Kapitel 12:
Eine Depesche erreichte Colonel Fitzwilliam am Silvesterabend, mitten in einer kleinen Feier zum Jahresausklang. Er befand sich in Deutschland, im Hause des Oberkommandierenden des Herzogs von Odenthal-Northeim. Das Kriegsministerium in London hatte die Botschaft aus Hunsford erhalten und sie dann mit einem Kurier weiter nach Deutschland übermittelt. Besorgt schaute er auf das Siegel der Pfarrgemeinde Hunsford und riss eilig das Schreiben auf. Er überflog die wenigen Zeilen von Mrs. Collins und sprang sofort von seinem Platz auf. Schnell entschuldigte er sich bei seinen deutschen Gastgebern und machte sich in großer Eile auf den Weg zu seinem Quartier. Während er den Brief noch einmal durchlas, packte sein Bursche in der Zwischenzeit die Taschen.
Mrs. Collins schrieb, dass Anne im Sommer und im Herbst nach und nach immer größere Spaziergänge unternommen hatte, die ihr auch hervorragend bekamen. Ihrer Mutter verheimlichte sie das zunächst, sie schlich sich während der Mittagsruhe aus dem Haus, oder im Sommer auch noch nach dem Dinner, da es lange hell und warm war. Sie wurde etwas kräftiger, die Muskeln trainierter, ihr Allgemeinzustand war fast hervorragend zu nennen. Ihre Wangen waren nicht mehr eingefallen und hohl, die Augen nicht mehr umschattet.
Sie hatte, wohl auch wegen ihrer sich immer weiter ausdehnenden Wanderungen, viel mehr Appetit. Das hingegen bemerkte ihre Mutter schnell. „Anne, eine Lady isst nicht mit dem Appetit eines Feldarbeiters. Bei Gott, wie kommt es, dass du bei den Mahlzeiten so sehr zulangst?" „Ich tue das alles für meine Liebe zu Montgomery und auch, wenngleich mit geringer Hoffnung, weil ich somit vielleicht in der Lage sein werde, ihm sogar ein Kind zu schenken", wollte sie bei solchen Gelegenheiten ihrer Mutter am liebsten entgegen schreien. Aber sie verhielt sich still, wie es eigentlich ihre Art war und zuckte auf derartige Fragen ihrer Mutter nur mit den Schultern.
Dann als es kalt und ungemütlich wurde, versuchte Anne, die Spaziergänge weiterhin regelmäßig zu absolvieren, wenngleich auf etwas kürzeren Strecken. Sie ging niemals Wege, auf denen ihr Leute begegnen konnten, aus Angst, man würde es ihrer Mutter mitteilen. Als sie doch einmal von einem Dorfbewohner gesehen wurde, beschloss sie, Mrs. Collins aufzusuchen und sie ins Vertrauen zu ziehen. Dies erwies sich als segensreiche Idee. Mrs. Collins erklärte allen in Hunsford, wann immer sie glaubten Miss de Bourgh gesehen zu haben, dies tunlichst für sich zu behalten, da diese eine Überraschung für Lady Catherine plane. Ach, die Leute waren ja so gutgläubig, zum Glück.
Im Dezember war Anne in der Woche vor Weihnachten wieder unterwegs. Sie hatte sich zwar der Witterung entsprechend gekleidet, so gut es eben ging, aber dass auf halbem Weg urplötzlich ein heftiger Schneesturm losbrach, darauf war sie natürlich nicht vorbereitet. Sie konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen, außerdem drohten die Windböen sie fast umzureißen. Über eine halbe Stunde lang kauerte sie in einer Ackerfurche bis der Sturm soweit nachließ, dass eine Rückkehr nach Rosings in Frage kam. Völlig entkräftet, durchnässt und als halber Eiszapfen schleppte sie sich ins Haus und bis auf ihr Zimmer. Am Abend ging es ihr wieder recht gut, aber sie war sehr müde.
Am nächsten Tag fing sie an zu husten. Dann stieg das Fieber, hoch und höher. Der Arzt kam und registrierte natürlich gleich ihren völlig veränderten Körperbau und ihre im Prinzip wesentlich robustere Konstitution. Weniger Hoffnung verbreitete er allerdings hinsichtlich ihrer Erkrankung. Er teilte Lady Catherine ohne Umschweife mit, dass sie von Glück sagen könne, dass ihre Tochter in einem stabilen Grundrahmen stünde, sonst könne er ihr gar keine Überlebenschancen einrechnen. Lady Catherine war verblüfft. Ihre Anne hatte einen stabilen Grundrahmen?
Es kam nun einiges ans Licht, denn als Mrs. Collins, direkt aus Hertfordshire zurück, nach Weihnachten am Bett der Schwerkranken erschien, war die Zeit des Beichtens gekommen. Lady Catherine war viel zu sehr in Sorge, um auf irgendjemanden zornig zu sein. Mrs. Collins bot an, in Lady Catherines Namen Nachricht nach Pemberley zu schicken, doch die hohe Dame lehnte dies ab, sie wollte wenn dann selbst schreiben. Da kam Mrs. Collins der Colonel in den Sinn, von dieser Sache hatte Anne ihr nach langem Überlegen auch erzählt. Dieses Geheimnis hatte sie jedoch nicht im Zuge der Beichte über die Spaziergänge an Lady Catherine weitergegeben. Sie wusste zunächst nicht, wohin sie den Brief an Montgomery Fitzwilliam schicken sollte. Da aber keine Zeit zu verlieren war, erkundigte sie sich im Dorf bei dem einen oder anderen Veteranen, wie man in solchem Falle verfährt, adressierte schließlich ein weiteres Schreiben an das Kriegsministerium in London und bat darum, dass man beigefügten Brief schleunigst an den Colonel weiterleiten solle, da es sich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod handele.
Und so kam es, dass am Tag vor Dreikönig der Colonel sich breitbeinig und kampflustig vor Lady Catherine auf Rosings aufbaute. Die Dame war inzwischen so erschöpft von den bangen Stunden am Bett ihrer Tochter, dass er angesichts ihres Zustands seine angriffslustige Haltung sofort aufgab. Eigentlich war sie sogar froh ihn zu sehen, konnte sich nun endlich eingestehen, wie sehr sie sich in der derzeitigen Situation ein Familienmitglied an ihrer Seite gewünscht hatte.
Nachdem er verlangt hatte, Anne sehen zu dürfen, was ihm zu seinem Erstaunen ohne Umschweife sofort gewährt wurde, und er sich selbst vergewissern konnte, dass es seiner (heimlichen) Verlobten ein wenig besser ging, fiel er noch in Stiefeln auf sein Bett und in einen sehr tiefen Schlaf. Er war vier Tage lang durchgereist und hatte nur für wenige Stunden ein Nickerchen machen können.
Nach fast zwölf Stunden Schlaf (und das war eine ganze Menge für den Colonel) und einem kräftigen Frühstück fühlte er sich gewappnet für das kommende Gespräch. Lady Catherine war total müde und abgespannt, nicht alles, dass sie selbst krank wurde. Sie wollte deshalb ihren Neffen gar nicht sprechen, als er sich ihr melden ließ. Aber dann bat sie ihn doch herein. Sie hatte nicht einmal die Kraft, ihn wie sonst üblich auszufragen, wollte nicht wissen, woher er von Annes Krankheit wusste, sah sich nicht einmal genötigt zu fragen, warum er es so eilig hatte an ihr Krankenbett zu gelangen. „Nun", sprach sie ihn endlich an „ich muss gestehen, es tut gut sie zu sehen, verehrter Neffe". „Madam, gestatten sie mir ein paar sehr offene Worte mit ihnen zu sprechen"? fragte er sie direkt und ohne lange Einleitung. „Wenn sie versprechen sich kurz zu fassen, damit ich gleich wieder zu meiner Tochter kann, dann reden sie meinetwegen", erwiderte sie darauf. „Ich weiß, es wird sie jetzt sehr überraschen, aber ich denke, es wird keinen günstigen oder ungünstigen Zeitpunkt für diese Erklärung geben, die ich – und das möchte ich betonen – nur einmal, ein einziges Mal an sie abgeben werde: Ich liebe ihre Tochter und möchte sie bitten, mir Annes Hand zu gewähren, so bald sie wieder genesen ist. Sollten sie sich dazu nicht in der Lage sehen, was ich sehr bedauern würde, muss ich ihnen mitteilen, dass ich dann alles daran setzen werde, Anne auch ohne ihre Zustimmung zu ehelichen"! Und damit die Spitze perfekt war, setzte er noch hinzu „Notfalls in Gretna Green"!
Da entfuhr Lady Catherine ein so fürchterlicher Laut, dass selbst ihr Neffe vor Schreck zusammenzuckte. Sie hielt die Hände vor ihr Gesicht und bebte mit den Schultern. „Tante, sie sollten sich nicht derart echauffieren, dazu besteht wahrlich kein Grund", versuchte er sie nun doch etwas zu beruhigen. Sie blickte auf und er sah, dass er hingegen gar keinen Grund hatte, sie beruhigen zu müssen. Sie strahlte ihn förmlich an. „Mein lieber Junge", rief sie und hielt ihm eine Hand entgegen „jetzt verstehe ich die ganze Geschichte erst richtig! Sag an, wie lange geht das schon mit euch, denn ich muss annehmen, Anne hat diese Ertüchtigung ihres Körpers aus reiner Zuneigung zu dir auf sich genommen, habe ich Recht? Nun, sie wird diesen kleinen Rückschlag auf Grund der jetzigen Erkrankung bald wieder aufgeholt haben und ich denke, so wie mir der Arzt heute Morgen einige Dinge erläutert hat, ist sie auf einem sehr guten Weg. Komm, lass uns zu ihr gehen, auch wenn sie derzeit nur schläft und noch ab und zu fantasiert, so wird sie sicher unsere Anwesenheit irgendwie bemerken." Sie reichte ihrem Neffen und zukünftigen Schwiegersohn entgegenkommend den Arm und dieser führte sie ins Zimmer – seiner Braut.
Am gleichen Tag wurde auf Pemberley Master George getauft.
Anne erholte sich nur sehr langsam von der Krankheit. Aber dann fand ihre Mutter doch endlich Zeit, zum Glück war ja nun Montgomery da, einige Zeilen nach Pemberley zu schicken und dafür zu sorgen, dass sich die Familie zu Ostern auf Rosings versammelt.
Als Anne wieder auf den Beinen war, unternahm das Brautpaar zunächst kurze, dann immer länger werdende Spaziergänge. Der Arzt hatte sie dazu ermuntert, vor allen Dingen, als sie ihm von ihrem Kinderwunsch berichtete. Während einem dieser Rundgänge schnitt sie das Thema an. „Ich bin schon so gespannt auf den kleinen Sohn von Cousin Fitzwilliam, du nicht auch, schließlich ist er dein Patenkind?" „Gewiss doch, ich freue mich darauf, den kleinen Kerl endlich zu sehen! Und Vater und Mutter und Tante des jungen Mannes natürlich auch." Das war noch nicht die Begeisterung, die Anne zu entdecken gehofft hatte. Sie startete einen neuen Versuch. „Wie es wohl sein wird, ein Baby im Arm zu halten?" „Ich bin sicher, du wirst es bald erfahren, Cousine Elizabeth wird es dir sicher mal kurzfristig überlassen." Also gut, etwas direkter dann. „Magst du überhaupt Kinder?" Er blieb stehen und schaute sie an. „Anne, worauf willst du hinaus?" Sie schluckte, entschied sich aber dann, auf dem direkten Weg zu bleiben „Der Arzt hat mir berechtigte Hoffnung gemacht, dass ich vielleicht sogar… „ hier kam sie nicht mehr weiter. Ihr Verlobter hingegen fing laut zu lachen an, was sie ein bisschen in ihrer Würde verletzte. „Du süße Anne, ich glaube nicht, dass du überhaupt weißt, wie Babys entstehen", sagte Montgomery neckend. Sie wurde trotzig. „Natürlich weiß ich das, das weiß doch jeder", prahlte sie nun. „Ach ja, dann erkläre es mir bitte", bat er. Sie erinnerte sich an Mrs. Collins, die ja zu ihr gesagt hatte, dass sie ein Baby erwartete und die nun mit einem recht rundlichen Bauch herumlief. Die einzige Schwangere, die Anne jemals zu Gesicht bekommen hatte. „Ähm, also die Babys wachsen in den Frauen…in deren Bauch… irgendwie…", sie klang auf einmal nicht mehr so sicher. Montgomery war nun nicht mehr nach Lachen zumute. Er verfluchte seine Schwiegermutter in spe, die es nicht einmal für nötig erachtet hatte, ihre Tochter über biologische Vorgänge zu informieren. Was hatte Lady Catherine eigentlich gemacht, als Anne mit dreizehn oder vierzehn Jahren die körperlichen Symptome des Frauwerdens an sich verspürt hatte? Oder hatte Anne gar nicht erst… weil ihre schwache Gesundheit dieser Art von Entwicklung keinen Vorschub geleistet hatte? Er war entsetzt. Er setzte sich auf einen Baumstamm am Wegesrand und zog Anne auf seinen Schoß. „Liebes, ich bin wahrscheinlich nicht der Richtige, um dir alles entsprechend zu erklären. Aber ich kann dir bestätigen, dass die Sache mit dem Wachsen im Bauch der Mutter schon einmal vollkommen richtig ist. Ich würde vorschlagen, dass du dich mit allen weiteren Fragen bei Gelegenheit an Cousine Elizabeth wendest." Sie nickte zwar, war aber mit dem Vorschlag nicht zufrieden. „Montgomery, aber es ist noch so lange hin, bis die Verwandten aus Pemberley eintreffen." „Dann frage den Arzt, der wird es dir sicher auch erklären". „Nicht doch, er verwendet immer so viele lateinische Fachausdrücke, dass ich mitunter kein Wort vom dem verstehe, was er mir sagen will". „Anne, du kannst mich nicht weich klopfen, das ist kein Gespräch, das ein Mann mit seiner Verlobten führen sollte". „Aber wir sind doch auch Freunde, wir haben unsere Liebe über unsere Freundschaft entdeckt und als Freund könntest du…", sie brach ab, weil er gequält die Augen verdrehte. „Lass uns das Gespräch im Marmeladenkeller fortsetzen, hier wird es langsam zu kalt für dich", schlug er ihr vor.
