Kapitel 9:
Nichts in seinem Leben ist vergleichbar mit dem Schmerz, den er damals empfand. Nicht einmal – und es erstaunt ihn, dass dem so war – der Tod seiner Eltern. Kurz erlaubt sich Fitzwilliam Darcy seine Augen zu öffnen, um seine Frau anzusehen, die eingenickt ist und ihren Kopf vertrauensvoll an seine linke Schulter gelehnt hat. Gut dass sie schläft, denkt er, und gibt sich wieder seinen Erinnerungen hin, wenn auch nur ungern, da dies das leidvollste Kapitel der ganzen Geschichte darstellt. Ja, man ist auf dem Weg nach Rosings, wo es sich vor zwei Jahren zugetragen hat.
Wenn er es überhaupt geplant hatte, dann gewiss nicht so. Eher hatte er sich ein stilles halbes Stündchen in einem Salon oder – da er wusste, wie gern Elizabeth zu Fuß unterwegs war – auch einen gemeinsamen Spaziergang, natürlich bei schönem Wetter, für seinen Antrag an sie vorgestellt. Aber wo er ihr nun gegenüber stand, gab es kein Zurück mehr. Er sprudelte es atemlos augenblicklich hervor. Wie er gelitten habe, auch alle Vorbehalte und Einwände nicht zurückhaltend, er wollte so ehrlich wie nur möglich sein mit ihr. Gleich von vorneherein. Sie schien ihn nicht zu verstehen. Wusste sie wirklich nicht, was er meinte? Ahnte sie tatsächlich nichts von seinen Gefühlen für sie?
Die nächsten Worte waren deutlich, doch kaum hatte er sie ausgesprochen, wünschte er schon, er hätte es sanfter, romantischer formuliert. Er war in seiner rastlosen Fiebrigkeit mit der Tür ins Haus gefallen, aber nun war es bereits geschehen, seine letzten Worte waren klar zu hören gewesen, klangen noch in seinen Ohren. „Ich liebe Sie. Auf das Glühendste!" Er hatte es gesagt! Die Worte, die er so lange unterdrückt hatte, die er seit Wochen und Monaten in sich vergraben hatte, denen er nicht gestattet hatte, sich einen Weg aus ihm heraus zu bahnen, sie schwebten endlich in der Luft. Frei. Eine glückliche Sekunde lang. Gefolgt von seiner zum Ausdruck gebrachten Hoffnung, dass sie seinen Antrag akzeptieren möge.
Dann kam ein ganzer Schwall von Worten von ihr zurück. Kein einziges davon so wie er es sich vorgestellt hatte, nämlich sanft, zärtlich und liebevoll, nichts was seine Hoffnung hätte nähren können. Das absolute Gegenteil war der Fall. Sie war so erbost über sein Ansinnen, dass sie ihm nun ihrerseits in schonungsloser Ehrlichkeit all seine Fehler, seine Makel und seine Vergehen an den Kopf warf. Angefangen von seiner Geringachtung gegenüber ihrer Familie, über die unrühmliche Rolle, die er bei der Trennung von Charles Bingley und ihrer Schwester Jane gespielt hatte (da wurde ihm sofort klar, was vorhin zwischen Elizabeth und dem Colonel in der Kirche geredet worden war) bis hin zu der unseligen Geschichte mit George Wickham.
Er hatte gar keine Chance mehr. Sie schleuderte ihm ihre Verbalattacken wie tödliche Blitze entgegen. Sie riss ihm das Herz aus dem Leib und trat es noch genussvoll mit Füßen. Hatte er gedacht, dass die letzten Wochen an Qual kaum zu überbieten seien, so wurde er jetzt eines besseren belehrt. Doch die schlimmste Erkenntnis war die, dass sie in den meisten Punkten Recht hatte! Die Sache mit Wickham würde er ihr erklären müssen, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Aber der Rest… war sein alleiniges Verschulden.
Sie schloss ihre peinigenden Ausführungen mit der Feststellung, dass er der letzte Mann auf der Welt sei, den zu heiraten sie sich jemals bereit erklären würde. Das hatte gesessen. Dieser Stachel würde sein Fleisch vereitern, die Wunde würde niemals heilen.
Fitzwilliam Darcy dachte einen Moment lang ernsthaft daran, sich nach der Rückkehr nach Rosings Park sofort den Säbel des Colonels in den Leib zu rammen, damit das Leid ein Ende habe. Aber zuvor wollte er noch etwas tun, was ihm den Abschied von diesem Leben auf ewig versüßen würde. Er beugte sein regennasses Gesicht ganz nah zu ihr hin, drehte seinen Kopf leicht seitlich, fast erwartete er, ihre Ohrfeige auf seiner Wange zu spüren, aber nichts dergleichen geschah. Er hob seinen Blick etwas höher und sah mit großem Erstaunen dass sie ihm mit atemloser Spannung ebenfalls ein Stück entgegen gekommen war. Nur noch wenige Zentimeter, dann würden sich ihre Münder berühren. Die Anziehungskraft war riesengroß - er schaffte es in letzter Sekunde sich loszureißen. Es durchzuckte ihn wie ein Blitz: Das würde er sich später irgendwann einmal nehmen! Er würde nicht aufgeben! Colonel Fitzwilliams Säbel rückte in weite Ferne.
Zunächst einmal würde er sich gegenüber ihren Anschuldigungen zu verteidigen wissen. Nur dort, wo es etwas zu bereinigen gab natürlich, bei allen Punkten wo Elizabeth Recht hatte mit ihren Vorwürfen, würde er versuchen, sich zu bessern.
Er verabschiedete sich von ihr und ging rasch seiner Wege. Seine innere Aufruhr war nach wie vor unbeschreiblich hoch, die qualvollen Schmerzen seiner Seele konnte er sogar körperlich spüren, und es gelang ihm nur mühsam Fassung zu bewahren. Irgendwie erreichte er Rosings.
Gleich in der Eingangshalle traf er auf Montgomery Fitzwilliam. Er wünschte sich nun doch den Säbel herbei, allerdings weniger, um sich selbst etwas anzutun… „Mein Gott, wie siehst du denn aus? Völlig durchnässt! Wo bist du nach der Kirche so eilig hin?" „Werter Cousin", knurrte Fitzwilliam Darcy knapp und hinterließ bereits eine Pfütze auf dem kostbaren Teppich „wie du siehst, muss ich mich dringend umziehen und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich nicht länger daran hindern würdest". „Aber so bald du umgezogen bist, wirst du mir erzählen, wie du in diesen desolaten Zustand geraten bist, nicht wahr?" fragte der Colonel ihn mit unverhohlener Neugier. Bereits im Weggehen begriffen gab Fitzwilliam seinem Cousin eine eindeutige Antwort auf seine Frage „Den Teufel werd ich tun!"
In seinem Zimmer angekommen, riss er sich ohne Zögern die nasse Kleidung vom Leib und wand sich in ein trockenes Laken. Dann entnahm er der Reisetruhe ein frisches Hemd und neue Breeches und ließ sich aufseufzend aufs Bett fallen. Doch Ruhe überkam ihn freilich nicht.
Angesichts dieser neuen Situation entschloss sich Montgomery Fitzwilliam, die Mittagsruhe von Miss Anne zu unterbrechen. Nicht leichtfertig, aber immerhin mit gutem Grund pochte er daher an ihre Zimmertür. Kein Mädchen öffnete. Kein Laut war zu hören. Er drehte sich um und stieß fast mit seiner Cousine zusammen, die leise den Gang entlang gekommen war. „Anne, ich wollte Sie gerade aufsuchen, um…", dann stutzte er „aber eigentlich sollten Sie in Ihrem Zimmer sein und ruhen, nicht wahr?" „Dann gehen wir besser hinein, lieber Cousin", sagte Anne und öffnete ihre Tür. Er ließ ihr den Vortritt und konnte ihre Kühnheit kaum begreifen, denn es befand sich außer ihnen beiden niemand sonst in dem Raum. Ihrem Privatgemach, wohl gemerkt. Sie benahm sich in der Tat äußerst ungewohnt in letzter Zeit.
„Ich war auf dem Weg zu ihnen, ich habe nämlich Cousin Fitzwilliam vom Fenster aus gesehen, als er vor kurzem hier in bedauernswertem Zustand eintraf und wollte ihnen Mitteilung davon machen", begann sie ohne Umschweife, wenn auch mit sehr zittriger Stimme. „Ich habe ihn persönlich getroffen und wollte ihnen", er lächelte kurz „davon Mitteilung machen. Wir hatten beide also den gleichen Gedanken." Sie waren sich einig, dass in den letzten Tagen einiges vorgefallen sein musste, was im heutigen Tag, dem sonderbaren Zustand Fitzwilliams nach zu urteilen, seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte.
Montgomery fühlte sich unbehaglich in Annes Zimmer. Er sollte nicht hier drinnen sein. Das war – ja es war absolut ungehörig. „Madam", er beugte sich aus dem Sessel ein wenig vor zu ihr „ich muss Sie jetzt verlassen, es ist wirklich nicht schicklich". Anne holte tief Luft und erwiderte dann, auch wenn es nur ein kaum hörbares Wispern war „Das ist mir klar, aber ich fürchte nichts, außerdem sind wir Cousin und Cousine, ich denke, man kann da durchaus eine Ausnahme machen". Und da erinnerte er sich an die anderen wenigen Gelegenheiten, die er allein mit ihr verbracht hatte (im Marmeladenkeller, nun ja) und auch daran, wie sie reagierte, wenn er…. Ohne recht zu überlegen, nahm er ihre Hand in die seine „Sie sind eine sehr mutige junge Frau, Anne", und drückte ihr einen sehr leichten Kuss auf die Hand „und ich muss gestehen, dieser Ausdruck von Entschlossenheit steht Ihnen wahrlich besser zu Gesicht als die ewig leidende Miene, die Sie uns sonst immer zeigen". Er erschrak sogleich über seine offenen, etwas schonungslosen Worte, doch sie errötete nur leicht, wie immer wenn er ihr einen Handkuss gab, und schien ihm nicht gram über seine Offenheit zu sein.
Er stand auf, wusste nicht, wie er sich weiter verhalten sollte. Er trat ans Fenster und spähte hinaus. Dann hörte er sie leise sprechen und er musste sich anstrengen, damit er genau mitbekam was sie von sich gab. „Wissen Sie Montgomery, ich bin Mitte Zwanzig und habe bislang immer nur in diesem goldenen Käfig hier gelebt. Ja, es ist wahr, ich bin von schwacher Gesundheit, aber ein Arzt hat mir einmal erklärt, dass sich dies vielleicht ändern könne, wenn ich mir etwas mehr zutrauen würde". Sie musste kurz Atem holen, denn sie war so langes Reden nicht gewohnt. Unterdessen hatte sich der Colonel langsam zu ihr umgedreht. „Anne, ich bitte Sie, erschöpfen Sie sich nicht". Sie lachte etwas gequält auf „Sehen sie, das ist genau was ich meine, Cousin, ich bin schlicht und einfach überbehütet. Kein Lüftchen, kein Stäubchen soll mich je ankommen, deswegen habe ich auch die körperliche Kraft nicht. Ich sollte, wenn die Sonne jetzt mehr und mehr zum Vorschein kommt, viel Zeit draußen verbringen, damit sich mein Zustand bessert und meine Gesundheit festigt. Fast ständig nur in geschlossenen Räumen oder gedeckten Kutschen zu sein, ist dem sicher nicht förderlich". Sie schaute unsicher zu Boden, fuhr dann aber fort „Meine Mutter sieht das natürlich völlig anders, und sie wird es wahrscheinlich nicht zulassen, dass ich mehr Zeit im Freien verbringe. Aber ich muss…" und nun blickte sie ihren Cousin doch an „ich muss mich irgendwann von ihr lösen, nicht wahr? Sonst vertrockne ich wie eine überdüngte Pflanze", sie wurde etwas eifriger bei dieser Vorstellung „ja, genau so verhält es sich. Jedoch kann ich dies alles nicht ohne fremde Hilfe tun, und daher wollte ich Sie bitten…" sie brach den Satz tränenunterdrückt und hilflos ab.
Montgomery Fitzwilliam stand jetzt unmittelbar vor ihr. Sie rührte ihn an. Er sackte vor ihrem Sessel auf beide Knie und hob ihr zitterndes Kinn an. „Anne", er wischte eine Träne mit seinem Daumen von ihrem zarten Gesicht, eine Geste, die er letzthin im Marmeladenkeller schon einmal machen wollte, sie dann aber unterdrückt hatte. Er kam wieder auf die Beine und zog sie langsam mit sich hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. Er konnte gar nicht anders, als sie in die Arme zu nehmen. Wie lange er sie so umfangen hielt, konnte er später gar nicht mehr sagen, auf alle Fälle dauerte es lange, bis keine Schluchzer mehr ihre zierliche Erscheinung durchbebten. Er löste sich um ein paar Zentimeter von ihr, lockerte aber seinen Griff um ihre zerbrechliche Gestalt nicht, aus Angst sie könne ohnmächtig werden. Ihr verweintes Gesicht war nicht besonders ansehnlich, aber er achtete nicht mehr auf diese Äußerlichkeiten.
Mit Leichtigkeit hob er sie hoch und trug sie hinüber zum Canapée, um sie dort vorsichtig abzusetzen. Doch wider Erwarten klammert sie sich an ihn, wie eine Ertrinkende an ihren Retter. „Anne, lass mich los, bitte! Ich kann dich sonst nicht auf dem Sofa platzieren und wir würden beide hinfallen und eine lächerliche Figur abgeben." Da war es, das vertraute ‚du'. Derlei getröstet, ließ sie ihn gewähren, als er ihre Hände von seinem Nacken löste.
Sie kuschelte sich auf das Canapée, während er sich taktvoll an das äußerste Fußende setzte. Er nahm ihre Hand auf. „So leid es mir tut, ich werde dich jetzt verlassen müssen", er wollte ihre Hand zum Kuss an seine Lippen ziehen, doch da stützte sie sich auf ihren freien Ellbogen und setzte sich etwas mehr hoch. „Nein", kam es hauchzart, aber bestimmt von ihr „bitte kein Handkuss diesmal". Sie wurde feuerrot, kaum dass sie es gesagt hatte. Sie wollte nicht impertinent erscheinen und fing daher zu stottern an „Ich meine, ähm, natürlich schätze ich einen Handkuss sehr von dir… aber… ich dachte… vielleicht jetzt wo…", sie wusste nicht mehr weiter. Er lächelte, überrascht von ihrem Vorstoß.
Ja, die letzten Tage hatten ihm einen ganz neuen Weg für sein zukünftiges Leben gezeigt. Dass er einmal seine Cousine mit völlig anderen Augen sehen würde, hätte er sich niemals träumen lassen. Aber so war es. Ihre kleine Verschwörung gegen Cousin Fitzwilliam hatte sie zusammengebracht, so unerwartet wie ein Gewitter im Dezember. Und jetzt, wo er ihr in die Augen schaute, kam sie ihm irgendwie schön vor. Er stand auf, ohne ihre Hand loszulassen, und ließ sich am Kopfende des Möbelstücks auf dem Boden nieder. Ihrem Gesicht ganz nahe, flüsterte er „Meine liebe Anne, was immer du wünschst" und berührte ihre Lippen sehr vorsichtig mit den seinen. Für einen Moment war sie wie erstarrt, dann riss sie die Augen weit auf. So also war das! Ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen und ein ganz undamenhafter Laut entschlüpfte ihrer Kehle, was Anlass für Montgomery war, etwas mehr Leidenschaft an den Tag zu legen.
Dann war der magische Moment fürs erste vorüber, sie lösten sich voneinander. Er stand langsam auf, verbeugte sich mit großer Höflichkeit und versicherte ihr, dass er sich sehr darauf freue, sie beim Dinner wieder zu sehen. Sie lächelte ihn an und sie kamen noch rasch überein, dass niemand auf Rosings vorerst erfahren sollte, in welchem Verhältnis sie nun zueinander standen. Sie mussten sehr vorsichtig sein, Lady Catherine hatte ihre Augen und Ohren überall. Dann fiel die Zimmertür hinter ihm ins Schloss.
Anne fuhr sich mit den Fingern über die brennenden Lippen. Meine Güte, was für eine schamlose Person sie doch war! Trotz dieser „Erkenntnis" kicherte sie. Sie war mit zwei ihrer Cousins gleichzeitig verlobt! Mit einem mehr oder weniger offiziell und zu ihrem großen Bedauern und mit dem anderen äußerst heimlich und zu ihrer großen Freude.
