Disclaimer

Die Figuren, soweit sie von Drehbuchautor William Monahan eigenständig entwickelt und/oder gegenüber ihren historischen Vorbildern abgeändert wurden, sind geistiges Eigentum von William Monahan und auch die Handlung und Reden, soweit sie sich mit der verfilmten Geschichte decken, gehört William Monahan.

Jede weitere eigenständige Erzählung um die Personen des Geschehens sind meines Geistes und mein Besitz. Mit dieser fiktiven Romanvorlage zum Drehbuch von William Monahans Werk „Kingdom of Heaven" verdiene ich kein Geld und habe sie auch keinem Verlag angeboten.


Kapitel 23


Schuld, Respekt und Freundschaft

Sybilla, die in den letzten Tagen am Grab ihres Bruders während der Angriffe Schutz gesucht hatte, saß in ihrem Zimmer im Palast und starrte mit leeren Augen auf einen Spiegel aus getriebenem Messing. Sie war nach den Angriffen einfach durch die Straßen von Jerusalem gegangen, hatte das Leid der Menschen gesehen und wußte, daß sie selbst große Mitschuld daran hatte. Dieses Wissen lastete schwer auf ihr. Am meisten drückte sie aber der Gedanke nieder, daß sie ihren geliebten Bruder und seine Ideale verraten hatte und in ihren Verrat den Mann mit hineingezogen hatte, der ihr Herz doch gerade durch seine Integrität gewann. Sie hatte ihr eigenes Glück vor alles gestellt und es durch den Tod ihres Mannes erkaufen wollen. Mehr noch: Sie hatte die Durchführung dieses Planes an die Entscheidung von Balian gebunden und ihn damit gezwungen, sich zwischen seinem Gewissen und seiner Liebe zu ihr und ihrem Bruder zu entscheiden. Balduin hatte diesen Plan nicht gut geheißen, aber Tiberias unterstützte diesen Winkelzug, und so war es zu dem Anerbieten des Königs gekommen, das zum Bruch zwischen Balian und ihr geführt hatte.

Sie hatte es selbst verschuldet und doch aus verletztem Stolz sich durch ihre Vereinbarung mit Guy an Balian rächen wollen.

‚Wie konnte ich nur glauben, daß ein machtgieriger Mann wie Guy sich an sein Wort einer Frau gegenüber gebunden fühlen würde?'

Er hatte seinen Rittern nicht befohlen, wie am Totenbett von Balduin vereinbart, ihr, Sybilla, Gefolgschaft zu schwören. Sie war so dumm gewesen und hatte ihre einzige Möglichkeit, das Unheil zu verhindern, das ihr Bruder mit Guy heraufziehen sah, ungenutzt gelassen – aus Trotz gegenüber dem Mann, den sie selbst zu seiner fatalen Entscheidung gezwungen hatte. Sie hätte Guy nicht als ihren Gemahl zum König krönen müssen. Es war an ihr, einen anderen König zu wählen und die Macht zu teilen. Sie vermißte die Weisheit ihres Bruders und Balians Sanftmut.

Sie hatte große Schuld auf sich geladen und die Fratze des durch Lepra zerfressenen Gesichtes ihres Bruders grinste sie aus dem matten Spiegel an. Sybilla liefen die Tränen über das Gesicht, denn selbst die letzte Bitte ihres Bruders hatte sie entehrt. Sie hatte sich nicht das Gesicht ihres Bruders aus gesunden Tagen in ihrem Herzen bewahrt, wie er es sich von ihr gewünscht hatte. Selbst diesen bescheidenen Wunsch hatte sie aus Selbstsucht ignoriert. Mit dem Abnehmen seiner Gesichtsmaske hatte sie auch die letzte menschliche Erinnerung an einen gütigen und weisen König, der nicht Gottes Gunst hatte, seinen Traum zu verwirklichen, ausgewischt. So, wie es Guy mit seiner Kriegstreiberei kurze Zeit später auch für das ganze Reich getan hatte.

Sybilla konnte nicht mehr ändern, was geschehen war. Sie mußte mit dieser Schuld leben, aber sie konnte versuchen, Vergebung und wieder ihr Gleichgewicht zu finden. Sie entschloß sich, in die Katakomben zu den Menschen zu gehen und zu helfen. Wenn Balian schon sein Leben in den Dienst der Verteidigung Jerusalems gestellt hatte und für die Menschen kämpfte, wollte sie ihrerseits tun, was sie konnte. Als Zeichen für ihre Buße und um sich den Menschen dort gleicher zu machen, schnitt sie ihre Haare ab. Strähne für Strähne ihres wunderschönen Haares fielen zu Boden. Tränen der Trauer um ihren Bruder und ihre Liebe zu Balian liefen ihr dabei über das Gesicht. Dann stand sie auf und zog sich ein graues einfaches Leinenkleid an, das sie in ihrer Tätigkeit nicht behinderte und ebenso ein Ausdruck ihrer inneren Bußfertigkeit war. Jeden Schmuck und jede Auszeichnung, die hätten erkennen lassen wer sie war, ließ Sybilla zurück. Sie wollte nicht als hohe Dame ausgemacht werden, was ihrem Wunsch zu helfen nicht gedient hätte, und machte sich auf den Weg.

Die Wachen blickten verwirrt. Sie trat zu einem heran und teilte ihm ihr Ziel und die selbstgestellte Aufgabe mit. Sie würde erst wieder in diese Räumlichkeiten zurückkehren, wenn der Kampf um Jerusalem entschieden war. Sie schickte die Soldaten zur Unterstützung Balians, aber sie sollten ihm auf Anfrage nur mitteilen, daß sie in den Katakomben Schutz gesucht hätte. Balian sollte sich keine Sorgen um seine Königin machen, und sie nicht suchen. Er mußte sich um so viele andere Menschen kümmern; sie wollte ihm keine weitere Last bereiten.

Balian war inzwischen sowohl bei den Menschen, die Schutz suchten, als auch nochmals bei den Soldaten gewesen, die seine letzten Anweisungen für die Abwehr der Sturmtürme umsetzten. Es war alles so, wie er es sich vorstellte, und so ging er langsam in Richtung Heim. Seine Gedanken waren bei Sybilla. Seit sie ihn um Hilfe gebeten hatte, war er nicht mehr bei ihr gewesen.

‚Wie es ihr wohl geht?', dachte er. Er hatte gerade, als er die Mauern verließ; von einem Soldaten der Palastwache mitgeteilt bekommen, daß sie Schutz in den Katakomben gesucht und die Männer der Wache zu seiner Unterstützung abgestellt hatte. Sie hatte ihm ausrichten lassen, daß sie in Sicherheit wäre und er nicht nach ihr suchen sollte. Balian war zum einen beruhigt, zum anderen verletzt. Sie wollte ihn nicht sehen, schloß er aus ihrer Bitte und das tat ihm weh. Aber vielleicht war es ja auch anders, hoffte er. Vielleicht wollte sie nur nicht, daß er sich Gedanken um sie machte, weil er andere Aufgaben hatte. Balians Herz war hin und her gerissen. Er liebte sie, wäre gerne zu ihr gegangen und hätte sie in seine Arme geschlossen, aber es stand noch immer das Anerbieten des Königs zwischen ihnen, von dem sie gewußt hatte. Wenn ihr die Macht so wichtig war, daß sie dafür auch töten ließ, erkannte er sie nicht wieder. Dann war sie nicht die Frau, die er in Ibelin geliebt und sich gewünscht hatte, mit ihr alt zu werden. Sollte Gott ihnen eine zweite Chance geben und ihm beistehen, um Jerusalem zu retten, würde er ihr genau diese Frage stellen.

Balian hatte sein Heim erreicht und ging müde in seine Räumlichkeiten. Almaric stand unter den Arkaden im ersten Stock, wurde aber von Balian nicht bemerkt. Er sah den traurigen Ausdruck in Balians Gesicht und die müden, schleppenden Bewegungen seines Freundes. Es erinnerte ihn sehr an ihre erste Begegnung hier in Jerusalem. Irgendetwas belastete Balian schwer und es war sicher nicht die Verteidigung der Stadt, denn die lief bisher hervorragend. Wenn Balian am Morgen in dieser Stimmung auf die Mauern kam, war er gefährdet. Er würde unaufmerksam sein, und das konnte für ihn zur Gefahr werden. Almaric nahm sich vor, besonders auf seinen Freund zu achten. Dann sah er, wie Balian in seinen Räumen verschwand, und auch er legte sich nochmals nieder. Bis zum Morgen waren es nur noch wenige Stunden und der Tag würde hart werden.

Am nächsten Tag begann der Angriff in der gleichen Weise wie am Vortag. Zunächst schleuderten die Katapulte der Sarazenen wieder Gesteinsbrocken und brennende Geschosse in die Stadt, um die Annäherung der Truppen zu decken. Als diese wiederum nahe genug waren, nahmen sie die Sturmtürme, die sie am Vortag aus der Gefahrenzone gezogen hatten, wieder auf und schoben sie langsam an die Mauern heran. Diesmal waren sie aber auf eine Feuerabwehr vorbereitet und hatten genügend Wasser mitgeführt, um die Angreifer und die Holzbrücke zu nässen und damit ein schnelles Ausbreiten von Feuer zu verhindern. Balian hatte mit so etwas gerechnet, weshalb er nicht mehr auf diese Überraschungstaktik setzte. Die Brandgeschosse wurden zwar noch eingesetzt, aber mit einem Erfolg wie am Vortag war nicht mehr zu rechnen.

Die Kämpfe auf den Mauern wurden weit über den Mittag Mann gegen Mann geführt. Balian mußte all seine Geduld und sein Können als Kämpfer aufbringen, den Männern Vorbild zu sein, den Mut nicht zu sinken lassen und lange warten, bis endlich alle Sturmtürme wieder an den Mauern standen. Er konnte nicht vorher handeln, denn erst jetzt würde seine neuerliche Überraschung die Wirkung bringen, die sie brauchte. Die Angreifer hatten sich lange mit der neuerlichen Anlandung der Türme Zeit gelassen, und Balian befürchtete schon einen Winkelzug. Es hätte sein können, daß die Verteidiger durch die Kämpfer über die Sturmleitern erst erschöpft werden sollten, so daß dann die Gegner aus den Türmen leichtes Spiel gehabt hätten. Balian war deshalb mehr noch als am Vortag von einer Verteidigungseinheit zur anderen unterwegs und stärkte den Männern den Rücken. Er versuchte ein wenig an die Ermahnung von Almaric zu denken, aber oft genug ließ ihm die Situation keine Wahl. Dann mußte er sich ohne Rücksicht auf sich selbst in den harten und gnadenlos geführten Kampf mit den Sarazenen werfen, die es über die Mauer schafften. In einem solchen Moment, als gerade wieder eine Angriffswelle in einem schwer umkämpften Abschnitt zurückgeworfen war, sah Balian, kaum zu Atem kommend, wie an einem Wehrturm die Verteidigung zusammenbrach und Angreifer den Abschnitt in Besitz nahmen und ihre Fahne, als Zeichen für einen ersten Erfolg, aufstellten.

Almaric hatte dies auch gesehen, kam aber von seinem Abschnitt aus nicht durch, weil dieser ebenso hart umkämpft war, wie kurz zuvor noch der Turm. Almaric sah noch, wie Balian von der anderen Seite herangestürmt kam. Ohne Rücksicht auf Hindernisse, sein Schwert gegen jeden Feind erbarmungslos schwingend, der ihm in den Weg kam, bahnte sich Balian den Weg durch die Kämpfenden auf der Mauerkrone hin zum eingenommenen Turm. Balian steckte sein Schwert weg, um die Leiter zu erklimmen und ergriff statt dessen die nächste Lanzenspitze, brach sie ab und benutzte sie wie einen Dolch. Er pflügte mit unbändigem Willen durch die Angreifer, zog wieder sein Schwert und hieb gnadenlos auf die Sarazenen ein, die ihm Widerstand leisteten. Schließlich war er an dem Sarazenen dran, der die Fahne des muslimischen Reiches aufrecht hielt und streckte ihn nieder. Sofort fand sich ein anderer, aber Balian ließ es erst gar nicht zu, daß die gefallene gegnerische Fahne wieder aufgerichtet wurde. Es durfte nicht sein, daß die Sarazenen ihre Fahne hißten, weil ein solches Symbol, obwohl der Turm selbst nur ein kleiner Erfolg war, seine Verteidigung demoralisieren und den Gegner aufbauen konnte.

Er kämpfte sich so hart gegen eine Überzahl an Angreifern vorwärts, daß er nicht wahrnahm, was hinter ihm geschah. Schließlich hatte er die Gruppe der Sarazenen so dezimiert, daß keiner mehr die Fahne aufnehmen wollte oder konnte, aber die Gefahr für ihn kam von hinten. Plötzlich fuhr ein Schwert auf ihn nieder und traf, da er sich gerade in diesem Moment etwas wegdrehte, seinen Schwertarm knapp über dem Handgelenk. Vor Schmerz schrie Balian auf und zog den Arm an den Körper. Das Kettenhemd klaffte an dieser Stelle auseinander, färbte sich rasch dunkelrot und brennender Schmerz durchzog Balians ganzen Arm bis in die Schultern. Balian war auf die Leiber der toten Angreifer zurückgefallen und stütze sich mit dem Ellbogen des linken Armes ab, hielt sich den rechten Unterarm und blickte in die Augen des Angreifers, der ihn gerade verletzt hatte. Mit letzter Kraft riß Balian das Schwert eines Toten hoch und tötete damit den Sarazenen. Dann rappelte er sich wieder auf und erklomm den Berg der Toten.

Er nahm die Fahne des Feindes, stand hoch aufgerichtet, für alle weithin sichtbar, und warf die Fahne mit grimmiger Macht weit in deren Angriffsreihen zurück. Dann hob er seine unverletzte Hand und gab, begleitet von einem weithin schallenden

„Angriff!", den Befehl zum Abfeuern der überdimensionalen Armbrüste. Sie waren mit ihren Ankerhaken auf die Sturmtürme ausgerichtet. Diese riesigen Schußanlagen1 waren Abschußvorrichtungen, die normalerweise für das Ausbringen armdicker Seile mittels Enterhaken an gegnerischen Mauern verwendet wurden, um mit ihnen breitere und stabilere Sturmleitern hochzuziehen. Balian hatte diese Anlagen umfunktionieren lassen. Die Speerspitzen mit Ankerhaken, die sich auf seinen Befehl hin nun in die Sturmtürme – immer zwei aus einer Richtung – hineinbohrten, hatten nun Gegengewichte, die an der Seite eines jeden Wehrturmes herunterhingen. Ihr Gewicht war so hoch, daß sie mit einem entsprechenden Anfangsruck zur Überwindung des Gleichgewichtes eines Sturmturmes in der Lage waren, einen Turm zum Stürzen zu bringen.

Der Angriff kam schnell und unerwartet. Die Männer in den Türmen wußten nicht, was dieser Enterhaken in der Seite ihres Turmes sollte und viele bemerkten es nicht einmal, weil die Hektik des Kampfes diesen kurzen harten Einschlag untergehen ließ.

Alle Geschützmeister waren angewiesen, die Verriegelungen, welche die Gegengewichte in ihrer schwindelnden Höhe hielten, zu lösen, sobald der zweite Enterhaken saß und das Seil gespannt war, und selbst in Deckung zu gehen. Die Gewichte würden ruckartig nach unten schießen und mit einem harten Aufschlag die Seile zum Zerreißen spannen. Wenn die Türme nicht kippten, würden die Seile nachgeben und wenn dies geschah, wollte Balian nicht, daß jemand dadurch verletzt wurde. Fielen aber die Türme, würden die Gewichte weiter in die Tiefe fallen und deshalb hatte auch hier Balian Vorkehrung getroffen, daß niemand dort in der Nähe war.

Salah-al-Din und Saif hatten gebannt den Verlauf des Angriffes ihrer Truppen beobachtet und den ersten kleinen Teilerfolg mit Hoffnung aufgenommen. Dann sahen beide den jungen Ritter, wie er einem Berserker gleich sich den Sarazenen auf dem eingenommenen Turm entgegenstellte und sie aufhielt, bis auch er wieder Unterstützung für die Verteidigung hatte. Sie sahen, wie hart und gnadenlos, ohne Rücksicht auf sich selbst, er zwischen die Gegner fuhr und immer nur vorwärts ging und sich um das, was in seinem Rücken geschah, überhaupt nicht kümmerte. Saif hielt den Atem an. Er hatte Balian schon zweimal kämpfen sehen und hatte eine Vorstellung davon, was für ein schwerer Gegner er sein konnte, aber dieser Einsatz nahm ihm die Sprache. Als Anführer war er zweifelsohne immer auch auf der Mauer zu finden, aber er warf sich in das Kampfgetümmel, als wäre er nicht der Mann der Verteidigung, auf den am wenigsten verzichtet werden konnte. Schon am Vortag war dies beobachtet worden.

Salah-al-Din beobachtete wie Saif das Geschehen und konnte erkennen, als der Ritter hochaufgerichtet, als Symbol für alle Verteidiger Jerusalems die Fahne der Gegner zurückwarf, daß er verletzt war. Er hielt seinen Arm eigenartig gebogen fest an den Körper gepreßt. Salah-al-Din empfand tiefe Achtung für diesen Mann, der trotz seiner Jugend – er hatte inzwischen von Saif mehr über ihn erfahren – es schaffte, einem kriegserfahrenen Heerführer wie ihm Widerstand zu leisten. In diesem Augenblick hob Balian seinen Arm und befahl laut und deutlich den Angriff. Salah-al-Din runzelte die Stirn.

‚Ein Angriff aus der Stadt wäre Wahnsinn. Habe ich mich doch in dem jungen Ritter getäuscht und er hat sich zu einem nicht wieder gutzumachenden Fehler provozieren lassen? Ist die Lage der Stadt verzweifelter, als es bisher den Anschein machte?'

Aber dann konnte Salah-al-Din mit eigenen Augen das Unfaßbare beobachten und sein Respekt vor Balian von Ibelin wuchs ins Grenzenlose. Schon als die Geschosse sich in die Türme bohrten und die Seile gespannt wurden, ahnte Salah-al-Din, was nun kommen würde. Nicht, daß er dies schon einmal erlebt hatte, aber es konnte keinen anderen Grund für diese Vorgehensweise geben, und abermals bat er Allah für seinen Frevel um Vergebung, aber er bewunderte den Einfallsreichtum des jungen Ibelin. Mehr und mehr wurde eine Einnahme Jerusalems schwieriger, und selbst der Mullah an seiner Seite war entsetzt und zweifelte bereits daran, daß es Allahs Wille war, daß Jerusalem von den Moslems zurückerobert werden sollte.

Und dann sahen alle gebannt auf die Sturmtürme. Ein Ruck durchlief sie, langsam, zunächst unmerklich neigten sie sich zur Seite. Dann hatten sie ihr Gleichgewicht verloren und die Schräglage wurde stärker und nun für alle deutlich. Wie von Geisterhand umgestoßen neigten sie sich zur Seite und fielen. Balian war sehr umsichtig vorgegangen. Er hatte vom Stand der Türme am Vortag ausgemacht, wie welche fallen mußten, um auch noch einen anderen Turm, auf den sie keine Enterhaken abfeuern konnten, mitzureißen oder zu zerstören. Wie eine Kettenreaktion brachen nun die Türme zusammen, und die Sarazenen flohen in Panik aus dem Gefahrenbereich. Viele Sturmleitern wurden noch mitgerissen, und die Angreifer auf den Türmen versuchten ihr Heil in einem Sprung zur Mauer. Viele stürzten in den Tod.

Balian stand noch immer hoch aufgerichtet auf der Mauerkrone des Wehrturmes, den er beinahe im Alleingang zurückerobert hatte und blickte nun in Richtung der Wimpel des Sarazenenführers.

Salah-al-Din, in dessen Herz zwei Seelen pochten, blickte ernst, aber im Inneren voller Bewunderung zu dem Verteidiger Jerusalems. Der Sarazenenführer, der schon gegen Balians Vater gekämpft und diesen mit Achtung und Respekt in Erinnerung hatte, empfand väterlichen Stolz. Sie waren Gegner, aber doch im Herzen sehr ähnlich. Wenn Balian Saifs Freund war, den er selbst wie einen Sohn gefördert hatte und immer wußte, was in ihm vorging, dann konnte Balian von Ibelin nur ein Ehrenmann sein, und sein Vorgehen bei der Verteidigung Jerusalems zeigte, daß er zudem den Instinkt seines Vaters hatte. Godfrey von Ibelin mußte sehr stolz auf diesen Sohn gewesen sein.

Balian blickte hinüber zu Salah-al-Dins Wimpeln und er wußte, daß dieser zu ihm herüber sah. Balian konnte es nicht sagen, was es war; die Freundschaft zu Saif, der den Sarazenenführer so bewunderte; die Achtung, die Balduin vor diesem Mann gehabt oder auch die Achtung und den Respekt, den Salah-al-Din Balduin entgegengebracht hatte; aber er fühlte ein Bedauern in sich, diesem Mann bislang nur auf dem Schlachtfeld begegnet zu sein. Er hatte ihm für heute wieder eine böse Niederlage eingebracht, aber der Kampf um Jerusalem war noch nicht entschieden, und Balian stieg müde von dem Wehrturm. Es würde heute keine Attacke mehr erfolgen. Viel zu groß war der Schock über das Geschehene und mehr noch als die Christen glaubten die Moslems daran, wie Balian von Saif wußte, daß alles nach dem Willen Gottes geschah. Was mußte dann diese Niederlage in ihren Augen bedeuten?

Die Männer auf den Wehrgängen jubelten verhalten, als sie Balian kommen sahen. Sie sahen, wie erschöpft er war und sie bemerkten auch seine Verletzung. Die Kämpfer machten ihm Platz und ließen ihn unbehelligt durch.

Balian aber merkte die verhaltene Stimmung und blieb stehen. Er sah in die Gesichter der Soldaten und lächelte, und sein Lächeln hob wieder ihre Stimmung. Sie waren alle müde und erschöpft, aber ihre Sorge um ihren Heerführer hatte für einen kurzen Moment die Freude über den Erfolg gedämpft. Sie hatten gesehen, wie er den Wehrturm zurückerobert hatte und tiefen Stolz empfunden, unter ihm kämpfen zu dürfen. Nun lächelte er sie an. Es war ein müdes und verhaltenes Lächeln, aber er zeigte ihnen, daß es nicht so schlimm um ihn stand, wie es der erste Anschein für sie machte. Balian dankte den Männern mit sanften Worten, gab kurze Anweisungen, wie nun weiter vorgegangen werden sollte. Die Verteidiger der Mauer wurden wie am Vortrag von den Wachen abgelöst und konnten nun ihre Wunden pflegen gehen, essen und trinken und sich ausruhen. Balian rief die Abschnittskommandanten zu sich. Sie versammelten sich in einer kleinen Kapelle und Balian ließ sich mitteilen, welche Verluste sie hatten und wie die Lage in den anderen Bereichen aussah. Almaric beobachtete Balian genau und schickte leise einen Mann zu einem Heilkundigen, der ein schmerzstillendes Getränk holen sollte.

Die Blutung schien an Balians Arm von alleine aufgehört zu haben, aber daß er starke Schmerzen hatte, sah man an seinen Augen, wenn er den Arm bewegen mußte. Er ließ ihn nun hängen und vermied jede Berührung. Vor Balian wurde eine Karte ausgebreitet und die Kommandanten erläuterten die Schäden, die durch den neuerlichen Katapultbeschuß entstanden waren. Balian starrte auf ein Detail der Karte und auf seiner Stirn erschien eine steile Falte. Er blickte den ältesten Waffenmeister an und deutete auf die Zeichnung, die ihm Sorgen bereitete.

„Dieses Zeichen dort, könnt Ihr mir sagen, was es bedeutet?" fragte er heftig. Alle sahen ihn überrascht an und der Waffenmeister zuckte nur mit den Schultern. Balian wandte sich an Salem:

„Bitte geht und sucht einen Baumeister, der mit der Stadtmauerbefestigung vertraut ist", sprach er zu ihm und setzte noch hinzu:

„Es eilt, Salem."

Dann wandte er sich wieder an den Waffenmeister und fragte:

„Dies ist das Christophorustor, nicht wahr? Wo liegt es? Ich kenne nur drei offene Tore der Stadt. Was ist mit diesem?"

Aber es war nicht der Waffenmeister, der ihm antwortete, sondern Almaric:

„Es ist kein offenes Tor mehr. Es wurde, noch bevor ich geboren wurde, zugemauert. Es war einst das Tor, durch das Christus auf dem Esel in die Stadt einzog", führte er aus.

Balian blickte ihn entgeistert an, dann drehte er sich um, ging raschen Schrittes aus der Kirche und rief Almaric nur zu:

„Zeigt es mir!" und Almaric war mit wenigen Schritten an der Seite seines Freundes.

Sie brauchten nicht lange, bis sie das Tor erreicht hatten und Balian betrachtete das Mauerwerk. Dann fragte er:

„Gibt es noch weitere solche Tore, Almaric? Oder ist dies das einzige?".

Almaric antwortete ihm:

„Es gibt noch zwei, Balian, kommt ich führe Euch." Und beide eilten zu den Toren. Als Balian die Tore gesehen hatte und sich von der Mauerkrone aus genau die Lage und Angriffsmöglichkeit der Gegner betrachtet hatte, wurde er schon etwas ruhiger. Almaric ahnte, was ihn beunruhigt hatte. Mit Almaric kehrte er zum Christophorustor zurück. Unterwegs trafen sie Salem, der an seiner Seite einen Baumeister hatte, der die Mauer in und auswendig kannte. Dieser bestätigte Balians Verdacht, daß die Mauer hier am schwächsten war und gab ihm den Auftrag, diese zu stützen und zu verstärken.

Danach kehrte er mit Salem und Almaric wieder in die Kapelle zurück, wo die Waffenmeister noch auf die Befehle von Balian warteten. Auch der Mann, den Almaric mit dem Auftrag, ein Schmerzmittel für Balian zu besorgen, losgeschickt hatte, war da und Almaric nahm ihn zur Seite. Der Mann teilte ihm die Nachricht des Heilers mit. Das Mittel war leicht, und konnte nur eine kurze Zeit den Schmerz etwas betäuben. Der Heiler hatte nicht gewagt, etwas Stärkeres zu nehmen, weil der Heerführer nicht stundenlang außer Gefecht sein durfte.

Almaric nahm den Becher und trat zu Balian. Er hielt ihm den Becher als Aufforderung zu trinken hin, und Balian sah ihn fragend an.

Almaric sagte leise:

„Es ist wird dir Erleichterung bringen, nicht mehr, mein Freund."

Balian nickte leicht. Er vertraute Almaric, nahm den Becher und trank ihn leer. Der Arm schmerzte so stark, daß er dankbar war für diese Hilfe, aber er hätte sich nicht mit einem Rauschmittel betäuben lassen.

Balian wandte sich dann wieder an die Waffenmeister und teilte ihnen seine Befürchtung mit, daß nun, nachdem der Zugang zu den Mauern durch die zerstörten Sturmtürme teilweise versperrt war, Salah-al-Din einen anderen Weg nach Jerusalem suchen würde. Balian ging davon aus, daß auch er die Mauer genau begutachtete und seine Katapulte auf die für ihn erkennbare schwächste Stelle ausrichten ließ, um einen Durchlaß zu schaffen. Die beiden anderen Tore waren an Stellen, von wo sie nicht durch die Katapulte beschossen werden konnten und so blieb nur das Christophorustor. Sie sollten sich alle mit Waffen, Schilden und entsprechendem Rüstzeug darauf vorbereiten, daß sie dort dem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden und dafür sorgen mußten, daß eine Mauer aus Kämpfern einen Durchbruch verhinderte.

Einer der Waffenmeister sprach den Zweifel aus, den jeder hatte:

„Wir können einem Durchbruch nicht ewig standhalten gegen dieses riesige Heer dort draußen. Was erhofft Ihr Euch, Herr?"

Und Balian blickte in die Runde und erwiderte:

„Wir müssen standhalten, bis in Salah-al-Din der Wunsch nach Verhandlungen gereift ist. Er muß zu der Überzeugung kommen, daß ihn die Einnahme Jerusalems mehr kosten wird, als er bereit ist zu zahlen. Wenn wir dies nicht schaffen, war die bisherige Verteidigung umsonst."

Balian senkte einen Moment den Kopf, dann sah er wieder auf und seine Stimme klang traurig, aber ohne Resignation:

„Wir können Jerusalem nicht für die Christenheit halten, das war nie meine Absicht. Ich kämpfe für die Menschen, die hier leben und bisher in Frieden mit den Moslems vereint waren. Nur die Machtgier einiger Ritter hat diesen Frieden zerstört. Diese Ritter gab es nicht nur auf unserer Seite, es wird sie auch auf der Seite der Sarazenen geben. Machthunger und Fanatismus liegt in der Natur vieler Menschen. Aber wir haben die Chance, Bedingungen zu erzwingen, welche die Menschen Jerusalems retten. Das ist es, was uns Standhaftigkeit bringen kann."

Die Waffenmeister sahen Balian schweigend an, dann senkte ein jeder tief sein Haupt vor dem jungen Ritters und demonstrierte so seine Wertschätzung. Sie wiederholten symbolisch ihren Treueschwur, indem sie ihre rechte Hand zu einer Faust geschlossen auf das Herz legten. Balian war über diese Geste zutiefst erstaunt und dankte es ihnen mit einem scheuen Lächeln. Dann war alles besprochen, und er entließ die Waffenmeister. Langsam drehte er sich zu Almaric und Salem um und lehnte sich an den Altar, auf dem noch die Karten lagen. Beide sahen Balian ernst, aber aufmunternd an. Einmal mehr hatte Balian mit klaren Worten Männer der Vernunft für sich gewonnen und konnte sicher sein, daß sie ganz hinter seinen Absichten standen. Balian war völlig erschöpft und sein Arm schmerzte. Es war jetzt besser auszuhalten, nachdem er den Trunk von Almaric angenommen hatte, aber er mußte ihn versorgen lassen. Auch Almaric und Salem sahen das so. Sie mußten ihn aber wieder mal erst davon überzeugen, daß er sich danach auch etwas Ruhe gönnen mußte, und gingen erst zum Haus von Ibelin vor, als Balian sein Versprechen dafür gegeben hatte. Dann ging Balian in die Katakomben zu den Heilern, um sich seine Wunde versorgen zu lassen.

Balian schritt an den an den Wänden aufgestellten Tischen vorbei, an denen Klosterbrüder mit Wissen in der Heilkunde die vielen leicht bis mittelschwer Verletzten versorgten. Die Schwerverletzten waren in anderen Räumlichkeiten untergebracht und der Platz war sehr begrenzt, weshalb sich hier alles drängte. Balian war so erschöpft, daß er sich am liebsten an einer Wand niedergelassen hätte und einige wenige Minuten seinen Kopf zwischen die Knie genommen hätte, aber eine solche Demonstration von Schwäche konnte er sich hier, wo sich so viele Soldaten verarzten ließen, nicht leisten und er gab seinen Freunden recht, daß er sich für kurze Zeit in sein Heim zurückziehen mußte. Er ging an den Tischreihen entlang und nahm dann bei einem freigewordenen Heiler Platz. Balian legte seinen Arm auf den Tisch, und der Bruder zog vorsichtig den Rest des Ärmels vom Waffenhemd zur Seite und klappte das Kettenhemd zurück. Die Wunde, die sich ihm zeigte, ließ den Bruder erstaunt den jungen Ritter ansehen, der bislang keine Schmerzensäußerung von sich gegeben und lediglich sein Gesicht abgewandt hatte.

Eine tiefe klaffende Spalte zeigte sich dort. Die Ränder waren sauber geschnitten, und es war nur dem Kettenhemd zu verdanken, daß er nicht seine Hand verloren hatte. Der Heiler begann, vorsichtig die Wunde zu reinigen und Balian ballte als einziges Zeichen seiner Schmerzen die Hand zu einer Faust und hielt sich mit der Hand seines gesunden Armes den Oberarm seiner Schwerthand. Geduldig ließ er die Behandlung über sich ergehen und auch als der Ordensbruder die Wunde nähte, kam kein Laut über seine Lippen. Diese waren fest zusammen gepreßt und Schweiß stand ihm auf der Stirn, lange würde er dies nicht mehr aushalten. In diesem Moment hob der Bruder seinen Arm vorsichtig an und begann, diesen mit sauberen Leinenstreifen zu verbinden. Der Bruder hatte Balian etwas Salbe und vor allem ein schmerzlinderndes Mittel in die Wunde gegeben, und Balian spürte schon bald, wie der Schmerz der Behandlung sich abschwächte. Er dankte dem Ordensbruder und stand auf, wollte gerade gehen, als dieser ihn noch einen Moment zurückhielt. Er gab Balian ein kleines Säckchen:

„Hier sind Kräuter zum Kauen, Herr, sie werden Euch die Schmerzen ein wenig lindern. Nehmt sie, da Ihr Eurem Arm und Euch kaum Ruhe gönnen könnt", sprach der Geistliche dazu und zeigte damit, daß er genau wußte, wen er vor sich hatte.

Balian nahm den kleinen Lederbeutel und dankte dem Mann, als er sich gerade abwenden wollte, fiel vor ihm ein älterer Mann beinahe hin, und Balian griff beherzt zu, ohne an die Wunde an seinem Arm zu denken und fing ihn auf. Er führte ihn zu dem Ordensbruder, bei dem er selbst gerade noch gesessen hatte und ließ sich seinen Schmerz im Arm nicht anmerken. Aber der Ordensbruder konnte die Qual in Balians Augen sehen und bat nur: „Nehmt zwei Blätter und kaut sie, tut es, ich bitte Euch."

Balian nickte schweigend und ging dann durch die Gänge zurück an die frische Luft. Er entnahm dem Säckchen zwei Blätter wie ihm geheißen und steckte sie sich in den Mund. Er begann sie zu kauen. Sie schmeckten herb, aber angenehm und bereits kurze Zeit später verspürte Balian die Wirkung und war dem Ordensbruder von Herzen dankbar.

Sybilla saß in eben diesen Katakomben als eine von vielen, die sich um die Verletzten kümmerten. Vor ihr saß ein Soldat, dem sie eine Schnittwunde auf dem Handrücken behandelte. Als sie einen Moment aufsah, bemerkte sie Balian, der müde, mit tiefen Rändern unter den Augen und starren Blickes an den Tischen vorbei ging. Sie hatte ihren Kopf abgewandt, damit er sie nicht erkannte. Balian setzte sich einen Tisch weiter an einen freien Platz. Er war also verletzt. Sybilla hatte nichts an ihm gesehen, aber als sie sich ein wenig umwandte, konnte sie sehen, daß sein Arm behandelt wurde. Der Mann vor ihr hatte ihren Blick bemerkt und drückte kurz ihre Hand, als wüßte er, was in ihr vorging. Er lächelte sie an und machte dann den Platz frei für einen weiteren Verletzten. Sybilla, die von Herzen gerne zu Balian gegangen wäre und sich um ihn gekümmert hätte, verwehrte sich dieses Gefühl und konzentrierte sich auf die Menschen, die sie brauchten. Sie war hier, um zu helfen, und zu sühnen für die Fehler, die sie begangen hatte. Aber einige Zeit später ging sie doch zu dem Ordensbruder und frage nach dem jungen Ritter. Der Geistliche beschrieb ihr seine Verletzung und wie tapfer er die Behandlung durchgestanden hätte. Er lächelte leicht, dann gab er Sybilla zu verstehen, daß er wußte, wer da an seinem Tisch stand und nach dem jungen Heerführer fragte, aber auch, daß ihr kleines Geheimnis von ihm gewahrt werden würde. Sybilla dankte dem Ordensbruder und ging wieder der Verrichtung ihrer Arbeit nach. Es gab noch viele, die eine helfende Hand benötigten.

Balian machte sich nun auf den Weg zu seinem Haus. Wenn er dort nicht bald erschien, würden Almaric und Salem nach ihm suchen. Er mußte schmunzeln, denn mit den beiden Freunden hatte er sich richtige Aufpasser angelacht. Aber er war dankbar für ihre Fürsorge und ihre Hartnäckigkeit, mit der sie ihn dazu brachten, auf die Bedürfnisse seines Körpers zu hören. Als er sein Gut betrat, saßen die beiden Freunde unter den Arkaden und der Verwalter hatte bereits Essen aufgetischt. Balian ließ sich von den Dienern beim Ablegen der Waffen und des Kettenhemdes helfen und wusch sich dann mit einem gereichten Tuch das Gesicht und die Hände. Erst dann setzte er sich zu den Freunden. Sie speisten zusammen. Als Balian danach aufstand um in seine Räume zu gehen und sich niederzulegen, versagten ihm die Beine. Er wäre gestürzt und hätte sich auch noch mit dem verletzten Arm abgestützt, wenn nicht Almaric schnell reagiert und ihn aufgefangen hätte. Bei Balian machten sich nun seine Erschöpfung, der Blutverlust und auch die Schmerzmittel bemerkbar, und Almaric griff mit Salem kräftig zu, um Balian Halt zu geben. Sie brachten ihn in sein Zimmer und entkleideten den jungen Herrn. Dann legten sie Balian nieder und dieser war so rasch eingeschlafen, daß er nicht merkte, wie ihn Almaric noch bedeckte.

Balian schlief nur wenige Stunden, dann wurde er von Almaric geweckt, weil es Probleme gab, zu denen Balian eine Entscheidung treffen mußte. Balian kleidete sich an und begab sich mit dem leichteren Kettenhemd gegürtet an Almarics Seite zum Christophorustor. Hier hatte der Baumeister mit Helfern schon einiges erreicht, aber Balian sah sogleich, daß die Bemühungen nicht ausreichen würden.

„Hier werden wir unserem Feind in die Augen sehen", sprach Balian und man hörte aus seiner Stimmer heraus, daß er gehofft hatte, daß dem nicht so sein würde.

„Wir müssen uns vorbereiten", und mit diesen Worten machte er kehrt, um mit den Waffenmeistern und Almaric die Vorbereitungen für den nächsten Tag durchzusprechen. Der Kampf um dieses Tor würde der alles entscheidende Kampf werden und nichts als die Standhaftigkeit der Männer, die den Durchbruch im Mauerwerk würden schließen müssen, konnte die Menschen von Jerusalem dann noch vor dem Untergang bewahren.

Nach der Besprechung mit den Waffenmeistern trat ein Soldat zu Balian:

„Herr, was sollen wir mit den Gefallenen machen? Wir haben nicht genügend Möglichkeiten sie in den Grüften niederzulegen."

Almaric blickte den Soldaten einen Moment schweigend an, dann traf er eine Entscheidung, die ihm nicht leicht fiel. Die Gefallenen hätten wahrlich eine bessere Behandlung ihres Leichnams verdient gehabt, aber er sah keine andere Möglichkeit um Seuchen in der Stadt zu vermeiden. Balian hatte keine andere Wahl.

„Laßt in einem Innenhof zwischen den Wehrmauern eine Grube graben, die groß genug ist, daß die Leichname darin verbrannt werden können", sprach er und sah dabei das Entsetzen in den Augen des anderen.

„Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen die Lebenden schützen. Gott wird sich ihrer Seele annehmen", versuchte er den Schmerz des Soldaten und seinen eigenen ein wenig zu mildern.

Balian ging dann mit Almaric nochmals die Wehranlage ab und sprach mit den dortigen Wachen und klärte, wenn es Probleme gab. Er hatte zwar einige Stunden geschlafen, aber der Arm schmerzte noch immer. Die Erholung dieser Stunden hielt sich auch in Grenzen und der Druck, unter dem er seit Tagen stand, machte sich immer stärker bemerkbar, weshalb er, nach einem Rundgang bei den Schutzsuchenden, diesmal ohne zu zögern Almarics Einladung nach Hause Folge leistete. Im Gut legte er sich aber nicht nochmals hin, sondern er setzte sich mit seinem Freund unter die Arkaden und trank den Wein, der ihm vom Verwalter eingeschenkt wurde. Almaric nahm Balians Arm und erneuerte den Verband, der bereits wieder blutdurchtränkt war. Balian zuckte dabei einmal heftig zurück, als Almaric ein festklebendes Stück vom Arm ziehen mußte. Balian hatte die Augen geschlossen, aber Almaric sah an den Wangenmuskeln, die heftig arbeiteten, das Balian starke Schmerzen im Arm hatte.

„Du solltest von den Blättern nehmen, die der Heilkundige dir gegeben hatte, Balian. Es hat keinen Sinn, daß du mühsam versuchst, den Schmerz zu ignorieren. Die letzten Tage haben dir bereits zuviel abgefordert, als daß du mit deiner Sturheit dir etwas Gutes tun würdest", sprach er deshalb seinen Freund harsch an. Manchmal konnte Balian einen mit seiner Art, sich selbst so zurückzunehmen, zur Verzweiflung treiben. Almaric mußte grinsen, als er an den Verwalter dachte, der sich deshalb schon die ganze Zeit über die Haare raufte.

Dann bemerkte er, wie Balian ihn ansah und lächelte. Es war dieses Lächeln, das allen Menschen in seiner Umgebung so viel Freude schenkte. Dieses Lächeln besiegte jeden Groll auf ihn und die Menschen von Ibelin liebten ihren Herrn ob dieses Geschenkes. Aber hier und jetzt wirkte es völlig fehl am Platz, und Almaric konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, daß Balian seine letzten Worte nicht ganz ernst nahm. Und da fiel es Almaric wie Schuppen von den Augen, was er gerade zu Balian gesagt hatte. Stur hatte er ihn genannt. Damit hatte er deutlich, auch wenn der Umgang noch so freundschaftlich war, Grenzen seinem Herrn gegenüber überschritten. Almaric blickte Balian fragend an. Balian hielt Almarics Blick stand und meinte:

Stur hat mich noch keiner genannt." Er lachte. „Almaric, war das dein Ernst?" Und er konnte sich ein Feixen nicht verkneifen.

Almaric nickte nur, konnte aber dann auch ein Lachen nicht unterdrücken. In dieser ernsten Lage, in der sie sich befanden, war dieser Moment der ausgelassenen Freude so kostbar und heilsam wie Wasser in der Wüste. Vieler dieser Momente würde es nicht mehr geben, das wußten sie beide, und ihr Schicksal würde sich noch vor dem nächsten Abend entschieden haben.


Anmerkungen

1>Siehe Glossar – Mittelalterliche Massenvernichtungswaffen


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