeutlichen.
3. Zu den Inspirationen hierfür kann man wohl auch Alice im Spiegelland zählen. Und Kafka. Ich hoffe, es schreckt nicht ab.
4. Ich kann kein Spanisch, bei den entsperchenden Stellen hab ich entweder Wörterbücher konsultiert oder schlaue Menschen.
Edit: Ich weiß auch nicht, warum's meine logische-Absatz-Trennsternchen nicht mehr anzeigt. Mal sehen, ob's mit Punkten klappt.
Edit 2: Es steht zwei zu eins für "tienes que comer más" vs. "ten que comer más". Ich vertrau mal der Mehrheit und ändere das. Sorry, Leute, ich hatte statt Spanisch Russisch. Ist doch auch schön.
Schachmatt 02
Jack hat seinen Goldzahn noch zwei Stunden im Mund behalten, bevor er endlich allein ist und ihn ausspuckt. Die Aktion gestern hat ihn nur gelockert, heute hätte er deswegen eigentlich sein blödes vorlautes Mundwerk halten sollen. Hat er nicht. Drum ist er einen Eckzahn los.
Nach seinen Haaren und seinem Bart und seiner Würde sollte es ihn nicht mehr stören.
Heute morgen hat Jack nach langem Überlegen einen Springer gezogen, den anderen weißen Bauern ignoriert. Sein eigener wird wohl morgen gefallen sein, egal, es ist ihm egal. Es ist nur ein Spiel.
Williams Geist ist die ganze Nacht dagewesen. Hat ihn darauf hingewiesen, dass er keinen Stil hat. Hat ihn darauf hingewiesen, dass der Hut weg und alles seine Schuld ist. Und Jack hat auf's offene Fenster gewiesen, "Da raus!" gerufen, und weiß jetzt nicht mehr, wen von beiden er gemeint hat.
Ein guter Mann. Ein guter Pirat. "Guter Freund" hätte er vielleicht sagen sollen damals, aber das ist jetzt vorbei. Jack hat lange gebraucht, bis die Erinnerung an William verblasst genug war, um nicht mehr schmerzhaft zu sein, und auch das ist jetzt vorbei, denn William ist wieder da. Und dabei nützt es Jack gar nichts, dass er inzwischen durch ihn hindurchsehen kann.
Natürlich ist er auf die Idee gekommen, sich aus dem Fenster abzuseilen. Er hat vorhin einen halben Streifen von der Bettdecke abgerissen und dann innegehalten, um darüber nachzudenken, wozu, genau, er das Seil denn verwenden möchte. Dabei sind die Wärter hereingekommen. Und jetzt hat er keine Bettdecke mehr und kein Laken, nur eine strohgefüllte Matratze. Und isst sein Rindfleisch und seinen Getreidebrei mit einem hölzernen Löffel. Ist ein wenig dankbar dafür. Wenn er auch mit dem Brechreiz kämpft und keinen Hunger hat, wenigstens umbringen wollen sie ihn nicht. Denkt er.
Auf dem Hof draußen wächst eine Eiche. Dabei ist Jack sich eigentlich so sicher, dass er sich bis vorgestern noch mitten in der Karibik befunden hat. Bis ihm ein Mast auf den Kopf gefallen ist. Jack überlegte, ob er Miguel nach dem Datum fragen sollte. Miguel ist bereits viel umgänglicher geworden, er war es auch nicht, der ihm den Zahn herausgeschlagen hat. Aber er sollte ihm dennoch ein paar Tage Zeit geben, er hat schon wieder dieses gewalttätige Funkeln im Auge. Vielleicht, weil Jack aufgehört hat, zu essen.
...
Es begann mit einem Spiel in Tortuga.
Das heißt, es begann nicht dort, aber dieser Punkt war genausogut wie jeder andere. Oder gar besser, denn es gab da Episoden, die besser niemals erzählt würden. Außer im Rausch.
Im Rausch. Der Captain war bereits betrunken gewesen, als sie die Taverne betreten hatten. Halt, nicht betrunken. Berauscht. Unkoordiniert. Umherirrend, geistig, so würde Jack es beschreiben. In einem Moment noch hier, um einen letzten tiefen Atemzug zu nehmen, bevor die Atmosphäre in der Taverne sie beide umschloss, träge und breiig und so gesättigt von Alkohol und Schweiß und Rauch, dass man keine andere Wahl hatte, als sie sich schönzutrinken. Im nächsten Moment abgelenkt von einem Schwall süßen Parfüms in einem roten Kleid, "fascht so schön wie meine Anne, weischu Jack?" und einem neuen Becher Rum. Und wieder woanders.
Jack machte Anstalten, die Karten zu verteilen.
Er hatte sein Gegenüber wohl unterschätzt. Der Captain lächelte schlau und winkte die Parfümwolke heran. Schon nach erstaunlich kurzer Zeit hatte sie begriffen, was er von ihr wollte. Eine Münze wechselte den Besitzer, ebenso wie der Kartenstapel, den das Mädchen sorgfältig mischte und austeilte.
Sein Captain war alt und sah nicht mehr viel und Jacks Tätigkeit hier war möglicherweise moralisch ohnehin nicht ganz einwandfrei - Pirat! -, aber die beiden Asse in Jacks Ärmel gaben ihm ein angenehmes Gefühl der Sicherheit. Außerdem waren da zwei Punkte, die sein Verhalten rechtfertigten:
1) Sein Captain spielte mit Sicherheit nicht fair und
2) Die Black Pearl war wirklich ein außergewöhnlich schönes Schiff.
Jack lächelte nicht. Er spielte. Saß mit dem Rücken zur Wand und behielt die Bar im Überblick, und das Spiel, und den Captain, und nichts weiter. Eigentlich nur den Captain. Sah zu, wie dessen Rumbecher sich stetig leerte, wie die Züge seines Gegners gelegentlich in sich zusammenfielen. Aber das war in Ordnung, wirklich, denn der Captain wollte ohnehin den Rest seines Lebens irgendwo auf Jamaika Zuckerrohr anbauen, ihn plagte wohl eher der Stolz des professionellen Falschspielers.
Jack dagegen wollte nur die Pearl.
Das heißt, er wollte dieses Spiel gewinnen, an die Pearl durfte er derzeit noch keinen Gedanken verschwenden (obwohl er das natürlich auch tat: Gedanken wie "Gib Dante einen hohen Posten, sonst meutert er noch" und "dringend schwarzes Leinen für die Segel organisieren" waren an verschiedenen Stellen aufgetaucht, besonders weil der Captain so verdammt langsam spielte, aber im Großen und Ganzen war Jack erstaunlich konzentriert). Jack nahm einen wohlkalkulierten Schluck Rum und betrachtete sein Blatt. Kein Außenstehende hätte erkennen können, wie seine Chancen standen.
Sie standen gut. Das hier war schließlich ein nüchternes Kartenspiel gegen einen stockbesoffenen Seefahrer, keine trunkene Schachpartie mit einem schönen spanischen Mädchen. Er konnte nur gewinnen.
Und die Zeit verging, und es sah immer noch gut für ihn aus. Jemand öffnete ein Fenster. Er hatte gar nicht gewusst, dass er die Luft angehalten hatte. Er atmete tief.
Und Jack holte elegant die eine Karte aus dem Ärmel. Siegte, mit glitzernden Augen und einem Lächeln.
...
Jack schwankte ein wenig unter dem Gewicht des viel größeren Mannes, während er ihn das Hafengelände entlang halb stützte, halb hinter sich herschleifte. Sein Hochgefühl nach dem Sieg war immer noch da, ein leises Glühen im Hinterkopf, dass für einen Moment zu etwas viel Größerem und Schönerem explodierte, als er zum ersten Mal nach drei in der Taverne verbrachten Stunden wieder die Silhouette der Pearl sah. Aber ebenso wie sich in seinen Muskeln und Gelenken langsam eine gewisse Müdigkeit ausbreitete ("¡Tienes que comer màs, chico!", hatte seine Kinderfrau immer gesagt), so wurden ihm auch mit jedem Schritt diverse Eventualitäten bewusst.
Nämlich: Captain Sparrow klang gut. Sehr viel besser zumindest als Erster Maat Sparrow. Aber die Crew davon zu überzeugen...? Dante davon zu überzeugen?
"So, wenn Ihr jetzt einen Schritt nach vorn machen würdet - nein, neinneinneinnein, ins Boot..."
Würde sich ja herausstellen, wieviel Rückhalt er in der Crew hatte, mutmaßte Jack, während er sie beide zum Schiff zurück ruderte.
Verdammt. Er musste Dante Barbossa dringend zum Ersten Maat machen. Aber vorher würde er sich erst einmal betrinken.
...
Fast eine Woche später. Es ist dunkel draußen. Jack steht mit der brennenden Öllampe am Fenster und untersucht sein Spiegelbild. Vielleicht sollte er die Matratze anzünden, aber dann würden sie ihm wohl die Lampe abnehmen.
Es erstaunt ihn, wie wenig er sich selbst ähnlich sieht. Jack hat den Kopfverband - auch nicht als Seil verwendbar - entfernt. Die Wunde an der Schläfe, die vom Mast, ist nicht schön, aber sie heilt. Die blauen Flecken und die aufgeplatzte Lippe von den Fausthieben sind auch nicht schön, aber sie heilen. Aber sein Haar hat fünfzehn Jahre gebraucht, um so zu werden, wie es war, und Jack weiß nicht, ob er noch einmal soviel Zeit aufbringen möchte.
Morgen wird er die Dame verlieren. Es interessiert ihn nicht.
Jack wendet sich ab. Er könnte schlafen gehen, nur hat er schon den ganzen Tag geschlafen. Und wenn er die Augen schließt, wird vielleicht William wiederkommen und ihm Schachregeln erklären, und davor hat er Angst.
Aber ein Geist ist doch besser als keine Gesellschaft.
Prompt öffnet sich die Tür, und gleichzeitig geht die Lampe aus, weil das Öl alle ist. Was von Jack noch da ist, erschrickt, Ich hab's nicht so gemeint, Bill, bitte geh wieder weg, aber es ist nur Miguel, und Jack ist fast enttäuscht.
Nein, er hat kein Problem damit, zwei sich widersprechende Einstellungen gleichzeitig zu vertreten. Es kommt auf die Umstände an, savvy?
Captain Jack Sparrow wäre inzwischen längst die glatte Wand heruntergeklettert, hätte das Haus abgebrannt, den Wärter verführt und sich mit Hilfe von Charme und alten Bekannten bis zur Küste durchgeschlagen, wo immer die war, und er hätte vorher noch Zeit gefunden, das Tafelsilber zu klauen. Ergo ist er nicht Captain Jack Sparrow. Nur ein abgehalfterter Ex-Pirat ohne Schiff und mit sauberer Kleidung in der Gesellschaft von wahnsinnigen Spaniern.
Allerdings hat er sich schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden. Ohne die Spanier, ohne die meterdicken Wänden um ihn herum, und, zugegebenermaßen, ohne die saubere Kleidung. Man kann das hier erschwerte Umstände nennen.
Jack dreht sich um, ruckartig, lächelt einen Pistolenlauf an. Das wäre jetzt also der Augenblick, in dem der böse Widersacher Anfang und Ende der Welt erklärt. Jack ist gespannt und hebt vorsichtshalber die Arme.
Miguel verschließt die Tür, und es wird fast ganz dunkel im Zimmer. Wenn Jack ihn überwältigen wollte, müsste er das jetzt tun, aber Miguel hat eine Pistole und Jack nur einen Holzlöffel.
Sie schauen sich an, und das geht etwa eine Minute lang so. Jack wartet.
"¿Què hay?" fragt er.
Miguel kichert betrunken. Jack überlegt, ob er vielleicht doch mit dem Löffel - nein, er lässt die Arme lieber oben.
"El gorrión inmortal -", sagt er und findet das vermutlich unglaublich witzig. Jack ist beeindruckt, wie weit es die Geschichte seines vorletzten kleinen Abenteuers bereits geschafft hat.
"- aber sagt, woher habt Ihr das?" fügt Miguel in sehr spanisch klingendem Englisch hinzu und deutet auf Jacks Schläfe. Jack ist unüberrascht.
"Sechs Soldaten der Royal Navy, die mich hinterrücks mit einer geblümten Teetasse niederschlugen. Wo bin ich?"
"Atlantis", sagt Miguel. Jack schluckt, aber eigentlich hat er vom Fenster aus keine Meerjungfrauen sehen können.
Miguel lächelt. "Kleiner Scherz", sagt er.
"Wie gut, dass wir uns vertrauen können", erwidert Jack und blickt kurz, aber intensiv himmelwärts.
Miguel schweigt eine Weile, pfeift dafür ein Lied, dass Jack vage bekannt vorkommt, spielt ein wenig mit der Pistole. Er versucht, sie um einen Finger rotieren zu lassen, und scheitert.
Beim neunten Ring der Hölle, leg das Ding weg. Du könntest jemanden verletzen, denkt Jack. Der Kerl muss wirklich betrunken sein.
"Wir sind ein wenig enttäuscht von Euch", sagt Miguel schließlich. Jack hebt eine Augenbraue.
"Wer ist 'wir'?" fragt er.
"Der Papst und ich. Was stellt Ihr für Fragen?" Miguel fuchtelt wieder mit der Pistole. Hat inzwischen erneut das richtige - oder falsche - Ende auf Jack gerichtet.
Jack beschließt, in Schweigen zu verfallen. Es hat keinen Sinn. Er dreht sich um und versucht, die Sterne zu zählen.
"Ihr habt einen Ruf als exzellenter Schachspieler", sagt Miguel nach einer Weile, und das überrascht Jack wirklich.
"Hab ich das?" murmelt er. Er hasst es, wenn sein eigenes Seemannsgarn auf diese Weise gegen ihn verwendet wird, aber dreht sich nicht um.
"Ihr müsst zugeben, das Spiel ist für euren Gegner nicht besonders interessant." Damit hat er Jack.
"Wenn mein Gegner zu unterhalten werden wünscht, soll er sich ein Mädchen suchen", sagt er. Das ist nun wirklich kein kreativer Höhepunkt seinerseits, und er weiß, dass Miguel das weiß.
Miguel seufzt.
"Sparrow, offenbar fehlt es Euch an Motivation."
Und das ist eine so banale Beobachtung, dass Jack wieder schweigt.
"Ihr spielt schlecht Schach, Ihr sprecht schlecht Spanisch -"
(Jack lächelt die Nacht an, kurz und ein wenig freudlos.)
"- und Ihr scheint kein Interesse an spektakulären Fluchtversuchen, schönen Frauen oder -" kurze Pause, deutlich hörbares Grinsen, "- dem Tafelsilber zu haben."
Jack schließt die Augen. Zur Hölle -? Er öffnet sie. Immer noch am gleichen Ort. Immer noch am gleichen Fenster. Fühlt sich alles real genug an.
Und dann fällt ihm noch etwas anderes auf. Er dreht sich wieder um, starrt Miguel an, denkt nochmal nach.
"Hey, für einen Betrunkenen seid Ihr bemerkenswert kohärent", sagt er schließlich.
Miguel lächelt milde.
"Señor Sparrow, seid Ihr euch bewusst, dass Geschichten über Euch existieren?"
Klar weiß Jack das, was glaubt Miguel denn, von wem die stammen?
"Anekdoten", sagt er, "unbedeutende Begebenheiten. Mr Cotton ist leider zu gesprächig. Was wollt Ihr?" Was Jack will: definitiv nicht, beweisen zu müssen, wie man zwei Pistolenschüsse in die Brust überlebt. Oder einen Strick um den Hals. Oder eine Meuterei. Oder ein Schiff, das -
Einen Mast, der -
Jack sieht im schwachen Licht, wie Miguel - endlich - seine Pistole sichert und in den Gürtel zurücksteckt.
"Wahrheit", sagt Miguel. Und dann: "Darf ich Euch Rum anbieten?"
2. Ich mag Jack. Ehrlich. Mir war nur so, als müsste ich das nochmal verdeutlichen.
3. Zu den Inspirationen hierfür kann man wohl auch Alice im Spiegelland zählen. Und Kafka. Ich hoffe, es schreckt nicht ab.
4. Ich kann kein Spanisch, bei den entsperchenden Stellen hab ich entweder Wörterbücher konsultiert oder schlaue Menschen.
Edit: Ich weiß auch nicht, warum's meine logische-Absatz-Trennsternchen nicht mehr anzeigt. Mal sehen, ob's mit Punkten klappt.
Edit 2: Es steht zwei zu eins für "tienes que comer más" vs. "ten que comer más". Ich vertrau mal der Mehrheit und ändere das. Sorry, Leute, ich hatte statt Spanisch Russisch. Ist doch auch schön.
Schachmatt 02
Jack hat seinen Goldzahn noch zwei Stunden im Mund behalten, bevor er endlich allein ist und ihn ausspuckt. Die Aktion gestern hat ihn nur gelockert, heute hätte er deswegen eigentlich sein blödes vorlautes Mundwerk halten sollen. Hat er nicht. Drum ist er einen Eckzahn los.
Nach seinen Haaren und seinem Bart und seiner Würde sollte es ihn nicht mehr stören.
Heute morgen hat Jack nach langem Überlegen einen Springer gezogen, den anderen weißen Bauern ignoriert. Sein eigener wird wohl morgen gefallen sein, egal, es ist ihm egal. Es ist nur ein Spiel.
Williams Geist ist die ganze Nacht dagewesen. Hat ihn darauf hingewiesen, dass er keinen Stil hat. Hat ihn darauf hingewiesen, dass der Hut weg und alles seine Schuld ist. Und Jack hat auf's offene Fenster gewiesen, "Da raus!" gerufen, und weiß jetzt nicht mehr, wen von beiden er gemeint hat.
Ein guter Mann. Ein guter Pirat. "Guter Freund" hätte er vielleicht sagen sollen damals, aber das ist jetzt vorbei. Jack hat lange gebraucht, bis die Erinnerung an William verblasst genug war, um nicht mehr schmerzhaft zu sein, und auch das ist jetzt vorbei, denn William ist wieder da. Und dabei nützt es Jack gar nichts, dass er inzwischen durch ihn hindurchsehen kann.
Natürlich ist er auf die Idee gekommen, sich aus dem Fenster abzuseilen. Er hat vorhin einen halben Streifen von der Bettdecke abgerissen und dann innegehalten, um darüber nachzudenken, wozu, genau, er das Seil denn verwenden möchte. Dabei sind die Wärter hereingekommen. Und jetzt hat er keine Bettdecke mehr und kein Laken, nur eine strohgefüllte Matratze. Und isst sein Rindfleisch und seinen Getreidebrei mit einem hölzernen Löffel. Ist ein wenig dankbar dafür. Wenn er auch mit dem Brechreiz kämpft und keinen Hunger hat, wenigstens umbringen wollen sie ihn nicht. Denkt er.
Auf dem Hof draußen wächst eine Eiche. Dabei ist Jack sich eigentlich so sicher, dass er sich bis vorgestern noch mitten in der Karibik befunden hat. Bis ihm ein Mast auf den Kopf gefallen ist. Jack überlegte, ob er Miguel nach dem Datum fragen sollte. Miguel ist bereits viel umgänglicher geworden, er war es auch nicht, der ihm den Zahn herausgeschlagen hat. Aber er sollte ihm dennoch ein paar Tage Zeit geben, er hat schon wieder dieses gewalttätige Funkeln im Auge. Vielleicht, weil Jack aufgehört hat, zu essen.
...
Es begann mit einem Spiel in Tortuga.
Das heißt, es begann nicht dort, aber dieser Punkt war genausogut wie jeder andere. Oder gar besser, denn es gab da Episoden, die besser niemals erzählt würden. Außer im Rausch.
Im Rausch. Der Captain war bereits betrunken gewesen, als sie die Taverne betreten hatten. Halt, nicht betrunken. Berauscht. Unkoordiniert. Umherirrend, geistig, so würde Jack es beschreiben. In einem Moment noch hier, um einen letzten tiefen Atemzug zu nehmen, bevor die Atmosphäre in der Taverne sie beide umschloss, träge und breiig und so gesättigt von Alkohol und Schweiß und Rauch, dass man keine andere Wahl hatte, als sie sich schönzutrinken. Im nächsten Moment abgelenkt von einem Schwall süßen Parfüms in einem roten Kleid, "fascht so schön wie meine Anne, weischu Jack?" und einem neuen Becher Rum. Und wieder woanders.
Jack machte Anstalten, die Karten zu verteilen.
Er hatte sein Gegenüber wohl unterschätzt. Der Captain lächelte schlau und winkte die Parfümwolke heran. Schon nach erstaunlich kurzer Zeit hatte sie begriffen, was er von ihr wollte. Eine Münze wechselte den Besitzer, ebenso wie der Kartenstapel, den das Mädchen sorgfältig mischte und austeilte.
Sein Captain war alt und sah nicht mehr viel und Jacks Tätigkeit hier war möglicherweise moralisch ohnehin nicht ganz einwandfrei - Pirat! -, aber die beiden Asse in Jacks Ärmel gaben ihm ein angenehmes Gefühl der Sicherheit. Außerdem waren da zwei Punkte, die sein Verhalten rechtfertigten:
1) Sein Captain spielte mit Sicherheit nicht fair und
2) Die Black Pearl war wirklich ein außergewöhnlich schönes Schiff.
Jack lächelte nicht. Er spielte. Saß mit dem Rücken zur Wand und behielt die Bar im Überblick, und das Spiel, und den Captain, und nichts weiter. Eigentlich nur den Captain. Sah zu, wie dessen Rumbecher sich stetig leerte, wie die Züge seines Gegners gelegentlich in sich zusammenfielen. Aber das war in Ordnung, wirklich, denn der Captain wollte ohnehin den Rest seines Lebens irgendwo auf Jamaika Zuckerrohr anbauen, ihn plagte wohl eher der Stolz des professionellen Falschspielers.
Jack dagegen wollte nur die Pearl.
Das heißt, er wollte dieses Spiel gewinnen, an die Pearl durfte er derzeit noch keinen Gedanken verschwenden (obwohl er das natürlich auch tat: Gedanken wie "Gib Dante einen hohen Posten, sonst meutert er noch" und "dringend schwarzes Leinen für die Segel organisieren" waren an verschiedenen Stellen aufgetaucht, besonders weil der Captain so verdammt langsam spielte, aber im Großen und Ganzen war Jack erstaunlich konzentriert). Jack nahm einen wohlkalkulierten Schluck Rum und betrachtete sein Blatt. Kein Außenstehende hätte erkennen können, wie seine Chancen standen.
Sie standen gut. Das hier war schließlich ein nüchternes Kartenspiel gegen einen stockbesoffenen Seefahrer, keine trunkene Schachpartie mit einem schönen spanischen Mädchen. Er konnte nur gewinnen.
Und die Zeit verging, und es sah immer noch gut für ihn aus. Jemand öffnete ein Fenster. Er hatte gar nicht gewusst, dass er die Luft angehalten hatte. Er atmete tief.
Und Jack holte elegant die eine Karte aus dem Ärmel. Siegte, mit glitzernden Augen und einem Lächeln.
...
Jack schwankte ein wenig unter dem Gewicht des viel größeren Mannes, während er ihn das Hafengelände entlang halb stützte, halb hinter sich herschleifte. Sein Hochgefühl nach dem Sieg war immer noch da, ein leises Glühen im Hinterkopf, dass für einen Moment zu etwas viel Größerem und Schönerem explodierte, als er zum ersten Mal nach drei in der Taverne verbrachten Stunden wieder die Silhouette der Pearl sah. Aber ebenso wie sich in seinen Muskeln und Gelenken langsam eine gewisse Müdigkeit ausbreitete ("¡Tienes que comer màs, chico!", hatte seine Kinderfrau immer gesagt), so wurden ihm auch mit jedem Schritt diverse Eventualitäten bewusst.
Nämlich: Captain Sparrow klang gut. Sehr viel besser zumindest als Erster Maat Sparrow. Aber die Crew davon zu überzeugen...? Dante davon zu überzeugen?
"So, wenn Ihr jetzt einen Schritt nach vorn machen würdet - nein, neinneinneinnein, ins Boot..."
Würde sich ja herausstellen, wieviel Rückhalt er in der Crew hatte, mutmaßte Jack, während er sie beide zum Schiff zurück ruderte.
Verdammt. Er musste Dante Barbossa dringend zum Ersten Maat machen. Aber vorher würde er sich erst einmal betrinken.
...
Fast eine Woche später. Es ist dunkel draußen. Jack steht mit der brennenden Öllampe am Fenster und untersucht sein Spiegelbild. Vielleicht sollte er die Matratze anzünden, aber dann würden sie ihm wohl die Lampe abnehmen.
Es erstaunt ihn, wie wenig er sich selbst ähnlich sieht. Jack hat den Kopfverband - auch nicht als Seil verwendbar - entfernt. Die Wunde an der Schläfe, die vom Mast, ist nicht schön, aber sie heilt. Die blauen Flecken und die aufgeplatzte Lippe von den Fausthieben sind auch nicht schön, aber sie heilen. Aber sein Haar hat fünfzehn Jahre gebraucht, um so zu werden, wie es war, und Jack weiß nicht, ob er noch einmal soviel Zeit aufbringen möchte.
Morgen wird er die Dame verlieren. Es interessiert ihn nicht.
Jack wendet sich ab. Er könnte schlafen gehen, nur hat er schon den ganzen Tag geschlafen. Und wenn er die Augen schließt, wird vielleicht William wiederkommen und ihm Schachregeln erklären, und davor hat er Angst.
Aber ein Geist ist doch besser als keine Gesellschaft.
Prompt öffnet sich die Tür, und gleichzeitig geht die Lampe aus, weil das Öl alle ist. Was von Jack noch da ist, erschrickt, Ich hab's nicht so gemeint, Bill, bitte geh wieder weg, aber es ist nur Miguel, und Jack ist fast enttäuscht.
Nein, er hat kein Problem damit, zwei sich widersprechende Einstellungen gleichzeitig zu vertreten. Es kommt auf die Umstände an, savvy?
Captain Jack Sparrow wäre inzwischen längst die glatte Wand heruntergeklettert, hätte das Haus abgebrannt, den Wärter verführt und sich mit Hilfe von Charme und alten Bekannten bis zur Küste durchgeschlagen, wo immer die war, und er hätte vorher noch Zeit gefunden, das Tafelsilber zu klauen. Ergo ist er nicht Captain Jack Sparrow. Nur ein abgehalfterter Ex-Pirat ohne Schiff und mit sauberer Kleidung in der Gesellschaft von wahnsinnigen Spaniern.
Allerdings hat er sich schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden. Ohne die Spanier, ohne die meterdicken Wänden um ihn herum, und, zugegebenermaßen, ohne die saubere Kleidung. Man kann das hier erschwerte Umstände nennen.
Jack dreht sich um, ruckartig, lächelt einen Pistolenlauf an. Das wäre jetzt also der Augenblick, in dem der böse Widersacher Anfang und Ende der Welt erklärt. Jack ist gespannt und hebt vorsichtshalber die Arme.
Miguel verschließt die Tür, und es wird fast ganz dunkel im Zimmer. Wenn Jack ihn überwältigen wollte, müsste er das jetzt tun, aber Miguel hat eine Pistole und Jack nur einen Holzlöffel.
Sie schauen sich an, und das geht etwa eine Minute lang so. Jack wartet.
"¿Què hay?" fragt er.
Miguel kichert betrunken. Jack überlegt, ob er vielleicht doch mit dem Löffel - nein, er lässt die Arme lieber oben.
"El gorrión inmortal -", sagt er und findet das vermutlich unglaublich witzig. Jack ist beeindruckt, wie weit es die Geschichte seines vorletzten kleinen Abenteuers bereits geschafft hat.
"- aber sagt, woher habt Ihr das?" fügt Miguel in sehr spanisch klingendem Englisch hinzu und deutet auf Jacks Schläfe. Jack ist unüberrascht.
"Sechs Soldaten der Royal Navy, die mich hinterrücks mit einer geblümten Teetasse niederschlugen. Wo bin ich?"
"Atlantis", sagt Miguel. Jack schluckt, aber eigentlich hat er vom Fenster aus keine Meerjungfrauen sehen können.
Miguel lächelt. "Kleiner Scherz", sagt er.
"Wie gut, dass wir uns vertrauen können", erwidert Jack und blickt kurz, aber intensiv himmelwärts.
Miguel schweigt eine Weile, pfeift dafür ein Lied, dass Jack vage bekannt vorkommt, spielt ein wenig mit der Pistole. Er versucht, sie um einen Finger rotieren zu lassen, und scheitert.
Beim neunten Ring der Hölle, leg das Ding weg. Du könntest jemanden verletzen, denkt Jack. Der Kerl muss wirklich betrunken sein.
"Wir sind ein wenig enttäuscht von Euch", sagt Miguel schließlich. Jack hebt eine Augenbraue.
"Wer ist 'wir'?" fragt er.
"Der Papst und ich. Was stellt Ihr für Fragen?" Miguel fuchtelt wieder mit der Pistole. Hat inzwischen erneut das richtige - oder falsche - Ende auf Jack gerichtet.
Jack beschließt, in Schweigen zu verfallen. Es hat keinen Sinn. Er dreht sich um und versucht, die Sterne zu zählen.
"Ihr habt einen Ruf als exzellenter Schachspieler", sagt Miguel nach einer Weile, und das überrascht Jack wirklich.
"Hab ich das?" murmelt er. Er hasst es, wenn sein eigenes Seemannsgarn auf diese Weise gegen ihn verwendet wird, aber dreht sich nicht um.
"Ihr müsst zugeben, das Spiel ist für euren Gegner nicht besonders interessant." Damit hat er Jack.
"Wenn mein Gegner zu unterhalten werden wünscht, soll er sich ein Mädchen suchen", sagt er. Das ist nun wirklich kein kreativer Höhepunkt seinerseits, und er weiß, dass Miguel das weiß.
Miguel seufzt.
"Sparrow, offenbar fehlt es Euch an Motivation."
Und das ist eine so banale Beobachtung, dass Jack wieder schweigt.
"Ihr spielt schlecht Schach, Ihr sprecht schlecht Spanisch -"
(Jack lächelt die Nacht an, kurz und ein wenig freudlos.)
"- und Ihr scheint kein Interesse an spektakulären Fluchtversuchen, schönen Frauen oder -" kurze Pause, deutlich hörbares Grinsen, "- dem Tafelsilber zu haben."
Jack schließt die Augen. Zur Hölle -? Er öffnet sie. Immer noch am gleichen Ort. Immer noch am gleichen Fenster. Fühlt sich alles real genug an.
Und dann fällt ihm noch etwas anderes auf. Er dreht sich wieder um, starrt Miguel an, denkt nochmal nach.
"Hey, für einen Betrunkenen seid Ihr bemerkenswert kohärent", sagt er schließlich.
Miguel lächelt milde.
"Señor Sparrow, seid Ihr euch bewusst, dass Geschichten über Euch existieren?"
Klar weiß Jack das, was glaubt Miguel denn, von wem die stammen?
"Anekdoten", sagt er, "unbedeutende Begebenheiten. Mr Cotton ist leider zu gesprächig. Was wollt Ihr?" Was Jack will: definitiv nicht, beweisen zu müssen, wie man zwei Pistolenschüsse in die Brust überlebt. Oder einen Strick um den Hals. Oder eine Meuterei. Oder ein Schiff, das -
Einen Mast, der -
Jack sieht im schwachen Licht, wie Miguel - endlich - seine Pistole sichert und in den Gürtel zurücksteckt.
"Wahrheit", sagt Miguel. Und dann: "Darf ich Euch Rum anbieten?"
